Jedwedes Thier das wohnt auff dieser weiten Erde/1
Es haß und fliehe denn/ gleich Eulen/ Licht und Sonne/2
Lebt/ wie man sieht/ allein in Arbeit bey dem Tage:3
Wenn aber sich das Haubt des Himmels krönt mit Sternen/4
Geht diß dem Stalle zu/ und jenes nach dem Walde/5
Ein jedes ruhet aus biß zu der Morgenröthe.6
Ich/ wenn sich sehen läst der Glantz der Morgenröthe/7
Die braune Finsternis zu jagen von der Erde/8
Viel wilder denn ein Thier/ ein wildes Thier im Walde/9
Begrüsse Traurens-voll mit Seufftzen Licht und Sonne/10
Mit einer herben Bach von Thränen Mond und Sternen/11
In höchster Ungedult nach kaum verwichnem Tage.12
Wenn izt der Abendstern sagt ab dem hellen Tage/13
Und unsre Dämmerung bringt andern Morgenröthe/14
So schrey ich kläglich an die mir befeindten Sternen/15
Die mich gemacht zum Spiel und Schauspiel aller Erde/16
Beklage meine Noth bey Himmel/ Lufft und Sonne/17
Daß ich mehr elend bin denn iedes Thier im Walde.18
Kein grimmes Tiger-Thier/ kein frecher Lew im Walde19
Gleicht der/ die mir geraubt die Freude meiner Tage/20
Und dennoch sieht mich treu und ohne Falsch die Sonne/21
Stets müde/ nimmer satt von Leid die Morgenröthe/22
Zum Zeichen/ daß der Leib zwar ist von schwacher Erde/23
Doch mein demantner Sinn sich gleicht dem Oel der Sternen.24
Ach könt ich/ eh der Geist sich setzet bey den Sternen/25
Eh sich mein Schatten findt im Elyseer-Walde/26
Geschieden von der Last/ die werden soll zur Erde/27
Genüssen ihrer Gunst! die Zeit von einem Tage28
Bringt funffzig Wochen ein/ ein Blick der Morgenröthe/29
Ein süsser Blick ist mir der Mittag heller Sonne.30
Der lichten Augen Paar läst hinter sich die Sonne/31
Der Sternen-Himmel prangt mit diesen Angel-Sternen/32
Der Rosen-Wangen Zier beschämt die Morgenröthe/33
Der süssen Stimme Schall die Nachtigall im Walde/34
Wer schäzte nicht mit Ihr beseligt seine Tage!35
Ach aber/ was verlangt der leichte Staub der Erde?36
Mich decket in der Erd ein dünnes Brett vom Walde/37
Eh mir so süssen Tag vergönnen Glück und Sternen/38
Eh mir die Morgenröth erscheint von dieser Sonne.39
Jedwedes Thier das wohnt auff dieser weiten Erde/1
Es haß und fliehe denn/ gleich Eulen/ Licht und Sonne/2
Lebt/ wie man sieht/ allein in Arbeit bey dem Tage:3
Wenn aber sich das Haubt des Himmels krönt mit Sternen/4
Geht diß dem Stalle zu/ und jenes nach dem Walde/5
Ein jedes ruhet aus biß zu der Morgenröthe.6
1 Jedwedes Thier das wohnt auff dieser weiten Erde/
Analyse
Der setzt mit einem universalisierenden Quantor (Jedwedes) ein und etabliert so eine totalisierende Perspektive auf Tier als Gattungsbegriff, nicht auf einzelne Arten.
Die weit gespannte Rahmung auff dieser weiten Erde erweitert den lokalen Bezug zu einem kosmologisch-geographischen Panoramablick; der Sprecher beansprucht exemplarische Gültigkeit.
Die barocke Diktion (auff, weiten) und der umgreifende Ton signalisieren eine moralisch-gnomische Setzung: ein Lehrsatz über Naturordnung und Lebensrhythmus.
Der syntaktische Bau ist parataktisch und knapp; semantisch fungiert der als Prämisse, auf die die Folgeverse als Exempla antworten.
Interpretation
Der ruft die Natur als Autorität auf: Was für jedwedes Thier gilt, wird als natürliche Norm plausibilisiert und kann später analogisch auf den Menschen bezogen werden.
Die Weite der Erde kontrastiert implizit mit der Einheitlichkeit der Regel: trotz Vielfalt herrscht ein übergreifendes Gesetz des Lebens.
In barocker Manier bereitet der eine moralische oder affektive Pointe vor, indem er die Evidenz der Natur in den Dienst einer Lehre stellt (z. B. über Arbeit, Ruhe, Liebe).
Der Sprecher positioniert sich als Beobachter der Weltordnung; seine Stimme gewinnt Autorität durch den Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
2 Es haß und fliehe denn/ gleich Eulen/ Licht und Sonne/
Analyse
Das Personalpronomen Es nimmt das generische Thier auf; die Aussage charakterisiert eine Grundaffektion (haß und fliehe) der Kreatur gegenüber Licht und Sonne.
Die Parenthese gleich Eulen setzt einen Vergleichsmaßstab: die Eule fungiert als emblematische Figur der Lichtmeidung, traditionell mit Nacht und Trauer assoziiert (bei aller Ambivalenz der Eule als Weisheitssymbol).
Die starke Antithese Licht und Sonne vs. haß und fliehe schafft eine affektlogische Spannung, die nicht zoologische Exaktheit, sondern rhetorische Schärfe intendiert.
Die Alliteration/Assonanzfolge (haß, fliehe, Licht) und die Pausenmarken (Schrägstriche) strukturieren den taktil und lenken auf den semantischen Kontrast.
Interpretation
Rhetorisch ist der Satz paradox, denn viele Tiere sind diurnal; doch barocke Emblematik erlaubt Überzeichnung: die Kreatur scheut das exponierende Licht, das Mühe, Gefahr und Öffentlichkeit bedeutet.
Eule kodiert den nächtlichen Bereich als Ort des Eigenen/Verborgenen; so wird die Nacht zum heimlichen Element der Kreatur.
In moralischer Lesart steht Licht für Pflicht, Arbeit, Sichtbarkeit; fliehen benennt die anthropologische Tendenz, das Beschwerliche zu meiden.
Der bereitet den Übergang zum Tag-Nacht-Dualismus vor, der weniger naturkundlich als existentiell-moralisch verstanden werden soll.
3 Lebt/ wie man sieht/ allein in Arbeit bey dem Tage:
Analyse
Die Parenthese wie man sieht beruft sich auf empirische Evidenz und markiert den Sprecher als Zeugen allgemeiner Erfahrung.
allein in Arbeit wirkt exklusiv: Der Tag wird funktional auf Arbeit restringiert; der additive Lebensgehalt des Tages schrumpft zur Pflicht.
Der Dativ-Lokativ bey dem Tage fixiert den Tagesraum als Sphäre der Tätigkeit, wodurch das Pendant Nacht als Gegenraum implizit vorbereitet ist.
Die Satzmelodie und der Doppelpuls aus Behauptung (lebt … allein in Arbeit) und Evidenzverweis (wie man sieht) verdichten den didaktischen Ton.
Interpretation
Das scheinbare Paradox zu V. 2 (Licht fliehen – und doch bei Tag arbeiten) erhellt die barocke Anthropologie: Naturneigung (Scheu vor dem Licht) wird von Notwendigkeit (Arbeit) überformt.
Die Aussage lässt sich als Lebensregula lesen: Sichtbarkeit verpflichtet; der Tag ist der Raum der Ordnung, des Gesetzes, der Mühsal.
Poetologisch entfaltet sich hier eine Morallektion über Maß, Rhythmus und Ökonomie der Kräfte: Tag = Pflicht; Nacht = Schonung/Innerlichkeit.
