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Johann Wolfgang Goethe
Sämtliche Gedichte

Geniezeit
Volksballaden aus dem Elsass

Das Lied vom jungen Grafen

Ich steh auf einem hohen Berg,
Seh runter in's tiefe Tahl;
Da sah ich ein Schifflein schweben,
Darinn drey Grafen sass'n.

Der alleriüngst der drunter war 5
Die in dem Schifflein sassn,
Der gebot seiner Liebe zu trincken
Aus einem Venedischen Glas [*1].

Was giebst mir lang zu trincken
Was schenckst du mir lang ein 10
Ich will ictzt in ein Kloster gehn,
Will Gottes Dienerinn seyn.

Willst du ietzt in ein Kloster gehn,
Willst Gottes Dienrinn seyn.
So geh in Gottes Nahmen 15
Deins gleichen giebts noch mehr.

Und als es war um Mitternacht,
Dem iung Graf träumts so schweer,
Dass sein Herz allerliebster Schatz
Ins Kloster gezogen wär.20

Auf Knecht steh auf und tummle dich,
Sattl' unser beyde Pferd,
Wir wollen reiten 'sey Tag oder Nacht,
Die Lieb ist reitenswehrt.

Und da sie vor ienes Kloster kamen,25
Wohl vor das hohe Tohr,
Fragt er nach iüngster Nonnen,
Die in dem Kloster war.

Das Nünngen kam gegangen,
In einem schneeweissen Kleid,30
Ihr Härl war abgeschnitten,
Ihr rother Mund war bleich.

Der Knab er setzt sich nieder,
Er sass auf einem Stein,
Er weint die hellen Tränen35
Brach ihm sein Herz entzwey.

So solls den stolzen Knaben gehn
Die trachten nach grosem Gut.
Nimm einer ein schwarzbraun Maidelein,
Wie's ihm gefallen thut.40

*1] nach der Tradition ein Glas das den Tranck vergifftete.

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