Der bestohlne Cupido
Es fand auff einen Tag das schöne Schäffer-Kind/1
Das meinen freyen Sinn mit tausend Fässeln bindt/2
Der Venus zarten Sohn ins grüne Graß gestreckt3
Mit Rosen/ Lilien und Nägeln überdeckt.4
Er hatte Bogen/ Pfeil und Köcher weg gethan/5
Hing seiner Ruhe nach; Schaut/ was Cordilla kan!6
Sie schleicht sich unvermerckt mit leisen Schritten hin/7
Nimmt Pfeil und Bogen weg/ verwundet meinen Sinn8
Und tausend andre noch; doch soll mir solche Pein9
Von ihrer schönen Hand gar lieb zu leiden seyn/10
Wenn sie nur stille steht/ und nicht zu ihrer Flucht11
Auch seines Flügelwercks sich zu bedienen sucht.12
Es fand auff einen Tag das schöne Schäffer-Kind/1
Das meinen freyen Sinn mit tausend Fässeln bindt/2
Der Venus zarten Sohn ins grüne Graß gestreckt3
Mit Rosen/ Lilien und Nägeln überdeckt.4
1 Es fand auff einen Tag das schöne Schäffer-Kind/
Analyse:
1. Die Eröffnung mit dem unpersönlichen Es (Es fand auff einen Tag…) etabliert eine erzählerische, märchenhaft-pastorale Atmosphäre: eines Tages verweist auf das Zeitlose des Topos und leitet in ein exemplum aus der Schäferwelt über.
2. Das schöne Schäffer-Kind fungiert als Subjekt der Handlung. Die Komposita-Schreibung mit Bindestrich (Schäffer-Kind) akzentuiert die Typenhaftigkeit der Figur im barocken Pastoralkodex: keine individuelle Biographie, sondern eine emblematische Gestalt der Idylle.
3. Klanglich wirkt die Alliteration schöne Schäffer- weich und pastoral, während die Hebungsfülle und die syntaktische Weite des Alexandriners eine ruhige, erzählende Bewegung erzeugen.
4. Der Vers öffnet einen Satz, der erst über die folgenden Zeilen hinweg abgeschlossen wird. Die Versgrenze dient hier syntaktisch als Spannungsträger (Enjambement-Vorbereitung): Wir wissen, wer fand, noch nicht was.
Interpretation:
1. Der Einstieg verortet das Geschehen im Arkadien der Dichtung: Es geht nicht um topographische Realität, sondern um einen literarischen Raum, in dem mythische und pastorale Figuren selbstverständlich koexistieren.
2. Durch die Schönheit des Schäferkinds wird bereits die erotische Valenz des nachfolgenden Geschehens vorbereitet: Schönheit zieht, ohne noch als handelnd markiert zu sein, magnetisch Folgen nach sich.
3. Die Distanzierung Es fand… (statt Ich fand…) lässt die Erzählstimme kontrolliert, beinahe beobachtend auftreten – ein barocker Kunstgriff, der das Individuelle in typisierte Exemplarik überführt.
4. Die stillgestellte Zeit (auff einen Tag) markiert Ereignishaftigkeit: Wir haben es mit einem singulären, doch paradigmatischen Vorfall zu tun, der einen allgemeinen Sinn (über Liebe, Macht, Täuschung) zeigt.
2 Das meinen freyen Sinn mit tausend Fässeln bindt/
Analyse:
1. Der Relativsatz (das… bindt) greift das Schäferkind auf und schiebt eine Charakterisierung ein: Die Figur wird durch ihre Wirkung auf das Ich bestimmt.
2. Die Antithese freyer Sinn vs. tausend Fässeln inszeniert das klassische Liebesparadox: Freiheit wird durch Liebe zur süßen Unfreiheit. Die Hyperbel tausend verstärkt den Affekt und verweist auf barocke Emphase.
3. Orthographische Zeitkolorierung (freyen, bindt, Fässeln) signalisiert frühneuzeitliches Idiom; metrisch bleibt der Vers ein schweres, syntaktisch verschachteltes Glied des fortlaufenden Satzes.
4. Rhetorisch dominiert die Metaphorik der Fessel: amor als captor. Damit wird der Topos der catena amoris bedient, in dem Liebe als Band, Kette oder Netz erscheint.
Interpretation:
1. Das Ich rückt diskret ins Bild (meinen freyen Sinn), ohne die Handlungshoheit zu übernehmen: Die Liebe ist ein heteronomer Zugriff auf das Subjekt.
2. Die Fesselmetaphorik kehrt das pastorale Freiheitsideal (Natur, Einfachheit) in sein Gegenteil. Idylle gebiert Bindung – eine barocke Pointe, die die Ambivalenz der Sinnlichkeit betont.
3. Das Schäferkind erscheint nicht nur als Objekt der Bewunderung, sondern als wirkmächtige Instanz: Es bindet – der Liebesakt erhält eine souveräne, fast herrschaftliche Qualität.
4. Gleichzeitig schwingt Selbstwilligkeit mit: Der freie Sinn lässt sich binden; in barocker Liebessemantik gehört das freiwillige Sich-Ergeben zur Luststruktur der Passion.
3 Der Venus zarten Sohn ins grüne Graß gestreckt
Analyse:
1. Nun wird das Objekt des Findens benannt: der Venus zarte Sohn ist die periphrastische Umschreibung für Cupido/Amor. Der Epitheton zart charakterisiert ihn als empfindsam, weich, verletzlich.
2. Die syntaktische Fügung schließt den Suchbogen aus Vers 1: Das Schäferkind fand wen? – Amor ins grüne Gras gestreckt. Das Partizip gestreckt deutet auf ein passives, ausgestrecktes, womöglich erschöpftes oder entwaffnetes Liegen.
3. ins grüne Graß verstärkt die pastorale Szenerie. Das Farbadjektiv grün ist Emblem der Jugend, Frische, aber auch der Unreife – ein ambivalentes Zeichen neben der Zartheit Amors.
4. Metrisch/klanglich setzt der Gleichklang von grüne Graß gestreckt eine breite, lagernde Bewegung; die Alliteration der G-Laute gibt dumpfe, erdige Ruhe.
Interpretation:
1. Amor erscheint paradox: der zarte Beherrscher der Herzen liegt hilflos. Damit ist das Titelmotiv (der bestohlne Cupido) antizipiert: Der Gott der Liebe ist entmächtigt – entweder beraubt oder bewusst in Szene gesetzt.
2. Die Erd- und Naturauflage (Gras) entgöttlicht Amor: Aus der Sphäre des Mythos wird er in die topische Schafweide der Schäferdichtung herabgeholt. Liebe wird als irdisches, sinnliches, an Körper und Natur gebundenes Phänomen inszeniert.
3. Das Gestrecktsein lädt doppelbödig: Es kann Ohnmacht bedeuten, aber auch die theatralische Pose eines gefesselten Akteurs, der zum Spielball anderer – vielleicht des Schäferkindes – geworden ist.
4. Zwischen Vers 2 und 3 entsteht ein feines Spiegelmotiv: Wer sonst bindet, liegt nun selbst gestreckt – die Macht der Liebe wird ironisch gewendet.
4 Mit Rosen/ Lilien und Nägeln überdeckt.
Analyse:
1. Die Aufzählung Rosen/ Lilien und Nägeln ist eine barocke Blumenakkumulation. Nägeln ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die frühneuzeitliche Bezeichnung für Näglein/Nelken (Carnations); der Plural verstärkt das Streumotiv.
2. Semantisch ergibt sich ein emblematisches Triptychon: Rose (Eros, Blut, Leidenschaft), Lilie (Reinheit, Jungfräulichkeit), Nelke (Treue, zugleich scharfer Duft). Die Mischung kontrastiver Werte ist typisch barock.
3. Überdeckt markiert eine vollständige Bedeckung, die sowohl schmückend (Fest, Triumph) als auch verhüllend (Entmachtung, Bestattung) gelesen werden kann; die Ambiguität ist kalkuliert.
4. Der abschließende Punkt schließt den in Vers 1 begonnenen Satz periodisch; die stilistische Geste ist emblemhaft und tableauartig: Wir sehen ein Stillleben der Liebe.