In erotisch-affektiver Vorahnung (zumal im Zykluskontext) wird der Tag als nicht-erotische, instrumentelle Zeit markiert, wodurch die Nacht später als Raum der Zuneigung und des Spiels profiliert werden kann.
4 Wenn aber sich das Haubt des Himmels krönt mit Sternen/
Analyse
Der konditionale Anlauf Wenn aber leitet den Umschlag ein: von Tages- zur Nachtordnung.
Haubt des Himmels personifiziert und adelt das Firmament; die Metapher krönt (Krönungsakt) inszeniert den Eintritt der Nacht als feierliche Investitur.
Sternen fungieren als Insignien der Herrschaft der Nacht; die Bildwahl überträgt politische Theologie (Souverän/Krone) ins Kosmische.
Der rhythmisiert die Transition als Kulminationsmoment, nicht als bloßes Naturfaktum: Nacht erhält zeremonielle Würde.
Interpretation
Die Nacht wird nicht als Mangel an Licht, sondern als positiv qualifizierte Ordnung dargestellt, mit eigenem Glanz (Sternkrone).
In barocker Symbolik verschiebt sich das Wertgefälle: der gekrönte Himmel widerlegt die Geringschätzung der Nacht; sie ist majestätisch und schützend.
Damit wird die Nacht legitimiert als legitimer Gegenpol zum Tag: beide haben Rang und Recht — ein Dualismus ohne Dämonisierung.
Poetologisch erzeugt die Krönungsmetapher einen Affekt der Ruhe und Erhebung, der den folgenden Rückzug der Kreatur motiviert.
5 Geht diß dem Stalle zu/ und jenes nach dem Walde/
Analyse
Die Deiktika diß und jenes spalten die Tierwelt in zwei Sphären: domestiziert (Stall) vs. wild (Wald).
Der Parallelismus (Geht … dem Stalle, [geht] … nach dem Walde) markiert eine symmetrische, allgemeine Bewegung: Heimkehr/Rückzug.
Die Lokalangaben bilden ein binäres Natur-Sozial-Schema: Kulturraum (Stall) und Naturraum (Wald) werden als adäquate Nachtquartiere codiert.
Die Syntax ist knapp, bewegungsfokussiert; die Semantik zeigt Teleologie: jedes Wesen findet seinen Ort.
Interpretation
Der konkretisiert die kosmische Ordnung im sozialen und ökologischen Raum: Nacht stiftet Ordnung der Zugehörigkeit.
Der Rückzug suggeriert Schutz, Sammlung, Intimität; Nacht bindet, anstatt zu zerstreuen.
In antropologischer Allegorie zeichnet sich ab: Auch der Mensch hat seinen Stall bzw. seinen Wald — seine angemessene Sphäre der Ruhe oder Innerlichkeit.
Die Gleichwertigkeit der Ziele (Stall/Wald) impliziert, dass Würde nicht an Domestikation hängt; es gibt eine demokratische Ruheordnung der Kreatur.
6 Ein jedes ruhet aus biß zu der Morgenröthe.
Analyse
Der Resumé-bringt die Bewegung zur Ruhe: ruhet aus ist zielgerichtetes Telos des beschriebenen Kreislaufs.
biß zu der Morgenröthe markiert eine klare temporale Grenze; die Morgenröte personifiziert den nächsten Umschlagpunkt.
Klanglich trägt die gedehnte Kadenz (Morgenröthe) eine beruhigende Schlusswirkung; die Zeitachse wird geschlossen.
Der bündelt die Regelhaftigkeit des Rhythmus: alternierende Phasen von Arbeit und Ruhe als Naturgesetz.
Interpretation
Ruhe erscheint nicht als bloße Abwesenheit von Arbeit, sondern als legitimer, notwendiger Gegenpol — eine poetische Ethik der Maßhaltung.
Die Morgenröte kündigt erneute Pflicht an; doch wird der Zyklus als wohltätig dargestellt: Ausruhen ist Bedingung der nächsten Arbeitsphase.
Anthropologisch gelesen ist dies ein Plädoyer für Balance von Öffentlichkeit (Tag) und Innerlichkeit (Nacht), von Leistung und Schonung.
Im Kontext eines Liebes- oder Affektzyklus (Anemone/Adonis) kann die Nacht zugleich als Raum der Herzenspflege antizipiert werden, ohne dass der dies bereits explizit macht.
Die Strophe entwirft in sechs Schritten eine barocke Kosmologie des Rhythmus: universale Geltung (V. 1), affektiver Kontrast zum exponierenden Licht (V. 2), funktionale Bestimmung des Tages als Arbeitszeit (V. 3), feierliche Investitur der Nacht (V. 4), ordnende Heimkehr der Kreatur in ihre je eigene Sphäre (V. 5) und schließlich die teleologische Ruhe bis zum nächsten Umschlag (V. 6). Rhetorisch dominieren Universalformeln, Emblem-Vergleich (Eule), Personifikation (Himmels-Haupt, Morgenröthe) und eine politisch-theologische Bildökonomie (Krönung), die den Wechsel von Tag und Nacht nicht naturalistisch, sondern normativ auflädt.
Die scheinbare Paradoxie zwischen V. 2 und V. 3 (Licht fliehen vs. bei Tag arbeiten) erzeugt eine barocke Dialektik: Die Naturneigung zur Verborgenheit stößt auf die soziale Notwendigkeit der Sichtbarkeit. Dieser Konflikt wird nicht moralisiert, sondern rhythmisch versöhnt: Was der Tag an Pflicht erzwingt, gleicht die Nacht durch Schutz und Sammlung aus. So skizziert die Strophe ein Grundgesetz der Mäßigung (moderatio): Maß, Wechsel, Balance.
Im weiteren Zykluszusammenhang bereitet diese Grundfigur die Möglichkeit einer affektiven oder amorösen Binnenzeit vor: Die Nacht — festlich legitimiert und ordnend — könnte sich zur privilegierten Sphäre innerer Bewegung (Gefühl, Andacht, Liebe) entfalten, während der Tag die Ökonomie der Arbeit regiert. Damit richtet die Strophe nicht nur einen Naturspiegel auf, sondern auch einen ethischen Spiegel: Sie lehrt den rechten Umgang mit Kräften, Zeiten und Räumen des Lebens.
Ich/ wenn sich sehen läst der Glantz der Morgenröthe/7
Die braune Finsternis zu jagen von der Erde/8
Viel wilder denn ein Thier/ ein wildes Thier im Walde/9
Begrüsse Traurens-voll mit Seufftzen Licht und Sonne/10
Mit einer herben Bach von Thränen Mond und Sternen/11
In höchster Ungedult nach kaum verwichnem Tage.12
7 Ich/ wenn sich sehen läst der Glantz der Morgenröthe/
Analyse
1. Der eröffnet mit einem exponierten Ich, das den Ton einer subjektiven, affektiv gesteuerten Rede setzt; die schrägen Schrägstriche markieren barocke Einschnitte und rhythmisieren die Periodik.
2. Die Bedingungskonstruktion (wenn…) verzögert die Matrixaussage; klassisch barocke Hypotaxe, die Erwartung aufbaut und das Erleben in einen wiederkehrenden Tagesrhythmus einspannt.
3. Glantz der Morgenröthe ist eine emphatische Lichtmetapher, die den Anbruch des Tages in auratischem, fast sakralem Vokabular fasst; das substantivierte Glantz erhöht die Erscheinung zur epiphanischen Qualität.
4. Der Blick ist zunächst phänomenologisch: Es geht um das Sich-Zeigen (sich sehen läßt) – Wahrnehmung als Ereignis, nicht bloß als Zustand.
5. Orthographisch-stilhistorisch bindet Morgenröthe die Szene an barocke Farb- und Lichtsemantik (Rot als Schwelle zwischen Nacht und Tag, Liebe und Tod).
Interpretation
1. Der Sprecher markiert sich als jemand, dessen Inneres auf äußere Naturzeichen (Morgenröte) überempfindlich reagiert; eine seismographische Liebes- oder Trauergestimmtheit wird vorbereitet.
2. Die auratische Aufwertung der Morgenröte kontrastiert mit dem späteren Affekt (Trauer), womit eine barocke Antithese zwischen Weltglanz und Seelenzustand vorbereitet wird.
3. Das Sich-Zeigen evoziert den Topos der Epiphanie, der hier jedoch ironisch gebrochen werden wird: Was gewöhnlich freudig begrüßt wird, wird gleich negativ konnotiert.
4. Der konditionale Aufbau (wenn…) stellt die Wiederkehr des Leidens als zirkuläre, täglich erneute Erfahrung heraus—ein existenzielles Kreisen statt linearer Heilung.
5. Auf der Zyklusebene (Anemons und Adonis Blumen) kann die Morgenröte als Schwelle gelesen werden, an der Verlusterfahrung (Adonis) jeweils neu ins Bewusstsein tritt.
8 Die braune Finsternis zu jagen von der Erde/
Analyse
1. Die Morgenröte bekommt aktive, ja aggressive Agency: Sie jagt die Finsternis—ein Personifikations- und Kampfbild, das den Tagesanbruch als Verdrängungsakt inszeniert.
2. Die Farbbestimmung braune Finsternis ist ungewöhnlich: Nicht schwarz, sondern braun; dadurch rückt der in die Zwischenzone von Nacht und Frühlicht, in der Farbtöne kippen.
3. Von der Erde lokalisiert den Kampf im irdischen Bereich, nicht im Himmel; das profaniert den Lichtvorgang und bindet ihn an menschliche Lebenssphäre.
4. Grammatisch hängt die Infinitivgruppe (zu jagen) vom vorher genannten Glantz ab—ein Gewebe dichter syntaktischer Bindungen, das den Bewegungsimpuls des Lichts nachzeichnet.
5. Bildlich entsteht eine Jagdszene: Tag als Jäger, Nacht als Beute; es ist eine dynamische, nicht harmlose Naturpoetik.
Interpretation
1. Was gemeinhin als befreiende Verlichtung gilt, erscheint hier als Gewaltakt; der Tag vertreibt etwas, das der Sprecher möglicherweise liebt: die Nacht als Raum der Intimität.
2. Die Farbnuance braun macht die Finsternis nicht absolut negativ; sie ist warm-erdig—ein Hinweis auf Ambivalenz: Der Sprecher könnte im Dämmerlichen Heimat finden.
3. Der irdische Fokus (von der Erde) legt nahe, dass der Konflikt nicht metaphysisch, sondern lebensweltlich-erotisch ist: Im Tag droht soziale Kontrolle/Trennung, in der Nacht war Nähe möglich.
4. Das Jagdbild antizipiert die innere Verfolgungs-/Bedrängungserfahrung: Der Sprecher fühlt sich vom Tag bedrängt, nicht befreit.
5. Auf vanitas-Achse: Das Verjagen erinnert an die Flüchtigkeit aller Zustände—Nächte und Freuden werden gejagt, nichts verweilt.
9 Viel wilder denn ein Thier/ ein wildes Thier im Walde/
Analyse
1. Steigerung und Vergleichsfigur (viel wilder denn ein Thier) intensivieren den Affekt; die Reduplikation (ein Thier/ ein wildes Thier) ist barocke Pleonasmik als Emphase.
2. Der Wald als Topos rahmt das Wilde naturhaft-exzessiv; er kontrastiert mit der zuvor kosmologischen Lichtszene und rückt in das Reich des Instinkts.
3. Syntaktisch bereitet der das Prädikat Begrüsse (V. 10) vor; die Wildheit bezieht sich auf Art und Weise des Grußes—also auf ein paradoxes, ungebändigtes Begrüßen.
4. Prosodisch erzeugen die Schrägstriche abrupte Atemschnitte, die die Erregung mimetisch stützen.
5. Semantisch verlagert sich der Fokus von äußerer Natur (Licht/Nacht) zur inneren Natur (Wildheit des Ich).
Interpretation
1. Der Sprecher pathologisiert sein eigenes Begrüßen: Es ist nicht zivil, sondern ungebändigt—ein Zeichen der Unangemessenheit der Tagessemantik für seinen Affekt.
2. Das Tierbild entwirft ein Selbst, das von Trieb, Schmerz und Instinkt regiert wird; Liebe/Verlust wird als Ent-Kultivierung erfahrbar.
3. Der Wald evoziert das Ortlose, Unkontrollierbare: Der Gruß an den Tag findet aus der Wildnis der Seele statt, nicht aus sozialer Ordnung.
4. In der Tradition des Tagelieds: Der Liebende, durch das Morgenzeichen alarmiert, reagiert wild—die Wildheit ist Widerstand gegen die Tagesordnung (Trennung).
5. Poetologisch: Barocke Überbietungsästhetik (augmentative Vergleiche, Doppelungen) inszeniert Affekt als Übermaß.
10 Begrüsse Traurens-voll mit Seufftzen Licht und Sonne/
Analyse
1. Hier fällt das verzögerte Prädikat: Begrüsse; der Satzschluss löst die syntaktische Spannung der vorherigen Hypotaxe.
2. Traurens-voll und mit Seufftzen benennen ausdrücklich Affektzeichen: Lautmalerischer Klang (Seufftzen) und barocke Seufzer-Topik (musikalisch: Seufzerfigur).
3. Objekt des Grußes sind Licht und Sonne—Doppelung als binäre Lichtachse; die Sonne als dominierendes Tagesgestirn.
4. Rhetorisch entsteht eine Antiphrasis: Ein Gruß ist üblicherweise freudig; hier ist er affektiv invertiert—ein paradoxes Begrüßen.
5. Klanglich kontrastieren helle Vokale (Licht, Sonne) mit dunklem Affektwortschatz—eine bewusst gesetzte Dissonanz.
Interpretation
1. Das paradoxe traurige Begrüßen markiert den Tag als Feind der Liebenden: Der Morgen bringt Trennung, Überwachbarkeit, Abbruch der nächtlichen Intimität.
2. Der Sprecher ritualisiert seinen Schmerz: Er begrüßt den Schmerzbringer—eine Geste erzwungener Höflichkeit gegenüber der Ordnung der Welt. 3. Die Doppelnennung Licht und Sonne verallgemeinert den Gegner: Nicht nur ein Moment, sondern das Prinzip der Verhellung steht gegen ihn. 4. Das Seufzen ist zugleich Ausdruck und performativer Akt der Klage; Sprache wird zum Klangleib des Schmerzes (barocke Affektpoetik). 5. In mythopoetischer Perspektive (Adonis-Komplex): Licht/Sonne können mit Apollon/Tag assoziiert werden, die den Liebestod unbarmherzig ausstellen—der Tag macht den Verlust sichtbar.11 Mit einer herben Bach von Thränen Mond und Sternen/
Analyse
1. Die Parallelfügung zu V. 10 (mit…) erweitert den Gruß auf die nächtlichen Gestirne; syntaktisch koordiniert, semantisch antithetisch.
2. Die Metapher Bach von Tränen hyperbolisiert das Weinen zur Naturformation; barocke Naturalisierung des Affekts (Tränen als Flusslandschaft).
3. Das Attribut herb verschärft den Geschmackssinn—Synästhesie zwischen Geschmack und Gefühl; der Schmerz wird körperlich.