Interpretation:
1. Als bestohlner Gott könnte Amor hier begraben-geschmückt liegen: Die florale Decke parodiert Triumph und Grab zugleich – eine barocke Memento-Struktur innerhalb der Idylle (Liebe ~ Tod / Venus ~ Adonis).
2. Die Kombination Rose-Lilie führt das Paradoxon von Sinnlichkeit und Reinheit ein, das schon im freien Sinn vs. Fesseln angelegt war. Liebe fesselt, weil sie beide Pole in eins zwingt.
3. Liest man Nägeln wörtlich, blitzt ironisch ein doloristisches Moment auf (Nägelschmerz); liest man es als Nelken, bleibt das Bild im floralen Zeichenkreis. Barocke Dichtung hält diese Dopplung produktiv offen.
4. Das Überdecken entzieht Amor dem Blick: Wer den Liebesgott nicht sieht, kann seine Macht auch nicht fürchten – oder: Gerade die Verhüllung macht ihn als anwesende Abwesenheit wirksamer. In beiden Fällen bleibt das Spiel der Machtverhältnisse ungeklärt und reizvoll.
1. Syntax als Dramaturgie: Die Strophe bildet einen einzigen, periodisch verschlungenen Satz. Der Relativsatz (V. 2) schiebt das Begehren des Ichs mitten in die objektive Erzählung. Dadurch überlagern sich pastorale Szene und subjektive Affektlage.
2. Pastorale Bühne, mythischer Akteur: Das Schäfer-Idyll rahmt den Abstieg des mythischen Amor in die Natur. Diese Entgöttlichung (Amor gestreckt, überdeckt) bereitet die Pointe des bestohlenen Cupido vor: der Liebesgott als Opfer eines Spiels, das sonst er selbst beherrscht.
3. Ambivalente Emblematik: Rosen, Lilien, Nelken bilden ein kontrapunktisches Emblem-Gefüge aus Eros, Reinheit und Treue. Das Überdecken lässt Triumph (Krönung) und Entmachtung (Verhüllung/Beisetzung) zugleich anklingen – eine barocke Doppelcodierung.
4. Machtverschiebung: Zwischen V. 2 und V. 3 liegt die zentrale Ironie: Das Schäferkind bindet den Sprecher; Amor, der sonst bindet, liegt passiv. Diese Spiegelung destabilisiert die Hierarchie der Liebesmacht und öffnet Raum für List, Spiel und Diebstahl.
5. Affektökonomie des Barock: Hyperbel (tausend Fesseln), Epitheta (zarter Sohn), Farbenikonik (grüne[s] Graß) und Aufzählung erzeugen eine affektive Überfülle, die jedoch durch die ruhige Periodik gebändigt bleibt – passio unter Formzwang.
6. Vorgriff auf den Zyklus (Anemons und Adonis Blumen): Mit Venus’ Sohn im Gras und der floralen Decke schimmert der Venus-Adonis-Mythos (Blumen aus Blut/Tränen) als Hintergrundfolie durch. Eros und Thanatos stehen von Beginn an in leiser, aber deutlicher Verschränkung.
7. Ergebnis: Die Strophe etabliert ein doppeltes Paradox: Die Idylle ist Schauplatz der Entmachtung des Liebesgottes, und die Freiheit des Ichs besteht in der süßen Fessel. Das Bild des überdeckten Amor konserviert diese Ambivalenz als emblematisches Tableau, das die folgenden Strophen erzählerisch und semantisch motiviert.
Er hatte Bogen/ Pfeil und Köcher weg gethan/5
Hing seiner Ruhe nach; Schaut/ was Cordilla kan!6
Sie schleicht sich unvermerckt mit leisen Schritten hin/7
Nimmt Pfeil und Bogen weg/ verwundet meinen Sinn8
5 Er hatte Bogen/ Pfeil und Köcher weg gethan,
Analyse
1. Der Vers eröffnet mit einer lakonischen Situationsangabe: Cupido hat seine drei Embleme (Bogen, Pfeil und Köcher) abgelegt. Die dreigliedrige Aufzählung steigert ikonisch die Vollständigkeit der Entwaffnung.
2. Die Verbform weg gethan (barockes Schriftbild) wirkt absichtlich prosaisch und alltäglich; sie entzaubert den Liebesgott und rückt ihn in eine momenthaft-menschliche Müdigkeit.
3. Klanglich strukturiert die Alliteration/Konsonantenhäufung (k-/g-Laute in Bogen … Köcher … gethan) eine handfeste, gegenständliche Szene: Gerätschaften werden tatsächlich beiseite getan.
4. Semantisch erzeugt das Ablegen der Waffen eine Leerstelle der Macht: Amor ist wehrlos – eine dramaturgische Vorbedingung für das folgende listige Manöver.
5. Wahrscheinlich liegt ein Alexandriner mit Mittelzäsur vor; die starke Pause nach weg gethan inszeniert ein Innehalten, das zur Ruhe-Szene des nächsten Verses überleitet.
Interpretation
1. Der entwaffnete Amor bedeutet eine Verschiebung der Liebesmacht: Nicht mehr der Gott regiert die Affekte; die Bühne wird frei für die menschliche (weibliche) Akteurin.
2. Das Profane des Ausdrucks (weg gethan) ironisiert das Pathos mythologischer Insignien; die Liebe erscheint als Spielfeld sozialer Listen statt als erhabener Mythos.
3. In allegorischer Lesart wird die Armseligkeit der transzendenten Liebeskraft behauptet: Sobald Amor ruht, übernehmen weltliche Klugheit und Grazie das Regiment.
6 Hing seiner Ruhe nach; Schaut/ was Cordilla kan!
Analyse
1. Hing … nach (archaisch: sich nach etwas sehnen/ausstrecken) ergänzt die Szene: Amor ist nicht nur entwaffnet, sondern begehrt aktiv Ruhe. Das Semikolon schneidet abrupt zur Apostrophe Schaut um.
2. Die direkte Leseransprache (Schaut) öffnet den Text performativ: Der Vers wird zum Bühnensignal, das Publikum wird Zeuge eines Exempels.
3. Cordilla wird als eigenständige Kraft markiert; die Pointe liegt auf kan (barockes kann): Fähigkeit, Tüchtigkeit, virtuose Handlungskompetenz.
4. Der Tempowechsel (ruhige Kontemplation → imperative Vorführung) schafft Spannung: Ruhe auf der einen, bevorstehende Aktion auf der anderen Seite.
Interpretation
1. Der Gegensatz Ruhe/Handlung begründet die moralische Fabel: Wo göttliche Liebesmacht aussetzt, entfaltet die Dame ihre souveräne Kunst.
2. Die direkte Adressierung stilisiert Cordilla zur Kunstfigur des galanten Barock: Sie ist nicht Objekt der Liebe, sondern Könnerin darin, Liebe zu lenken.
3. Subtil verschiebt sich das Begehren: Nicht mehr Amor ist liebens-würdig, sondern Cordillas Können wird bewundert – eine höfische Wertung (Virtuosität > Mythos).
7 Sie schleicht sich unvermerckt mit leisen Schritten hin,
Analyse
1. Der Vers zeichnet eine heimliche Bewegung: schleicht … unvermerckt … leisen Schritten häuft sibilantisch-sachte Laute; die Phonetik simuliert Gedämpftheit.
2. Die Adverbien und Partizipien (unvermerckt, leisen) erzeugen ein Spionage-/Diebstahlmilieu; der Raum wirkt theatral und intim.
3. Die Vorwärtsdeixis hin hält die Spannung bis zur Zäsur/Zeilenschranke, die den eigentlichen Akt (im nächsten Vers) verzögert – ein barocker retardierender Kunstgriff.
Interpretation
1. Cordillas List wird als ästhetische Qualität gefeiert: die Kunst der unauffälligen Annäherung. Weibliche Agency erscheint nicht als Überwältigung, sondern als Feinmotorik sozialer Intelligenz.
2. Psychologisch modelliert der Vers den Zustand der Liebe als Überrumpelung des Bewusstseins: Der Affekt kommt nicht frontal, sondern sickernd und unbemerkt.