4. Mond und Sternen bilden das Komplement zu Licht und Sonne; Tag/Nacht wird als binäre Achse vollständig abgebildet.
5. Die Logik ist paradox: Er begrüßt auch die Nachtgestirne—doch nicht freudig, sondern mit bitteren Tränen; so werden beide Sphären in die Klage hineingezogen.Interpretation
1. Die Tränenflut gilt den fliehenden Nachtlichtern: Er verabschiedet, was ihm lieb war; klassischer Tagelied-Topos (Klage beim Verschwinden der Sterne).
2. Indem Tag und Nacht gleichermaßen begrüßt werden, zeigt sich, dass der Schmerz nicht beiläufig, sondern total ist: Die Welt als Ganze wird zum Resonanzraum der Trauer.
3. Die Synästhesie (herb) konkretisiert Verlust als leibliche Bitterkeit; Emotion wird sinnlich-geschmeckt, nicht nur gedacht.
4. Die Naturmetaphorik (Bach) bereitet die Floralisierung/Metamorphose von Tränen zu Blumen vor—eine barocke Signatur, die im Zyklus-Titel (Anemons) bereits angekündigt ist.
5. Poetologisch wird das Gedicht selbst zum Bach: der Strom von Versen/Seufzern, der über beide Sphären (Tag/Nacht) hinwegfließt.
12 In höchster Ungedult nach kaum verwichnem Tage.
Analyse
1. In höchster Ungedult bündelt die vorher diffuse Affektlage in einen klaren Intensitätsgrad; Superlativ als barocke Steigerungsformel.
2. Die Zeitbestimmung nach kaum verwichnem Tage ist doppeldeutig: Sie kann den eben verflossenen Tag (gestern) oder den soeben einsetzenden neuen Tag im Verhältnis zur verflossenen Nacht markieren.
3. Das Tempusgefüge schließt die Strophe auf der Zeitachse: Von der Morgenröte (Anfang) über Jagd/Gruß zur Reflexion der raschen Verflüchtigung (kaum verwichen).
4. Der Rhythmus fällt gegenüber den vorherigen Versen kürzer, satter; ein periodischer Schluß, der die Unruhe nicht beruhigt, sondern benennt.
5. Lexikalisch verbindet Ungedult Aktivitätsdrang mit Ohnmacht—das Leiden ist beschleunigt und zugleich blockiert.
Interpretation
1. Der Sprecher ist ungeduldig nach dem verflossenen Tag: Entweder sehnt er die verlorene Konstellation zurück (Nacht der Intimität → Tag zu schnell dahin), oder er kann den neuen Tag kaum ertragen und wünscht sein Ende herbei; beide Lesarten stützen die Grundfigur der Unruhe.
2. Kaum verwichen betont die Flüchtigkeit (vanitas): Was zählt, verweilt nicht; der Zyklus von Tag/Nacht wird zum Memento der Vergänglichkeit der Freude.
3. Die Strophe beschließt mit einem Zustand, nicht mit einer Lösung: Die Ungeduld ist der dauerhafte Modus der Seele, täglich reaktiviert durch die Morgenröte.
4. Auf Liebesebene: Ungeduld als Sehnsuchtsmotor—der Liebende erträgt keine Übergänge; jeder Morgen ist Verlust, jeder vergangene Tag Anlass zur Re-Klage.
5. Poetologisch schließt der den Ring: Die epiphanische Morgenröthe des Anfangs mündet in einen epiphanischen Affekt des Endes—das Gedicht inszeniert Zyklik statt Teleologie.
1. Dramaturgie der Schwelle: Die Strophe entfaltet eine Schwellenpoetik: Mit der Morgenröte als visuellem Trigger setzt eine Spirale von Antithesen (Licht/Trauer, Tag/Nacht, Gruß/Klage, Epiphanie/Desolation) ein. Durch Hypotaxe und Verzögerung entsteht ein Gefühl der unaufhebbaren Übergangsunruhe.
2. Totalisierung des Affekts: Indem sowohl Tages- als auch Nachtgestirne begrüßt werden—beide jedoch in Tränen—universalisiert das lyrische Ich seinen Schmerz. Nicht ein Teil der Welt ist schuld, sondern die Welt als zyklisches Ganzes produziert den Verlust immer neu.
3. Barocke Zeichenhandschrift: Personifikation (Jagd der Finsternis), Hyperbel (viel wilder denn ein Thier, Bach von Thränen), Synästhesie (herb), Pleonasmus und binäre Doppelungen (Licht und Sonne / Mond und Sternen) signieren eine Affekt- und Überbietungsästhetik, die den inneren Exzess nach außen spiegelt.
4. Tagelied-Resonanz und Vanitas: Intertextuell klingt das Tagelied an: Der Morgen trennt Liebende; daher der traurige Gruß an den Tag und die Tränen für die schwindende Nacht. Gleichzeitig rahmt kaum verwichner Tag die Szene in vanitas: zeitliche Flüchtigkeit radikalisiert die Liebessehnsucht.
5. Poetologische Selbstfigur: Der Bach von Tränen spiegelt das Gedicht als Fließen—eine spracheigene Metamorphose, die im Zyklus-Titel (Anemons/Adonis) als Tränen-zu-Blumen-Mythologem vorgespielt ist. Die Strophe bereitet so die Möglichkeit vor, dass Leiden in ästhetische Form (Blume/Gedicht) übersetzt wird.
6. Affektive Pointe: Es gibt keinen Trostpunkt; der Schluss fixiert höchste Ungeduld. Die Strophe etabliert damit den Grundton des Gedichts: eine ritualisierte, täglich erneuerte Klage, die gerade im formbewussten Sagen (Gruß, Seufzen, Metaphernfluss) ihre Würde gewinnt.
Wenn izt der Abendstern sagt ab dem hellen Tage/13
Und unsre Dämmerung bringt andern Morgenröthe/14
So schrey ich kläglich an die mir befeindten Sternen/15
Die mich gemacht zum Spiel und Schauspiel aller Erde/16
Beklage meine Noth bey Himmel/ Lufft und Sonne/17
Daß ich mehr elend bin denn iedes Thier im Walde.18
13 Wenn izt der Abendstern sagt ab dem hellen Tage/
Analyse
1. Die Strophe eröffnet mit einer konditionalen Konstruktion (Wenn …), die einen Protasis–Apodosis-Bogen vorbereitet; sie schafft Spannung und markiert einen Übergangsmoment.
2. Der Abendstern (Hesperus/Venus) wird personifiziert: Er sagt ab dem Tag, als sei er ein Zeremonienmeister, der ein Schauspiel beendet. Die Formulierung sagt ab spielt semantisch mit Absage/Abbruch, wodurch ein leiser Affront gegen die Helligkeit des Tages mitschwingt.
3. Die Gegenüberstellung von Abendstern und hellem Tage etabliert eine hell/dunkel-Antithese, einen Grundzug barocker Symbolik (Licht = Gunst/Glück, Dunkel = Entzug/Leid).
4. Der Bezug zu Venus ist für den Zyklus bedeutsam: In einem Liebes-Kontext bekommt der Abendstern eine ambivalente Rolle – nicht nur Leitstern der Liebe, sondern auch Agent ihrer Verdunkelung.
5. Metrisch-syntaktisch fungiert der als Auftakt der Periode; die sachte Alliteration (Abendstern … ab) verbindet Bild und Handlung.
Interpretation
1. Der Sprecher erlebt den kosmischen Tageswechsel als existentiellen Einschnitt: mit dem Abend tritt nicht Ruhe, sondern Unheil ein.
2. Dass ausgerechnet der Liebesstern den Tag absagt, deutet eine Gegenläufigkeit der Liebe an: Das, was erhofft, führt ins Gegenteil – ein barocker antithetischer Affekt.
3. Der Akt des Absagens legt eine Theatralisierung der Welt nahe: Die Himmelskörper treten wie Akteure auf, die über das Schicksal des Menschen verfügen.
14 Und unsre Dämmerung bringt andern Morgenröthe/
Analyse
1. Der koordinierende Anschluss (Und) führt den Gedankengang fort: Dämmerung hier kontra Morgenröte dort.
2. Der Possessiv unsre markiert ein kollektives Hier (Erfahrungsgemeinschaft des lyrischen Ichs), dem ein andern als Elsewhere gegenübersteht: frühe Neuzeitliche Globalität/Perspektivenverschiebung.
3. Die Antithese wird kosmographisch ausgeweitet: Der zeitliche Übergang an einem Ort ist die Geburt des Lichts an einem anderen – zyklische Weltordnung.
4. Semantisch schwingt Konkurrenz der Glückszuteilung mit: Das Licht fließt nicht allen zugleich zu.
Interpretation
1. Der relativiert individuellen Schmerz im Angesicht eines weltumspannenden Rhythmus: Das Ich steht im Asynchronen der Geschicke.
2. Psychologisch entsteht Neid/Entfremdung: Während hier die Dämmerung fällt, genießt ein Anderer bereits neuen Anfang.
3. In Liebessemantik gelesen: Was dem Sprecher verfinstert, erhellt vielleicht die Lage anderer – Liebe als kontingente Gunst.
15 So schrey ich kläglich an die mir befeindten Sternen/
Analyse
1. Mit dem Apodosis-Marker So setzt die Reaktion des Ichs ein: die Klage als affektive Folgerung aus dem kosmischen Befund.
2. schrey ich kläglich intensiviert den Ton: auditive Drastik, Nähe zur Lamentatio-Tradition; das Adverb kläglich verankert den Text im Genus des Klagelieds.
3. Apostrophe/Prosopopoiia: Die Sterne werden angerufen, als könnten sie antworten; das Ich stellt sie zugleich als mir befeindte Mächte dar – Ausdruck astrologischer Determination und Schicksalsfeindschaft.
4. Der Dativ Plural (den Sternen) mit vorangestelltem Artikel in altertümlicher Flexion betont die frühe Neuzeitlichkeit des Idioms.
Interpretation
1. Die Klage wendet sich übermenschlich nach oben: Das Ich sucht Rechts-Instanzen im Kosmos, als sei ein Prozess anhängig (Klage-Ritual).
2. Die Zuschreibung befeindet verweist auf ein Weltbild des Widerstreits: Nicht gnädige Vorsehung, sondern resistente, ja feindliche Konstellationen.
3. Im Liebeszyklus bedeutet das: Venus steht gegen ihn; die Sternenmacht der Liebe wird zur Peinigerin.
16 Die mich gemacht zum Spiel und Schauspiel aller Erde/
Analyse
1. Der Relativsatz bezieht sich auf die Sterne und erklärt die Feindschaft: Sie haben ihn zum Spiel und Schauspiel gemacht.
2. Hendiadyoin/Paronomasie: Spiel (als Objekt des Herumstoßens/Spielball) und Schauspiel (als öffentliche Schaustellung) verdichten das Motiv der Entmündigung und Bloßstellung.
3. Die Formel aller Erde setzt das Publikum universell: Theatrum-mundi-Topos – Weltbühne, auf der der Einzelne zum Exponat wird.
4. Rhetorisch wird das Motiv des Ausgeliefertseins maximiert: von der Intimsphäre der Liebe zur kosmisch-öffentlichen Wirkung.
Interpretation
1. Das Ich erlebt sich als Spielball der Fortuna und zugleich als Gaff-Objekt: Leid wird spektakularisiert.
2. Die Selbstwahrnehmung kippt ins paradoxe Öffentlich-Werden von Privatnot – ein barocker Kern: Inneres als Schaustück.
3. Liebessemantisch: Der private Liebesschmerz wird als allgemeines Schauspiel empfunden – Scham und Ohnmacht verschränken sich.
17 Beklage meine Noth bey Himmel/ Lufft und Sonne/
Analyse
1. Nach der Klageschrei-Apostrophe folgt die förmliche Klageeinreichung: Beklage … bey … ist quasi-juristisch; die Adressaten bilden ein kosmisches Tribunal (Himmel – Luft – Sonne).
2. Enumeratio/Trikolon: drei Stufen der Sphäre – Transzendenz (Himmel), Medium (Luft), Quelle des Lichts (Sonne).
3. Die Reihung ohne Konjunktion (Himmel/ Lufft und Sonne) mischt Asyndeton und abschließendes Polysyndeton (und vor Sonne), wodurch ein crescendo entsteht.
4. Phonisch markiert Lufft die historische Orthographie; zugleich wird die Luft als Träger der Stimme sinnhaft – die Klage verbreitet sich.
Interpretation
1. Das Ich sucht Zeugen und Richter gegen sein Fatum; es verlangt Hörbarkeit über alle Sphären hinweg.
2. Die Sonne als letzter Adressat steht programmatisch für Gnade/Licht – doch sie scheint dem Sprecher entzogen; deshalb richtet sich die Klage an die Quelle selbst.
3. Das gerichtliche Idiom verstärkt das Gefühl: Weltordnung ist ungerecht, das Leiden bedarf öffentlicher Anerkennung.
18 Daß ich mehr elend bin denn iedes Thier im Walde.
Analyse
1. Der bildet den Objektsatz zu Beklage: Inhalt der Klage ist die radikale Selbsterniedrigung.
2. Hyperbel durch Superlativstruktur (mehr elend … denn jedes Tier): Der Mensch stellt sich unter das Tier.
3. Die Topik des Waldes ruft das Bild natürlicher Unschuld/Geborgenheit auf: Tiere folgen dem Naturrhythmus und sind von reflektierter Qual frei.
4. Klanglich bündelt der die harten Konsonanten (mehr elend bin denn) und die weiche Auslaufung (im Walde) – ein Sturz in die Tiefe, der sich in einen Seufzer entlässt.
Interpretation
1. Anthropologisch wird die barocke Selbsterniedrigung (humilitas) auf die Spitze getrieben: reflexive Bewusstheit macht den Menschen elender als das Tier.
2. In Liebessemantik: Das Tier leidet nicht an der Liebe; das Ich dagegen ist durch Affekt, Gedächtnis und Erwartung gequält.
3. Der Vergleich mit dem Wald kontrastiert die Zivilisations-/Kosmosbühne aus V. 16: Die Natur bietet, was der kosmische Schauplatz verweigert – Stille, Ordnung, Zweckmäßigkeit.
1. Syntax und Dramaturgie der Periode. Die Strophe entfaltet eine klassische barocke Periodenarchitektur: Auf den Wenn-Satz (V. 13–14), der den kosmischen Übergang (Abendstern, Dämmerung/Morgenröte) entwirft, folgt der So-Satz (V. 15–18), der die affektive und rhetorische Reaktion des Ichs exponiert. Diese Struktur übersetzt Weltlauf in Affektlogik: Kosmische Antithese → menschliche Klage.
2. Kosmische Allegorisierung der Liebesnot. Der Abendstern (als Venus) initiiert das Ende des Tages – im Liebeszyklus eine ironische Verkehrung: Die Liebesgöttin wirkt widrig. Die Ferne, in der zugleich Morgenröte anhebt, betont eine asynchrone Gerechtigkeit: Was andern aufgeht, erlischt beim Sprecher. Die Sterne erscheinen befeindet, der Himmel zum kalten Tribunal.
3. Theatrum mundi und öffentliche Scham. Mit Spiel und Schauspiel aller Erde bindet der Text den theatralen Welt-Topos ein: Der Leidende ist Spielball und Schaustück. Die private Passion wird öffentlich gemacht; der Kosmos schaut und spielt mit. Die Diktion (Spiel/Schauspiel) kombiniert Paronomasie und Hendiadyoin, wodurch die doppelte Ohnmacht – instrumentalisiert und zur Schau gestellt – rhetorisch verdichtet wird.