3. In der Liebesallegorie entspricht das Schleichen der unmerklichen Erosion des rationalen Selbstschutzes: Bereitschaft zur Wunde entsteht im Modus der Ruhe.
8 Nimmt Pfeil und Bogen weg/ verwundet meinen Sinn
Analyse
1. Parataktische Kopplung zweier Prädikate ohne Bindeglied (nimmt … / verwundet …): Die Tat (Waffenraub) und ihre unmittelbare Folge (Wunde) stehen spannungslos und darum umso schlagender nebeneinander.
2. Durch die Wiederaufnahme der Waffen (Pfeil und Bogen) wird der semantische Besitz übertragen: Cordilla eignet sich Amors Insignien an – und aktiviert sie sogleich.
3. verwundet meinen Sinn verschiebt den Treffer vom Körper ins Innere: Sinn im barocken Sprachgebrauch umfasst Empfindung, Urteil, Gemüt – die Wunde ist total, aber unsichtbar.
Interpretation
1. Die Macht verlagert sich endgültig: Cordilla ist zur neuen Amor-Figur geworden. Die Liebesverletzung entspringt nicht mehr göttlicher Laune, sondern menschlicher Kunst.
2. Die Zeile realisiert eine doppelte Pointe: (a) erotisch – die Dame schießt; (b) metapoetisch – der Text selbst ist Pfeil und Bogen, der das Sinneszentrum des Lesers/Ichs trifft.
3. Moralisch-galant gelesen feiert der Vers die Hegemonie der esprit-gesteuerten Liebe: Gewitztheit (Waffenraub) ist der effektivste Weg zum Herzen/Verstand.
1. Dramaturgie der Entwaffnung und Usurpation. Die Strophe baut eine klare Bewegungslogik auf: (a) Amor legt die Waffen ab; (b) er sehnt Ruhe; (c) Cordilla nähert sich unbemerkt; (d) sie nimmt die Waffen und verwundet. Dieses Vier-Stufen-Szenario exemplifiziert einen höfischen Lehrsatz: Liebesmacht entsteht nicht aus transzendenter Autorität, sondern aus situativer Klugheit.
2. Rolleninvertierung und weibliche Agency. Der mythologische Agent (Cupido) wird neutralisiert; die Geliebte übernimmt aktiv die Regie. Die Strophe inszeniert die galante Umcodierung des Mythos: Cordilla wird zum irdischen Amor – eine Feier der Fähigkeit (kan) als sozialem Kapital.
3. Ästhetik der List. Lautung, Syntax und Metrik formen das Thema der Unmerklichkeit: s-Laute, Partizipialstil, die Verzögerung über den Zeilenbruch und die parataktische Pointe lassen die List sinnlich werden.
4. Psychologie der Wunde. Die Wunde trifft den Sinn, nicht den Leib: Liebe erscheint als affektive Erkenntniskrise – der Verstand wird aus dem Hinterhalt überwältigt.
5. Ironische Entmythologisierung. Der prosaische Duktus (weg gethan) und die bühnenhafte Leseransprache (Schaut) entheben den Stoff dem reinen Mythos und verlagern ihn in die Welt höfischer Spielregeln, wo Virtuosität und Geist über Pathos stehen.
6. Metapoetische Signatur. Indem Cordilla Amors Waffen anlegt, spiegelt der Text seine eigene Operation: dichterische Mittel (Bild, Klang, Pointe) wirken wie Pfeil und Bogen auf das Sinneszentrum des Rezipienten. Die Strophe ist damit zugleich Liebesszene und Poetik der Wirkung.
So fasst die Strophe die barocke Liebeskunst als klug komponiertes Spiel zusammen: Wenn der Gott ruht, spricht die Kunst – und ihr Pfeil sitzt.
Und tausend andre noch; doch soll mir solche Pein9
Von ihrer schönen Hand gar lieb zu leiden seyn/10
Wenn sie nur stille steht/ und nicht zu ihrer Flucht11
Auch seines Flügelwercks sich zu bedienen sucht.12
9 Und tausend andre noch; doch soll mir solche Pein
Analyse
1. Die anfängliche Phrase Und tausend andre noch setzt eine zuvor begonnene Enumeratio fort: Der Sprecher reiht unzählige Arten von Qualen oder Liebesplagen aneinander und überhöht sie hyperbolisch. Das Semikolon markiert eine deutliche Zäsur (barocker Alexandriner-Gestus), die die gedankliche Wendung vorbereitet.
2. Mit doch erfolgt ein adversatives Umschalten: Trotz der Vielzahl weiterer Leiden soll solche Pein—deiktisch rückverweisend auf die zuvor genannten—einen besonderen Status erhalten. Der Vers baut damit Spannung auf zwischen Überfülle (Hyperbel) und Auswahl (Fokussierung).
3. Die Wortwahl Pein betont den barocken Topos des Lustschmerzes: Das Leiden ist nicht nur unvermeidlich, sondern konstitutiv für Liebeserfahrung. Klanglich stützen die gedehnten Vokale (tau-send, an-dre, sol-che Pein) eine gravitätische, feierliche Tonlage.
Interpretation
1. Der Sprecher signalisiert Bereitschaft zur totalen Hingabe: Nicht einzelne Beschwerden, sondern tausend bejaht er—ein Selbstentwurf als Liebesmärtyrer, typisch für das barocke Liebesethos.
2. Die adversative Partikel doch leitet eine Bedingung ein, die das Leiden wertvoll macht: Pein ist nicht an sich begehrenswert, sondern nur im spezifischen Bezug zur Geliebten und zur Art ihrer Verursachung.
3. Die Deixis solche deutet auf eine qualifizierte, richtige Pein hin—jene, die in der Beziehung symbolisch aufgeladen ist und damit Sinn stiftet: Leid als Medium der Bindung.
10 Von ihrer schönen Hand gar lieb zu leiden seyn/
Analyse
1. Von ihrer schönen Hand setzt eine Metonymie: Die Hand steht für die aktive Macht der Geliebten—ihr Zugriff, ihr Rühren, ihr Züchtigen wie ihr Gnaden-Gewähren. Schön fungiert doppelt, als sinnliche Qualität und als ethisch-ästhetische Legitimation der Handlung.
2. Die Fügung gar lieb zu leiden seyn ist eine barocke Paradoxie: Leiden, das lieb ist. Der Infinitivkonstruktion mit sein verleiht dem Ausdruck den Charakter eines allgemeinen, fast sprichworthaften Gesetzes innerhalb der Liebesordnung des Gedichts.
3. Prosodisch liegt eine sanfte Binnenberuhigung vor: Die Alliteration lieben–leiden (klanglich verwandt) und die Hauchlaute rahmen den Sinngehalt des Süß-Schmerzes.
Interpretation
1. Der Vers klärt die Bedingung aus V. 9: Pein ist akzeptabel, ja willkommen, wenn sie von der Geliebten selbst kommt. Das verschiebt die Achse von passiv erlittenem zu bedeutungsvoll empfangenem Schmerz.
2. Die Metonymie Hand akzentuiert Nähe und Körperlichkeit: Die Geliebte ist nicht abstrakte Ursache, sondern leibhaftig handelndes Gegenüber—das Leiden wird dadurch zu einem Zeichen von Kontakt und Beziehung.
3. Das Paradox lieb leiden transformiert Schmerz in Kapital der Liebe: Was außerhalb der Liebessemantik negativ wäre, wird innerlich positiv umcodiert—ein Kernzug barocker Affektenästhetik.
11 Wenn sie nur stille steht/ und nicht zu ihrer Flucht
Analyse
1. Der konditionale Einstieg Wenn sie nur formuliert die eigentliche Klausel: Das lieb gewordene Leiden ist an das Stehenbleiben der Geliebten gebunden.
2. Die Antithese stille steht vs. Flucht ordnet Ruhe gegen Bewegung, Gegenwärtigkeit gegen Entzug. Stille steht evoziert Pose und Festigkeit (ikonisch durch die s-Läufe und die gedehnte Binnenstruktur), Flucht hingegen abrupten Bruch.