4. Klage als Rechts-Geste. Beklage … bey Himmel/ Lufft und Sonne inszeniert Klagegericht und Zeugenruf. Die Trias der Adressaten zeichnet ein vertikales Register: Transzendenz – Medium – Lichtquelle. Das Ich verlangt Gehör und Anerkennung seines Leids; implizit steht der Vorwurf der Ungerechtigkeit der Ordnung im Raum.
5. Anthropologischer Tiefzug. Die Schlussbehauptung, elender als jedes Tier zu sein, radikalisiert barocke Vanitas- und Elendstopik. Die Ursache des Mehr-Elends liegt im reflexiven Bewusstsein und in der affektiven Komplexität des Menschen, besonders in der Liebe: Er kann nicht einfach im Rhythmus der Natur ruhen. So verschränkt die Strophe kosmologische Ordnung mit psychischer Unordnung.
6. Poetische Ökonomie. Die Strophe operiert mit prägnanten Antithesen (Tag/Abend; Dämmerung/Morgenröte; Mensch/Tier), Personifikationen (Abendstern), Apostrophe (Anruf der Sterne), Enumeratio (Himmel–Luft–Sonne) und Hyperbel (Elend über das der Tiere hinaus). Diese Mittel steigern von der bloßen Zeitmarke (Abend) über die Weltbühne (Schauspiel) bis zur ontologischen Selbstentwertung (unter das Tier) – eine Affektkaskade, die das Pathos der Barockklage exemplarisch formt.
Kurzbilanz: Strophe 3 dramatisiert den Übergang vom Tag zur Nacht als kosmisches Gegenbild zur inneren Verdunkelung der liebenden Seele. Der Sprecher, von den Sternen befeindet, wird zum öffentlich ausgestellten Spielball, richtet seine Klage an die höchsten Sphären und endet in einer radikalen Anthropologie des Elends. In knapper, doch vielschichtig aufgeladener Sprache verbindet die Strophe astrologische Schicksalsidee, Theatrum-mundi, juridische Klagepose und Liebes-Pathos zu einem dicht gearbeiteten barocken Klagemodell.
Kein grimmes Tiger-Thier/ kein frecher Lew im Walde19
Gleicht der/ die mir geraubt die Freude meiner Tage/20
Und dennoch sieht mich treu und ohne Falsch die Sonne/21
Stets müde/ nimmer satt von Leid die Morgenröthe/22
Zum Zeichen/ daß der Leib zwar ist von schwacher Erde/23
Doch mein demantner Sinn sich gleicht dem Oel der Sternen.24
19 Kein grimmes Tiger-Thier/ kein frecher Lew im Walde
Analyse
1. Der eröffnet mit einer doppelten Negation über eine Vergleichsfigur: Kein … kein … schafft eine steigernde Parallelisierung. Tiger-Thier und Lew (archaisierend für Löwe) bilden ein Paar hyperbolischer Bestialität und Exotik, typisch barocke Emblematik für ungezügelte Gewalt.
2. Die Zäsur nach dem Schrägstrich betont den Alexandriner-Charakter und stellt die beiden Raubtiere als gereihte Exempla nebeneinander. Durch Alliterationsnähe (grimmes / Tiger-Thier, frecher / Lew) wird die phonetische Schärfe der Szene verstärkt.
3. Mit im Walde wird die Sphäre des Naturhaften markiert: der Schauplatz ist nicht urban-kulturell, sondern wild, wodurch das Bildfeld des Ungezähmten aufgebaut wird.
Interpretation
1. Der Sprecher bereitet eine Antithese vor: Selbst die extremsten Naturgewalten erscheinen als unzureichende Vergleichsgrößen. Das kündigt eine spätere Pointe an, in der ein menschlich-moralisches Übel als noch schlimmer ausgewiesen wird.
2. Die Hyperbel dient nicht bloß zur Klage, sondern moralisiert: Wenn schon das Tierreich für rohe Kraft steht, so wird sogleich impliziert, dass das menschliche Gegenüber (oder das Schicksal) die Grenze des Tierischen überbietet—ein barockes Motiv der Verkehrung (Peripetie der Werte).
3. Die exotische Fauna verleiht dem Schmerz eine emblematische Bildsprache: Abschatz schreibt im Register der Silesischen Rhetorik, die das Paradoxe und Übersteigerte liebt, um die Intensität des Affekts sichtbar zu machen.
20 Gleicht der/ die mir geraubt die Freude meiner Tage/
Analyse
1. Grammatisch steht der, die als frühneuhochdeutsche Fügung für derjenigen, die—der Relativsatz macht die Täterfigur weiblich lesbar, lässt sie aber zugleich ungenannt: das Subjekt wird nur durch seine Tat (den Raub der Freude) profiliert.
2. Der Dativ Gleicht der … knüpft syntaktisch an 19 an: Kein Tier gleicht jener Person. So entsteht der Kulminationspunkt der Vergleichsreihe: Das Ungeheuerlichste findet sich nicht in der Natur, sondern in diesem Du/Sie.
3. Die Temporalität meiner Tage weitet die Tat vom punktuellen Ereignis zur nachhaltigen Existenzstörung: Nicht ein einzelner Augenblick, sondern der gesamte Lebenslauf ist seines gaudium beraubt.
Interpretation
1. Die Täterin kann als untreue Geliebte, als Fortuna/Schicksal oder als allegorische Macht der Zeit gelesen werden; das absichtliche Verschweigen des Namens verschiebt den Fokus von der Person zur Wirkung: der totale Verlust der Lebensfreude.
2. Der Raubtopos kodiert Liebesschmerz als Enteignung des Selbst: Was genommen wird, ist nicht nur ein Gut, sondern der Grundrhythmus der Tage—ein barockes Vanitas-Anschlagen, bei dem Lust in Verlust umschlägt.
3. Der Satzbau steigert die Affektlage: Die Tiere sind nur Präfigurationen; das eigentliche Monstrum ist menschlich oder übermenschlich (allegorisch) und damit moralisch angreifbar—eine scharfe, implizite Anklage.
21 Und dennoch sieht mich treu und ohne Falsch die Sonne/
Analyse
1. Das adversative Und dennoch setzt eine Gegenwaage: Neben der menschlich-allegorischen Unzuverlässigkeit tritt die kosmische Verlässlichkeit der Sonne.
2. Personifikation und Ethikisierung: Die Sonne sieht und tut dies treu und ohne Falsch—sie wird zum moralischen Zeugen, ja zum Testis mundi.
3. Die Wortstellung (sieht mich … die Sonne) verschiebt das Subjekt ans Versende: das Auge fällt zunächst auf den Akt des Sehens und die Attribute treu/ohne Falsch, erst dann auf den Seher—eine kunstvolle Verzögerung, die die Tugendeigenschaften hervorhebt.
Interpretation
1. Kosmologie wird zu Ethik: Die Himmelsordnung bewahrt das, was die Menschen verletzen—Treue. Der Sprecher sucht in der Makrokosmen-Konstanz einen Trost, der im Mikrokosmos der Liebe versagt.
2. Das Blick-Motiv ist doppelt: Die Sonne sieht ihn, und dadurch wird sein Leid bezeugt und gültig—Klage erhält so eine Öffentlichkeit im Maßstab des Alls.
3. In barocker Gegensetzungslogik entsteht eine Umwertung des Maßstabes: Was unten treulos ist, bleibt oben wahrhaftig; der Sprecher richtet seine Loyalität an den Maßstäben des Himmels aus.
22 Stets müde/ nimmer satt von Leid die Morgenröthe/
Analyse
1. Wieder Personifikation: Die Morgenröthe erhält Affektqualitäten—stets müde und doch nimmer satt von Leid. Der Oxymoron-Zug (Müdigkeit vs. unersättliches Begehren) erzeugt barocke Paradoxspannung.
2. Temporalität als Figur: Die Morgenröte markiert Beginn und Wiederkehr; sie wird zum Taktgeber einer sich täglich erneuernden Leidenszeit.
3. Die Kadenzen stets/nimmer schaffen eine anaphorische Strenge; der klingt wie ein Lehrsatz über die Mechanik des Schmerzes.
Interpretation
1. Jeder Morgen bringt nicht Erquickung, sondern die Wiederaufnahme des Kummers; die Weltzeit ist müde, aber der Schmerz bleibt produktiv—ein Bild für die zermürbende, aber unendliche Reproduktion des Leids.
2. Das Paradox deutet auf den Kreislaufcharakter der Affekte: Erschöpfung schließt nicht die Begierde aus; vielmehr nährt Müdigkeit die Unersättlichkeit des Klagens—ein barocker Blick auf die Dynamik der Passion.
3. In Verbindung mit 21 ergibt sich ein doppelter Himmel: die Sonne als treu-wahrhaftige Konstante, die Morgenröte als Ermüdungs- und Leidensmotor; der Kosmos ist nicht homogen, sondern ambivalent.
23 Zum Zeichen/ daß der Leib zwar ist von schwacher Erde/
Analyse
1. Die Formulierung Zum Zeichen rahmt die vorangehenden Natur- und Himmelsbilder als emblematische Beweisführung: Es geht um ein Signum, eine lesbare Spur.
2. Leib vs. Erde aktualisiert die Anthropologie der Vergänglichkeit: Der Körper stammt vom Staub—klassischer Vanitas-Topos (Genesis-Anklang: Erde bist du…).
3. Das einschränkende zwar öffnet die antithetische Fortsetzung: Die Schwäche des Leibes ist nur die erste Hälfte der Wahrheit.
Interpretation
1. Der Sprecher ordnet sein Leiden in eine kosmisch-anthropologische Erkenntnis ein: Der Schmerz ist nicht bloß privat, sondern Ausdruck der Conditio humana.
2. Das Zeichen transformiert Erfahrung in Erkenntnis: Aus der täglichen Konfrontation mit Sonne und Morgenröte gewinnt er eine Lehre über Natur und Mensch.
3. Die Vorbereitung der Gegenbehauptung (zwar … doch) führt zur zentralen Selbstdefinition, die den Affekt moralisch adelt.
24 Doch mein demantner Sinn sich gleicht dem Oel der Sternen.
Analyse
1. Das adversative Doch bringt die Pointe: Gegen den schwachen Leib tritt der demantner Sinn—Demant (Diamant) als Emblem der Unzerbrechlichkeit und Reinheit.
2. Oel der Sternen evoziert frühneuzeitliche Naturphilosophie/Alchemie: das ätherische, unverderbliche Sternen-Öl als Quintessenz des Himmelslichts; zugleich eine Metapher für feinste, leuchtende Substanz.
3. Der Gleichsatz sich gleicht stellt nicht bloß Ähnlichkeit, sondern Wesensverwandtschaft her: Der innere Sinn partizipiert an der Sphäre des Inkorruptiblen.
Interpretation
1. Der Sprecher erklärt seine constantia—eine zentrale Tugend barocker Liebes- und Charakterethik. Was der Körper erleidet, widersteht der Sinn; er bleibt adamantin.
2. Durch die himmlische Metapher wird individuelle Treue auf eine kosmologische Stufe gehoben: Seine innere Haltung ist nicht psychologisch, sondern metaphysisch fundiert.
3. Der Gleichniszug krönt die Strophe: Nach Naturbildern (Raubtiere), kosmischen Zeugen (Sonne/Morgenröte) und anthropologischer Demut (schwacher Leib) folgt die heroische Selbstvergewisserung des Geistes—barocke Erhebung im Zeichen von Leid und Standhaftigkeit.
1. Architektur und Rhetorik: Die Strophe ist streng antithetisch gebaut: Von der negierten Naturgewalt (19) über die personalisierte Täterin (20) verschiebt sich der Blick auf die himmlischen Instanzen (21–22), um dann in einer emblematischen Lehre (23–24) zu münden. Die wiederholten Zäsuren markieren den Alexandriner und rhythmisieren die Argumentation. Hyperbel, Personifikation, Oxymoron und Emblematik sind die tragenden Figuren.
2. Affektlogik: Die Klage beginnt als Vergleich mit äußerster Bestialität und endet in einer Selbstadelung des Inneren. Leid fungiert als Prüfstein, an dem sich die Standhaftigkeit (demantner Sinn) nicht bricht, sondern bewährt. Diese Bewegung folgt barocker Affektökonomie: Übersteigerung → Kosmisierung → Moralisierung.
3. Kosmologische Dimension: Sonne und Morgenröte sind mehr als Kulissen; sie sind ethische Größen. Die Sonne bezeugt Treue, die Morgenröte perpetuiert das Leid—zwei Zielrichtungen derselben Weltzeit. Der Sprecher liest im Kosmos Zeichen, die seine Selbsterkenntnis strukturieren.
4. Anthropologie der Gegensätze: Leib/Erde vs. Sinn/Sterne formuliert die zentrale barocke Doppelnatur des Menschen: vergänglich im Physischen, potentiell unvergänglich im Tugendhaften. Die Pointe liegt nicht in der Überwindung des Leids, sondern in der bewahrten Integrität des Sinnes.
5. Liebesethische Pointe: Ob die Täterin eine Geliebte, Fortuna oder eine allegorische Macht ist, bleibt absichtlich unbestimmt; entscheidend ist die Negativfolie, vor der der Sprecher seine constantia amoris behauptet. Das Öl der Sterne als alchemisch-metaphysische Chiffre adelt diese Treue durch kosmische Verwandtschaft.
6. Barockes Weltgefühl: Die Strophe bündelt typische Züge der Epoche: Emblematische Bilder, moralische Zuspitzung, metaphysische Aufladung, Vanitas-Bewusstsein und das Ideal eines unzerbrechlichen, am Überhimmlischen ausgerichteten Inneren. Der persönliche Schmerz wird zur Bühne einer anthropologischen und kosmologischen Selbstbestimmung.
So zeigt Strophe 4 die Bewegung vom äußersten Bild der Wildheit über kosmische Zeugen zur Selbstvergewisserung eines demantnen Sinns: Aus der Erfahrung des Verlusts wächst keine Resignation, sondern die barocke Form der Treue—nicht im Leib, sondern im Sternen-verwandten Geist.
Ach könt ich/ eh der Geist sich setzet bey den Sternen/25
Eh sich mein Schatten findt im Elyseer-Walde/26
Geschieden von der Last/ die werden soll zur Erde/27
Genüssen ihrer Gunst! die Zeit von einem Tage28
Bringt funffzig Wochen ein/ ein Blick der Morgenröthe/29
Ein süsser Blick ist mir der Mittag heller Sonne.30
25 Ach könt ich/ eh der Geist sich setzet bey den Sternen/
Analyse
1. Die eröffnende Interjektion Ach markiert eine affektgeladene Exclamatio und setzt den Ton des sehnsüchtigen Wunsches; sie ist typisch für barocke Affektpoetik.
2. Der Optativ könt ich (konjunktivischer Wunsch) etabliert eine hypothetische, noch unerfüllte Möglichkeit. Damit wird ein konditionaler Erwartungshorizont aufgebaut, der erst in den Folgeverse ausformuliert wird.
3. Die caesurale Setzung / (nahelegt den Alexandriner mit Mittelzäsur) rhythmisert den in zwei semantische Blöcke: Wunsch (links) und Zeitbedingung (rechts).