3. Der Zeilenbruch nach Flucht erzeugt syntaktische Spannung: Das semantische Zentrum (wovor? womit?) wird in den Schlussvers verschoben—eine barocke Verzögerungsfigur, die die Pointe vorbereitet.
Interpretation
1. Der Sprecher akzeptiert Pein nur, solange sie Beziehung stiftet und nicht Entzug legitimiert. Leiden ohne Aussicht auf Nähe—ohne stille Präsenz der Geliebten—würde in bloße Selbstzerstörung kippen.
2. Das Stehen kann als Zustimmung und performative Einwilligung gelesen werden: Die Geliebte möge sich dem Blick und Zugriff nicht entziehen. Damit wird das Begehren an die Zeitform der Dauer gekoppelt.
3. Flucht benennt die Machtasymmetrie: Die Geliebte verfügt über die Option der Entziehung—die Liebesökonomie ist dadurch prekär und vom Willen der Geliebten abhängig.
12 Auch seines Flügelwercks sich zu bedienen sucht.
Analyse
1. Das Possessiv seines verweist auf Cupido; Flügelwerck—archaisierendes Kompositum—benennt die mythologische Ausstattung des Liebesgottes. Durch die Genitivfügung wird Cupidos Eigentum in die Handlungsreichweite der Geliebten gestellt.
2. Der Ausdruck sich bedienen ist juristisch-pragmatisch gefärbt: Er suggeriert instrumentellen Zugriff auf fremdes Gerät. Das adverbiale auch weitet den Rahmen: Neben anderen Mitteln der Flucht kommt nun auch Cupids Flügel in Betracht.
3. Die Pointe des Gedichts (Titel: Der bestohlne Cupido) schließt sich: Cupido ist bestohlen—nicht vom Sprecher, sondern von der Geliebten, die seine Flügel zur Flucht nutzt. Das entthront den Liebesgott und verschiebt das Machtzentrum zur Dame.
Interpretation
1. Die Geliebte eignet sich die Mittel der Liebe an, um sich der Liebe zu entziehen—ein barocker Witz (concettismo): Die Macht, die Liebende verbindet, macht hier die Geliebte beweglich genug, sich der Bindung zu entziehen.
2. Die Szene ist ironisch und kritisch zugleich: Cupido wird doppelt ohnmächtig—seiner Insignien beraubt und als Gott der Vereinigung entkräftet, weil seine Geräte die Trennung befördern.
3. Für den Sprecher entsteht daraus die letzte Bedingung: Er will Leid von ihrer Hand, aber keine Flucht auf Cupids Kosten. Nähe rechtfertigt Schmerz; Distanz unterminiert ihn.
Die Strophe inszeniert eine barocke Liebesdialektik aus Hyperbel, Paradoxie und mythologischem Witz. Der Sprecher bejaht tausend Leiden, doch unter einer präzisen Bedingung: Die Pein muss von der Geliebten Hand herrühren und in den Horizont der Nähe fallen.
Das Oxymoron lieb zu leiden macht den barocken Lustschmerz zum Signum wahrer Beziehung. In der konditionalen Wendung (V. 11–12) wird diese Logik scharf konturiert: Sobald die Geliebte die Bewegung der Entziehung wählt—und zwar gesteigert dadurch, dass sie Cupidos Flügelwerck stiehlt und nützt—kippt die Sinnstruktur des Leidens. Der abschließende Witz, dass die Geliebte den Liebesgott beraubt, verkehrt die üblichen Rollen: Nicht Cupido verfügt über die Liebenden, sondern die Geliebte verfügt über Cupido.
Damit bündelt die Strophe zentrale Züge barocker Liebespoetik: die Überhöhung des Affekts, das Paradox des süßen Schmerzes, die Bedingtheit von Leid durch Nähe sowie die spielerische, zugleich machtkritische Mythologisierung. In Summe artikuliert der Sprecher ein Programm der gebundenen Hingabe: Alles Leiden ja—aber nur dort, wo es Gegenwart stiftet und nicht Flucht befördert.
1. Exposition der Szene (Verse 1–4)
Das Gedicht beginnt wie ein pastorales Bild: ein schönes Schäffer-Kind, also eine Hirtin (Cordilla), wird vorgestellt, die zugleich als Liebesobjekt des lyrischen Ichs auftritt. In dieser Idylle entdeckt sie den zarten Sohn der Venus – Cupido –, der, vom Spiel der Liebe ermüdet, schlafend ins grüne Graß gestreckt liegt. Über ihm liegen Rosen, Lilien und Nägel – florale und zugleich emblematische Zeichen der Liebe, Reinheit und Verletzung. Die Szene ist sinnlich und mythologisch aufgeladen, verbindet aber die antike Figur mit barocker Naturidylle. Der Anfang wirkt stillgestellt, fast gemalt: Liebe ruht, und mit ihr auch ihr Werkzeug.
2. Handlung und Wendepunkt (Verse 5–8)
Cupido hat seine Waffen weg getan – der Liebesgott ist entwaffnet und machtlos. Cordilla, die Schäferin, nutzt diesen Augenblick: sie schleicht sich unvermerckt mit leisen Schritten hin und stiehlt Pfeil und Bogen. Diese Aktion stellt die zentrale Metapher des Gedichts dar: Die Frau bemächtigt sich der Macht der Liebe. Durch ihren Raub wird sie selbst zur Liebesgöttin. Sie verwundet nun nicht mehr nur das lyrische Ich, sondern tausend andre noch – eine Hyperbel, die sowohl die universelle Macht der Schönheit als auch das Chaos der Leidenschaft andeutet. Der ruhende Gott wird also durch das menschliche Begehren übertroffen.
3. Schluss und Reflexion (Verse 9–12)
Der Sprecher nimmt die Wunde willig an: Die Pein ist ihm lieb zu leiden, solange sie von der schönen Hand Cordillas ausgeht. Der letzte Vers aber bringt eine ironisch-ambivalente Wendung: Er bittet, dass sie nicht zu ihrer Flucht / Auch seines Flügelwercks sich zu bedienen sucht. Die Geliebte möge also nicht Cupidos Flügel rauben, um zu entkommen. Nach dem Liebesstich soll sie bleiben. Damit schließt das Gedicht in einem Schwebezustand zwischen Hingabe und Besitzwunsch – zwischen der göttlichen Macht der Liebe und der menschlichen Furcht vor Verlust.
Der Aufbau folgt also einem geschlossenen organischen Verlauf:
Idylle und Ruhe,
Akt des Begehrens und der Umkehrung der Machtverhältnisse,
Reflexion der Wunde und Bitte um Dauer der Liebe.
Jeder Abschnitt steigert sich, bis er im letzten Vers in feiner barocker Ironie und Selbstrelativierung endet.
1. Ambivalenz zwischen Passivität und Aktivität
Das Gedicht spielt psychologisch mit einer doppelten Verkehrung: Cupido, normalerweise der Handelnde, ist hier passiv; Cordilla, sonst Objekt der Begierde, wird aktiv. Diese Umkehrung der Rollen deutet auf die Projektion des Begehrens: das männliche Ich empfindet Machtlosigkeit angesichts weiblicher Selbstbestimmung. Das Rauben der Waffen symbolisiert den Verlust männlicher Kontrolle über das eigene Begehren.
2. Begehren als Selbstverletzung
Das lyrische Ich weiß, dass die Verwundung schmerzhaft ist, nimmt sie aber mit Lust an. Diese paradoxale Mischung aus Schmerz und Glück ist typisch barocke Liebespsychologie: Leidenschaft wird als süße Qual erlebt, als Beweis innerer Lebendigkeit. Der Schmerz wird zur Bedingung des Genusses.
3. Eros als Projektion und Spiegelung
Psychologisch betrachtet, verlagert das Gedicht den Ursprung des Begehrens von Cupido auf Cordilla. Sie wird zum Medium, durch das die göttliche Liebeskraft sich realisiert. Das Ich liebt also in Cordilla das göttlich-erotische Prinzip selbst, das es zugleich fürchtet. Die Bitte im Schlussvers (nicht zu ihrer Flucht...) zeigt die Angst vor Entzug des geliebten Objekts – der Liebende hängt in einem Schwebezustand zwischen Ekstase und Verlustangst.
1. Die Umkehrung der göttlichen Ordnung
In der antiken und christlichen Symbolik besitzt Eros (bzw. Amor) die göttliche Gewalt, Menschen zu verbinden. Wenn Cordilla ihm die Waffen stiehlt, ist das eine ethisch ambivalente Geste: sie übernimmt göttliche Macht, die ihr nicht zusteht. Der Akt des Stehlens ist also zugleich ein Akt der Selbstermächtigung und ein Frevel an der kosmischen Ordnung.
2. Liebesleid als sittlich akzeptierte Erfahrung
Das lyrische Ich deutet sein Leiden als sittlich gerechtfertigt: die Wunde der Liebe ist nicht Schande, sondern Zeichen innerer Wahrheit. Diese Haltung spiegelt den barocken Ethos wider, dass Leid Läuterung bringe und Leidenschaft zur moralischen Bildung des Herzens beitrage. Schmerz wird in Schönheit verwandelt.
3. Der Wunsch nach Dauer und Treue
Der Schlussvers enthält einen ethischen Appell: Die Geliebte möge nicht fliehen. Hier artikuliert sich ein moralischer Wunsch nach Beständigkeit inmitten der Flüchtigkeit erotischer Impulse. Die Ethik des Gedichts ist damit eine Ethik der Treue gegen den Trieb des Entzugs – eine moralische Bitte im Angesicht der barocken Erkenntnis der Vergänglichkeit.
1. Der Schlaf des Amor als Allegorie des entmächtigten Göttlichen
Theologisch betrachtet ruht Cupido, der Sohn der Venus, im Gras – ein Symbol der Inkarnation des Göttlichen in die Natur. Sein Schlaf kann als Gleichnis für die momentane Abwesenheit oder Verhüllung des göttlichen Prinzips der Liebe in der Welt gelesen werden. Cordilla tritt in diese Leerstelle: der Mensch übernimmt göttliche Funktion, was an die barocke Tendenz erinnert, göttliche Wirkkräfte anthropomorph zu spiegeln.
2. Der Raub der göttlichen Waffen als Prometheische Geste
Cordillas Tat erinnert an den prometheischen Akt: Der Mensch (oder hier: die Frau) eignet sich das göttliche Werkzeug an. Philosophisch ist das ein Moment der Selbstvergöttlichung – die Übernahme schöpferischer Macht durch das Geschöpf. Damit steht das Gedicht im Spannungsfeld von Eros und Hybris: Die Liebe erhebt den Menschen, kann ihn aber auch überheben.
3. Liebe als schöpferisch-verwundende Macht
Der verwundete Sprecher spiegelt ein mystisches Paradox: Die göttliche Liebe verletzt, um zu heilen. In dieser barocken Metaphysik des Eros wird der Liebespfeil zum Symbol göttlicher Gnade – der Schmerz ist Medium der Erleuchtung. Die Wunde, die Cordilla schlägt, ist also nicht nur körperlich-emotional, sondern auch geistig-theologisch: sie öffnet das Ich für Transzendenz.
4. Die Flügel als Symbol der Transzendenz und Bindung
Im Schlussvers verdichtet sich die Metaphysik: Die Flügel Cupidos stehen für die Freiheit der Liebe und ihre himmlische Herkunft. Die Bitte, Cordilla möge sie nicht zu ihrer Flucht nutzen, ist nicht nur ein Eifersuchtsausdruck, sondern eine theologische Bitte: die Liebe möge nicht ins Flüchtige, Irdische entgleiten. Der Sprecher wünscht, dass die göttliche Dimension der Liebe in der Treue verankert bleibt – dass die Liebe nicht zur bloßen Sinnlichkeit, sondern zur bleibenden Verbindung werde.
5. Barocke Dialektik von Liebe, Macht und Ohnmacht
Abschatz verdichtet in dieser kleinen Szene die barocke Grunddialektik: Menschliche Liebe als Ort göttlicher Macht, aber zugleich als Schauplatz von Ohnmacht und Vergänglichkeit. Die Seele strebt nach Vereinigung mit dem Göttlichen (repräsentiert durch Cupido), aber in der irdischen Erfahrung bleibt dies immer gefährdet durch Verlust, Flucht, Wandel. Das Gedicht ist so ein Miniatur-Abbild der barocken Kosmologie, in der göttliche Ordnung und menschliche Leidenschaft sich spiegeln und ineinander übergehen.
Zusammenfassende Synthese
Der bestohlne Cupido entfaltet in nur zwölf Versen eine komplexe Bewegung von Ruhe zu Tat, von Tat zu Reflexion, von Reflexion zu metaphysischer Einsicht. Organisch strukturiert, psychologisch fein austariert, ethisch ambivalent und theologisch tief, zeigt das Gedicht die barocke Erfahrung der Liebe als Spannung zwischen göttlicher Macht und menschlicher Endlichkeit. Cordillas listiger Diebstahl verwandelt den ruhenden Gott in ein Gleichnis für das Erwachen der Liebe im Menschen selbst. Der Liebende erkennt im Schmerz nicht bloß Verlust, sondern Offenbarung – eine barocke Erkenntnis, in der irdische Leidenschaft zur Durchscheinung des Göttlichen wird.
1. Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Liebe und Geliebter
Das Gedicht zeigt eine spielerische, doch tief moralische Umkehrung: nicht Amor, der Liebende verwundet, sondern die Geliebte (Cordilla) bemächtigt sich seiner Waffen. Diese Szene thematisiert das Verhältnis zwischen aktivem und passivem Prinzip in der Liebe – eine Verschiebung, die den moralischen Sinn auf die Selbstverantwortung des Menschen verweist. Nicht ein göttlicher Eros zwingt den Menschen, sondern der Mensch selbst übernimmt die göttlichen Werkzeuge und wird Miturheber des Begehrens.
2. Moralische Dialektik von Verletzung und Zustimmung
Die Verwundung durch Cordilla wird nicht als Unrecht, sondern als süßes Leiden dargestellt (gar lieb zu leiden seyn). Die moralische Haltung des lyrischen Ichs besteht darin, Schmerz als Teil der Liebe anzunehmen. Es liegt eine Veredelung der sinnlichen Erfahrung vor: aus der bloßen Lust wird ein sittlich vertieftes Einverständnis mit der Macht der Liebe.
3. Warnung vor der Flucht und vor der Entfremdung
In den Schlussversen äußert sich eine moralische Bedingung: Die Geliebte möge nicht auch seines Flügelwercks sich zu bedienen suchen. Diese Bitte enthält ein sittliches Moment – die Treue, das Bleiben im irdischen Raum der Begegnung. Moralisch wird hier gefordert, dass Liebe nicht zum Spiel der Flüchtigkeit wird, sondern in Beständigkeit und Nähe ihre Wahrheit findet.
1. Der schlafende Amor als Bild der ätherischen Ruhe
Anthroposophisch lässt sich Cupido im Gras als Symbol des ätherischen Lebens verstehen: das Göttliche in der Natur ruht, während der Mensch (Cordilla) bewusst handelnd eingreift. Diese Szene spiegelt das Verhältnis des modernen Bewusstseins zur göttlichen Welt – der Mensch nimmt das Werkzeug der geistigen Mächte in die eigene Hand.
2. Die Aneignung der göttlichen Kräfte durch den Menschen
Cordillas Tat – das Entwenden von Pfeil und Bogen – symbolisiert die Übernahme schöpferischer Energien durch die menschliche Seele. Anthroposophisch gesprochen: die Astralität (Amor) wird durch die Ich-Kraft (Cordilla) durchdrungen. Die Liebe wird nicht länger von außen inspiriert, sondern von innen ergriffen und individuell gestaltet.
3. Verwundung als Bewusstwerdung
Dass Cordilla nicht nur den Sprecher, sondern tausend andre verwundet, deutet auf das Prinzip der vergeistigten Liebe: das Erwachen des Ichs durch Schmerz. Der Pfeil wird zur Initiation – er führt den Menschen zur Erkenntnis des eigenen Herzens. In anthroposophischer Sicht steht diese Verwundung für den Durchbruch des höheren Selbst durch das Erleben von Hingabe und Leid.
4. Der Wunsch nach Stille und Nicht-Flucht als Streben nach Inkarnation
Wenn der Sprecher wünscht, Cordilla möge nicht mit Amors Flügeln entfliehen, so entspricht dies dem Streben des Geistigen, sich zu inkarnieren – die Liebe soll nicht ätherisch entweichen, sondern im Irdischen wirken. Das Geistprinzip soll in der Seele verweilen, nicht in himmlischer Flüchtigkeit vergehen.
1. Barocke Spielkunst zwischen Mythos und Schäferidylle
Das Gedicht vereint mythologische und bukolische Elemente: Cupido, Venus’ Sohn, wird in eine Schäferwelt versetzt. Dieses ästhetische Nebeneinander von göttlicher Allegorie und ländlicher Idylle ist typisch barock – es schafft eine Bühne, auf der das Göttliche menschlich wird und das Menschliche poetisch vergeistigt.
2. Ironisch-galante Leichtigkeit als ästhetische Haltung
Trotz des religiös-mythologischen Hintergrunds ist der Ton leicht, witzig, beinahe anmutig verspielt. Diese heitere Erotik ist nicht lüstern, sondern von höfischer Grazie durchdrungen. Der poetische Reiz liegt im paradoxen Zusammenklang von Verletzung und Lust, von Schmerz und Schönheit.
3. Symmetrie und Klanggestaltung als Ausdruck des Maßes
Die regelmäßigen vierhebigen Verse, die Paare von Aktion und Reaktion (Cupido ruht – Cordilla stiehlt; Pfeil entwendet – Herz verwundet) bilden eine ästhetische Struktur der Harmonie. Sie reflektiert das barocke Ideal der concinnitas: Schönheit als Ausgleich der Gegensätze.
4. Metaphorische Bildkunst der Blumen und Waffen
Rosen, Lilien, Nägel, Pfeile – alle sind Sinnbilder der Liebe, zugleich der Wunden. In dieser Doppeldeutigkeit zeigt sich die barocke Ästhetik der Polarität: Das Sinnliche wird zur Allegorie des Geistigen, das Schöne trägt stets das Zeichen der Vergänglichkeit und des Schmerzes.
1. Erzählstruktur mit epigrammatischer Pointe
Das Gedicht entfaltet sich wie eine kleine Szene – eine Miniaturerzählung, die in der letzten Zeile ihre moralisch-witzige Pointe findet. Diese Form der galanten Rhetorik verleiht dem Gedicht den Charakter eines Emblems in Bewegung: Bild – Handlung – Sentenz.
2. Antithetische und paradoxale Figuren
Zentral ist die Umkehrfigur: Amor, der Liebende verwundet, wird selbst bestohlen. Diese Rhetorik des Paradoxons betont die geistige Wendung des Geschehens – sie verweist auf das Spiel der Gegensätze, das barocke Kunstmittel schlechthin.
3. Anrufung und direkte Redeform
In Vers 6 (Schaut, was Cordilla kan!) und in den Schlussversen spricht das lyrische Ich direkt, fast dramatisch. Diese rhetorische Öffnung schafft Nähe zum Publikum und hebt das Gedicht aus der bloßen Erzählung in eine performative Geste – ein galantes Sprechen über Liebe, das selbst zum Akt der Verführung wird.
4. Rhetorik der Balance zwischen Pathos und Ironie
Die Sprache schwankt zwischen aufrichtigem Bekenntnis (lieb zu leiden seyn) und ironischer Distanz. Diese Ambivalenz ist bewusst inszeniert: Der Sprecher erkennt seine Verwundung an, doch in kunstvoller Selbstbeherrschung. Die Rhetorik dient also nicht der Leidenschaft, sondern ihrer ästhetischen Formung.
Gesamtsynthese
Der bestohlne Cupido ist ein kunstvoller Miniaturmythos, in dem das barocke Spiel mit Liebe, Macht und Bewusstsein sichtbar wird. Moralisch reflektiert das Gedicht den Übergang vom göttlich bestimmten zum selbstbewussten Menschen; anthroposophisch wird dieser Übergang als Aneignung der göttlichen Kräfte im Ich interpretiert; ästhetisch zeigt sich die vollendete Harmonie von Mythos, Schäferidylle und höfischer Eleganz; rhetorisch schließlich verwandelt Abschatz die Szene in ein Spiegelbild der Kunst selbst – eine Kunst, die göttliche Pfeile in Sprache verwandelt.
1. Spiel zwischen Mythos und galanter Realität
Das Gedicht bewegt sich auf einer ironisch-galanteren Metaebene, in der die antike Götterwelt (Venus, Cupido) in eine pastorale Alltagsszene transformiert wird. Der Mythos wird nicht mehr als sakral oder allegorisch ernst verstanden, sondern als ein poetisches Spiel, das die höfische Liebeswirklichkeit spiegelt. Cupido wird nicht als göttlicher Liebeslenker, sondern als schlafender Knabe dargestellt, der seiner Macht über die Menschen vorübergehend beraubt ist.
2. Selbstreflexion des poetischen Subjekts
Der Sprecher reflektiert die eigene Liebeserfahrung, indem er sie durch die mythologische Szenerie vermittelt. Er erkennt, dass die Verwundung durch Cordilla (die Geliebte) nicht von Cupido, sondern durch sie selbst geschieht. Damit verschiebt sich die Macht über Liebe und Leidenschaft vom göttlichen Prinzip auf das menschliche Individuum – eine typisch galante Perspektive.
3. Ironische Verkehrung der Rollen
Der Gott der Liebe wird selbst Opfer: Cupido, der sonst andere verwundet, ist entmachtet, während Cordilla, das Schäffer-Kind, in seine Rolle schlüpft. Diese Umkehrung hat eine humorvolle und zugleich poetologische Funktion: sie entlarvt das Liebesgeschehen als wechselseitiges Spiel von Täuschung, Macht und Hingabe.
4. Höfische und pastorale Selbstdarstellung
Der Sprecher zeigt sich selbst als bewusst reflektierten Liebenden, der seine eigene Verwundung ästhetisch genießt. Die Liebesqual wird hier nicht beklagt, sondern ästhetisch verklärt – eine Haltung, die den galanten Zeitgeist des Barock verkörpert: Schmerz wird zum Ornament, Leidenschaft zur Kunstform.
1. Transformation des Mythos in galante Dichtung
Abschatz nutzt die mythologische Figur Cupidos als poetologisches Werkzeug: Der Mythos wird entmythologisiert, um die menschliche Erfahrung von Liebe und Begehren darzustellen. Dadurch reflektiert der Text selbst das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit: Mythologie dient nicht mehr der Erklärung der Welt, sondern der poetischen Veredelung der Empfindung.
2. Selbstbewusstsein des Dichters als Schöpfer
Indem der Sprecher die mythologische Szene entwirft und umkehrt, zeigt sich das dichterische Selbst als schöpferisch und ordnend. Die Dichtung wird zur Bühne, auf der der Dichter Cupido bestiehlt, indem er dessen Macht in Sprache verwandelt. Die Poesie wird damit zum Ort, an dem göttliche Autorität in poetische Imagination übergeht.
3. Galante Stilprinzipien: Leichtigkeit, Anmut, Witz
Der Ton ist spielerisch, nicht pathetisch; die Verse leben von Leichtigkeit und doppeltem Boden. Das Gedicht verkörpert damit die poetologische Norm des galanten Barock: Geist (Esprit) und Natur, Mythos und Alltag sollen elegant verschmelzen. Der Reiz liegt im Pointierten, nicht im Erhabenen.
4. Die poetische Verwundung als Ausdruck des Kunstakts
Die Szene der Verwundung steht auch für den poetischen Schaffensakt: Cordillas Pfeil trifft nicht nur das Herz, sondern symbolisch auch die Sprache. Das poetische Ich blutet in Worten; die Liebe wird so zum Antrieb der Dichtung selbst.
1. Cupido als Metapher der entmachteten Leidenschaft
Cupido, der entwaffnet im Gras liegt, ist Bild für die vorübergehende Ruhe der Liebe, für das Moment, in dem Leidenschaft in stiller Schönheit verharrt. Seine Entwaffnung steht zugleich für die Möglichkeit, dass die Liebe selbst sich neu definiert – nicht als Überwältigung, sondern als Spiel.
2. Cordilla als Metapher der weiblichen Macht
Cordilla übernimmt Cupidos Waffen; sie wird zur Verkörperung weiblicher Souveränität in der Liebe. Das Motiv der liebenden Räuberin kehrt den traditionellen Topos der passiven Frau um und fungiert zugleich als Metapher für den Reiz des Unerwarteten, des aktiven Begehrens.
3. Der Pfeil als doppeldeutiges Symbol
Der Pfeil steht einerseits für das Leiden des Liebenden, andererseits für die Inspiration selbst. Die Wunde ist kein zerstörerischer, sondern ein schöpferischer Akt: Liebe und Sprache entstehen aus derselben Verwundung.
4. Das Flügelwerk als Symbol der Freiheit
Im Schlussvers bittet der Sprecher, Cordilla möge sich nicht zu ihrer Flucht / Auch seines Flügelwercks bedienen. Die Flügel stehen für die Freiheit der Liebe, aber auch für ihre Flüchtigkeit. Wenn Cordilla sie nutzt, könnte sie entgleiten – der Liebende fürchtet die Freiheit der Geliebten, während er zugleich von ihr angezogen ist. So wird das Flügelmotiv zur Metapher der ambivalenten Dynamik zwischen Bindung und Freiheit in der Liebe.
1. Einordnung in den galanten Barock
Abschatz gehört zur zweiten Generation der schlesischen Barockdichter und steht zwischen der pathetisch-mystischen Lyrik eines Gryphius und der spielerischen Eleganz eines Hofmann von Hofmannswaldau. Der bestohlne Cupido zeigt deutlich den Übergang von der ernsten Metaphysik zur galanten Poesie: der Mythos verliert seine religiöse oder moralische Schwere und wird zur dekorativen Erzählfigur.
2. Pastoralpoesie und Mythologie
Die Verbindung von Schäferidylle (Schäffer-Kind) und antiker Mythologie ist typisch für die höfisch-pastorale Lyrik um 1670–1680. Diese Dichtungen vermengen Natur, Spiel und Erotik zu einem literarischen Kunstprodukt, das im höfischen Milieu als Zeichen von Geschmack und Bildung fungierte.
3. Einflüsse der europäischen Galanterie
Abschatz orientiert sich an französischen und italienischen Mustern (Marino, Voiture, Malherbe). Das Gedicht spiegelt den internationalen Stilwandel wider, der von moralischer Strenge zu sinnlicher Kultiviertheit führt: Es feiert nicht mehr Tugend, sondern den Esprit des Liebesspiels.
4. Abschatz als Vermittler zwischen Epochen
Abschatz’ Werk markiert die Schwelle zur Frühaufklärung: Der mythologische Diskurs wird rationalisiert, die Liebe erscheint als psychologische und ästhetische Erfahrung, nicht mehr als transzendente Macht. Das Gedicht ist damit zugleich Abschluss und Neuansatz – Spätbarock und Frühaufklärung in einem.
1. Intertextualität und Motivumkehr
Das Motiv des schlafenden Cupido findet sich vielfach in der europäischen Kunst und Literatur (z. B. Ovid, Marino, Marino-Schule). Abschatz nutzt es, um ein galantes Gegenmotiv zu schaffen: nicht der Gott, sondern der Mensch handelt. Diese Umkehr lässt sich literaturwissenschaftlich als Subversion des Mythos verstehen – eine poetische Strategie, die den göttlichen Diskurs in menschliche Rhetorik überführt.
2. Erzählstruktur und Perspektive
Das Gedicht ist narrativ gebaut: Es schildert eine Miniaturhandlung in drei Akten – Auffindung Cupidos, Tat Cordillas, Reflexion des Ichs. Die Erzählökonomie (zwölf Verse) zeigt die barocke Fähigkeit zur Verdichtung von Handlung und Reflexion. Das Ich bleibt distanziert und zugleich emotional – ein typisches Merkmal höfischer Lyrik, die Gefühl als Form behandelt.
3. Sprache und Klangstruktur
Der Wechsel von weichen und harten Lauten (Rosen, Lilien und Nägeln) kontrastiert Schönheit und Schmerz. Die Alliterationen und Binnenreime (mein freyer Sinn mit tausend Fässeln bindt) betonen die Verspieltheit des Textes und verleihen der Sprache eine musikalische Leichtigkeit, die der Thematik der lieblichen Qual entspricht.
4. Gender und Machtverhältnisse
Die Ermächtigung der weiblichen Figur Cordilla eröffnet eine moderne Lesart: Die Frau ist nicht Objekt, sondern Subjekt des Begehrens. Das Gedicht spielt mit dem Diskurs der weiblichen Autonomie im Rahmen höfischer Liebeskultur – ein frühes Beispiel poetischer Reflexion über Macht und Geschlecht.
5. Poetische Selbstreflexivität
Abschatz’ Text zeigt sich als selbstreflexives Kunstwerk: Die Verwundung ist nicht nur Liebesakt, sondern auch Schreibakt. Die Sprache verwundet durch ihre Schönheit; die Poesie wird zur Sublimierung des erotischen Begehrens. So steht das Gedicht im Spannungsfeld zwischen Emotionalität und Formbewusstsein – eine zentrale Kategorie barocker Poetik.
Gesamtsynthese
Abschatz’ Der bestohlne Cupido ist eine feinsinnige Miniatur über Macht, Liebe und Dichtung.
Die antike Götterfigur wird entmachtet, die menschliche Liebeserfahrung poetisiert, und die weibliche Figur erhält Handlungsmacht.
Das Gedicht vereint galante Leichtigkeit mit barocker Formkunst und reflektiert zugleich das Verhältnis von Mythos, Sprache und Empfindung.
In seiner Ironie, in der Verbindung von Verletzung und Schönheit, und in der ästhetischen Selbstreflexion steht es beispielhaft für den Übergang vom barocken Weltverständnis zur frühaufklärerischen Empfindsamkeit.
1. Spielerische Umkehrung der mythologischen Rollen
Das Gedicht beginnt mit einer Umkehrung der gewohnten Machtverhältnisse: Cupido, sonst derjenige, der Liebespfeile verschießt und Herzen verwundet, wird hier selbst entwaffnet und – in gewissem Sinne – entmachtet. Diese Umkehrung öffnet ein assoziatives Feld von Ironie, List, erotischer Selbstbehauptung und weiblicher Überlegenheit. Cordilla, das Schäferkind, tritt als aktive, handelnde Figur auf, die Cupidos Werk übernimmt.
2. Natur als Schauplatz der Liebeslist
Das grüne Gras, die Rosen und Lilien schaffen eine Atmosphäre pastoraler Unschuld und Schönheit, die aber zugleich den erotischen Subtext trägt. Die Idylle dient als Bühne für Verführung und Tausch der Macht zwischen den Geschlechtern. Die Natur ist also nicht nur Hintergrund, sondern aktiver Mitspieler in einem erotisch-spielerischen Szenarium.
3. Ambivalenz zwischen Verletzung und Lust
Das Motiv der Verwundung durch Pfeile evoziert Schmerz, aber auch sinnliche Erregung. In der paradoxen Wendung, dass der Sprecher seine Pein lieb zu leiden begehrt, zeigt sich das barocke Bewusstsein für die Ineinssetzung von Lust und Schmerz, Hingabe und Leiden. Die Erotik wird als ästhetisch-theologisch aufgeladene Erfahrung dargestellt, in der Leid und Schönheit verschmelzen.
4. Motiv des Diebstahls als Liebesstrategie
Der Diebstahl Cupidos Waffen ist keine profane Tat, sondern eine symbolische Übernahme der Liebesmacht. Die Frau eignet sich das Instrumentarium der Liebe an – ein Spiel mit Macht, Kontrolle und Verführung. Assoziativ entsteht ein Bild weiblicher Klugheit, ja Schelmerei, das die Grenzen der höfischen und mythologischen Ordnung leicht übertritt, aber dabei in heiter-eleganter Form verbleibt.
5. Geflügelte Freiheit und deren Einschränkung
Die letzte Bitte des lyrischen Ichs – Cordilla möge Cupidos Flügel nicht zum Entfliehen nutzen – entfaltet eine zarte, aber tiefe Sehnsucht nach Beständigkeit in der Liebe. Das Flügelmotiv steht für Wandel, Flüchtigkeit und Unfassbarkeit; der Sprecher wünscht sich die Bindung des Flüchtigen. Die Assoziation reicht bis zu barocken Vanitas-Gedanken: die Liebe ist flüchtig, der Augenblick aber soll festgehalten werden.
1. Strophenbau und Versmaß
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen (insgesamt 12 Verse). Die Versform entspricht dem barocken Alexandriner (sechshebiger jambischer Vers mit Zäsur nach der dritten Hebung), der dem Gedicht eine rhythmisch ausgewogene, zugleich sprechhaft-theatralische Struktur verleiht. Diese Form erlaubt den Wechsel zwischen Beschreibung, Reflexion und Pointe – typisch für galante Barocklyrik.
2. Reimstruktur und Klanggestaltung
Die Reimpaare folgen durchgehend dem Paarreim (aabb), was der Rede einen geschlossenen, epigrammatischen Charakter verleiht. Die Klangführung ist harmonisch, leicht, beinahe tänzerisch; sie unterstreicht den spielerischen, zugleich pointierten Charakter der Erzählung.
3. Erzählerische Perspektive und rhetorische Dynamik
Das Gedicht ist in der dritten Person begonnen (Es fand auff einen Tag das schöne Schäffer-Kind), gleitet dann in die subjektive Erfahrung des lyrischen Ichs über (verwundet meinen Sinn). Dieser Perspektivwechsel von erzählender Distanz zu affektiver Beteiligung spiegelt den Übergang vom Mythos zur individuellen Empfindung – ein typischer Zug barocker Liebeslyrik, in der mythologische Bilder als Masken persönlicher Emotion fungieren.
4. Rhetorische Figuren und Sprachverwendung
Der Text nutzt Antithesen (verwundet meinen Sinn / lieb zu leiden seyn), Ironie (Cupido als Opfer), und personifizierende Metaphern (Venus’ Sohn ins grüne Gras gestreckt). Die Alliteration in Pfeil und Bogen und das Klangspiel von Flügelwerck erzeugen Musikalität und verbinden Sinnlichkeit mit Sprachwitz. Die letzte Zeile bildet eine rhetorische Pointe, in der die erotische Dynamik in eine ironisch-zärtliche Bitte mündet.
1. Topos der pastoralen Idylle (Locus amoenus)
Die Szene spielt im grünen Gras zwischen Rosen und Lilien – klassisches Bild des Liebesgartens, des locus amoenus, der von antiker und neulateinischer Dichtung her vertraut ist.
2. Topos der entwaffneten Liebe
Der entwaffnete Cupido gehört zu den beliebten Motiven der galanten und barocken Lyrik: Die Macht der Liebe wird ironisch-spielerisch gebrochen oder umgekehrt.
3. Topos der Liebeswunde
Das Pfeil-Motiv verweist auf den alten Topos der vulnus amoris, der Liebeswunde, in der Schmerz und Lust verschmelzen.
4. Topos der weiblichen List / der triumphierenden Geliebten
Cordilla tritt als listige Siegerin auf, eine Variation des Triumphus Amoris-Motivs, das hier ins Spielerische gewendet ist.
5. Topos der Flügel / Flüchtigkeit der Liebe
Die Flügel stehen für Cupidos Beweglichkeit und Unbeständigkeit. Die Bitte, sie nicht zu nutzen, bringt den Wunsch nach Dauer in der Liebe zum Ausdruck – ein typischer barocker Konflikt zwischen Vergänglichkeit und Streben nach Beständigkeit.
1. Barocke Motivik der Ambivalenz
Das Gedicht reflektiert barocke Spannungen zwischen Sinnlichkeit und Moral, Schmerz und Lust, Spiel und Ernst. Die Liebe erscheint als zwiespältige Erfahrung, die zugleich erleuchtet und verwundet.
2. Galante Stilrichtung innerhalb des Barock
Abschatz steht im Umkreis des galanten Barock, in dem höfische und mythologische Themen in leicht ironischer, heiter-eleganter Form behandelt werden. Anders als in der strengen religiösen Lyrik (z. B. Gryphius) steht hier der Reiz des Spiels, der Witz, die ästhetische Raffinesse im Vordergrund.
3. Humanistisch-mythologische Bildungsschicht
Die Verwendung des Cupido-Motivs zeigt den Rückgriff auf den antiken Mythos, wie er in humanistischen Kreisen beliebt war. Mythologische Figuren werden nicht mehr theologisch ernst genommen, sondern poetisch und erotisch funktionalisiert.
4. Rhetorisch-pointierte Kunstform des Barockgedichts
Abschatz zeigt sich als Meister des formalen Gleichgewichts und der rhetorischen Pointe. Das Gedicht ist durch eine klare Komposition, harmonische Reimstruktur und eine spielerische Schlusswendung charakterisiert – alles Merkmale der barocken Concettistik.
5. Lebensgefühl des 17. Jahrhunderts
Hinter der Heiterkeit steht ein leises Bewusstsein für die Unbeständigkeit menschlicher Glückserfahrung. Der Wunsch, Cordilla möge nicht fliehen, verrät das barocke Wissen um die Vergänglichkeit des Liebesglücks, auch wenn es hier galant verhüllt ist.
1. Erzählstruktur und szenische Bewegung
Das Gedicht entfaltet sich in einer kleinen, aber vollständigen Handlung: Cupido ruht, die Schäferin entdeckt ihn, entwendet seine Waffen und überträgt die Macht der Liebe auf sich selbst. Aus dieser Miniaturhandlung entwickelt sich die erotische Erfahrung des lyrischen Ichs. Der Übergang von Mythos zu individueller Empfindung, von Distanz zu Betroffenheit, ist die innere Dynamik des Textes.
2. Weibliche Macht und männliche Hingabe
Cordilla verkörpert eine aktive, souveräne Gestalt, die die Initiative übernimmt. Der männliche Sprecher bleibt – im barocken Galanteriestil – bewundernd, ja freiwillig leidend. Die Liebe wird hier nicht als Herrschaft männlicher Eroberung, sondern als Unterwerfung unter weibliche Schönheit und List inszeniert.
3. Erotische Allegorie des Schicksals
Die Szene kann als Allegorie des unvermeidlichen Unterliegens im Spiel der Liebe gelesen werden. Selbst der Gott der Liebe wird von der Liebe besiegt; der Mensch, der sich von ihr treffen lässt, empfindet das Leiden als süße Notwendigkeit. Damit wird Liebe zur Metapher des menschlichen Schicksals – sie bindet, verwundet und verführt, und doch ist ihr Schmerz begehrenswert.
4. Ironisch-pastoraler Ton
Trotz der mythologischen Figuren ist der Grundton leicht, fast heiter-ironisch. Das Schäferspiel – ein beliebtes Motiv der Barockdichtung – bietet eine maskierte Form höfischer Erotik, in der mythologische und ländliche Bilder die Anmut und List des Liebesspiels verhüllen.
5. Barockes Spiel mit Verwandlung und Symbolik
Die Waffen Cupidos (Bogen, Pfeil, Köcher) symbolisieren Macht, Leidenschaft und Verletzlichkeit zugleich. Ihre Aneignung durch Cordilla steht für die Verwandlung der göttlichen Liebe in menschliche, sinnliche, selbstbewusste Liebe. Die letzte Bitte des Ichs bindet diese heitere Szene an ein Moment barocker Melancholie: das Wissen, dass Schönheit flieht und Liebe vergeht.
6. Ästhetische Gesamtwirkung
Das Gedicht verbindet mythologische Leichtigkeit, höfische Eleganz und barocke Reflexion zu einer miniaturhaften Vollendung. Es ist exemplarisch für die poetische Balance des späten Barock: spielerische Erotik, kluge Ironie, rhetorische Präzision und ein feiner Unterton von Vergänglichkeit.