4. Die temporale Partikel eh leitet eine Vor-Bedingung ein: bevor etwas Endgültiges geschieht. Inhaltlich wird mit Geist eine dualistische Anthropologie aufgerufen (Leib vs. Geist), die barocke Eschatologie spiegelt.
5. Das Bild sich setzet bey den Sternen verbindet christliche Transzendenzmetaphorik (Himmelsaufstieg) mit kosmischer Standortbestimmung; setzen trägt den Zug ruhiger Endgültigkeit.
Interpretation
1. Das lyrische Ich formuliert den dringenden Wunsch, noch zu Lebzeiten — also eh dem Tod — ein Ziel zu erreichen. Dieses Ziel ist emotional motiviert und wird später als Gunst der Geliebten bestimmt.
2. Geist … bey den Sternen deutet auf den postmortalen Zustand der Seele. Das Bild verleiht dem Wunsch Dringlichkeit: Die Zeit bis zur jenseitigen Ruhe ist knapp.
3. Die Stern-Metaphorik adelt die Sehnsucht: Sie steht nicht bloß unter sinnlicher, sondern unter metaphysischer Signatur; das Begehren ist in eine letzte Ordnung (die Sterne) eingebettet.
26 Eh sich mein Schatten findt im Elyseer-Walde/
Analyse
1. Das zweite Eh bildet eine anaphorische Parallelität und steigert die Dringlichkeit. Die Doppelung erzeugt rhetorische Balance und inhaltliche Intensivierung.
2. Schatten ist frühneuzeitlich ein geläufiges Lemma für die abgeschiedene Seele bzw. den schemenhaften postmortalen Zustand; zugleich erinnert es an die antiken Shades (σκιᾶι).
3. Elyseer-Walde ruft die klassische Mythologie auf (Elysium als selige Gefilde). Die Verbindung christlicher Stern-Metaphorik (V. 25) mit paganer Jenseitslandschaft (V. 26) ist ein bewusstes Synkretismus-Spiel der Barockdichtung.
4. Der Reflexivgebrauch findt sich legt eine teleologische Ruhe nahe: Nach Umherirren findet der Schatten seinen Ort.
Interpretation
1. Die zweite, pagane Jenseitsfigur ergänzt die erste christliche und erzeugt ein doppeltes Transzendenzpanorama. Das vergrößert die Reichweite des Begehrens: Es will vor allen Jenseitsmodellen erfüllt sein.
2. Die Schattentopik transportiert Vanitas: Der Mensch wird zum Schatten, sein Leib verliert Kontur. Darin liegt die Mahnung, die irdische Zeit zu nutzen.
3. Poetologisch zeigt sich das barocke Spiel mit Emblemen: Stern (Himmel), Wald (Elysium), Schatten (Seele) werden ikonisch kombiniert, um den Affekt des Drängens zu schichten.
27 Geschieden von der Last/ die werden soll zur Erde/
Analyse
1. Geschieden setzt den Dualismus leib-geistlich fort: Tod als Trennung.
2. Last charakterisiert den Leib als beschwerendes, schweres Element; die caesurale Trennung akzentuiert die Abwurfbewegung.
3. die werden soll zur Erde paraphrasiert Gen 3,19 (Erde bist du…): Rückkehr des Leibes zum Staub. Das Futur (soll) markiert eschatologische Gewissheit, nicht bloße Möglichkeit.
Interpretation
1. Das Ich entfaltet eine klare memento-mori-Logik: Der Leib fällt an die Erde zurück, der Geist/Schatten geht in transzendente Sphären.
2. Diese Gewissheit begründet die Dringlichkeit des folgenden Begehrens um Gunst: Gerade weil das Ende bestimmt ist, muss das Jetzt intensiviert werden.
3. Die ethische Valenz: Last wertet den Körper nicht ab, sondern funktionalisiert ihn rhetorisch, um die Zeitknappheit affektiv spürbar zu machen.
28 Genüssen ihrer Gunst! die Zeit von einem Tage
Analyse
1. Genüssen ihrer Gunst! ist als Ausruf in die laufende Syntax eingesetzt: Ein emphatisches Prädikat-Substantiv, das den Wunschinhalt explizit benennt.
2. ihrer verweist auf die Geliebte (im Zykluskontext ein weiblicher Du-Pol); Gunst ist höfisch-galante Kategorie (gnädige Zuwendung, Blick, Gnade), die zwischen erotischer Geste und sozialem Code oszilliert.
3. Der nachgestellte Relativsatz-ähnliche Einschnitt die Zeit von einem Tage hebt auf Zeitökonomie ab; er bereitet die Hyperbel des nächsten Verses vor.
Interpretation
1. Der gesamte Vorlauf (V. 25–27) kulminiert in der Benennung des Ziels: Das Ich will die Genüsse der Gunst der Geliebten vor dem Tod erfahren.
2. Gunst verbindet caritas- und fortuna-Semantik: Liebe als freigebige Gabe, deren Gewährung die Zeitqualität verändert.
3. Poetisch wird der Affekt konkretisiert: Nicht abstrakte Seligkeit, sondern reale Zuwendung der Geliebten ist die erbetene Erfüllung.
29 Bringt funffzig Wochen ein/ ein Blick der Morgenröthe/
Analyse
1. Bringt … ein (einbringen) ist ökonomische Metaphorik: Zeit wird wie Kapital verzinst. Ein Tag bringt den Ertrag von funffzig Wochen—eine massive Hyperbel.
2. Die Zahl funffzig nähert sich einem Jahr (52 Wochen) und wirkt dadurch semantisch fast-jährig: ein Tag wird zur fast-jährigen Fülle.
3. ein Blick der Morgenröthe verschiebt vom Chronos (Kalender) zum Kairos (qualitative Zeit): Der Blick ist das Ereignis, das die Zeit dehnt. Morgenröte (Aurora) symbolisiert Beginn, Hoffnung, Erneuerung.
Interpretation
1. Liebe als Zeit-Transsubstantiation: Ein einziger Tag in Gunst verwandelt sich in lange Dauer; ein einziger Blick bei Tagesbeginn lädt die gesamte Zeit mit Sinn auf.
2. Die Morgenröte als Schwellenmoment meint den ersten, verheißenden Blick: Schon der Anfang trägt Überschuss.
3. Das barocke Carpe-Diem-Ethos erscheint veredelt: Nicht beliebiger Genuss, sondern der graciöse Blick der Geliebten macht die Zeit fruchtbar.
30 Ein süsser Blick ist mir der Mittag heller Sonne.
Analyse
1. Parallelismus zum vorigen (Blick → Blick): anaphorische Verstärkung, nun gesteigert vom Morgen zur vollen Zenith-Helle.
2. Die Gleichsetzung ist mir der Mittag setzt eine Metapher der Perfektion: Mittag = Kulminationspunkt der Leuchtkraft, Fülle der Erscheinung.
3. heller Sonne schließt den Tageszyklus-Topos: vom Morgen (V. 29) zum Mittag (V. 30). Klanglich runden die hellen Vokale (süsser, heller, Sonne) die Helligkeitssemantik ab.
Interpretation
1. Der süße Blick der Geliebten ist für das Ich gleichbedeutend mit dem höchsten Lichtstand: Er ist Fülle, Klarheit, Erfüllung.
2. Poetisch entsteht eine Intensitätskurve: Hoffnung (Morgen) → Erfüllung (Mittag). Somit erhält der Wunsch aus V. 25–28 eine sinnliche Teleologie.
3. Die Lichtsymbolik erhebt das Erotische ins Theoretische: Erkenntnis- und Liebeslicht fallen zusammen; die Geliebte wird zum Medium einer höchsten Evidenz.
Der lichten Augen Paar läst hinter sich die Sonne/31
Der Sternen-Himmel prangt mit diesen Angel-Sternen/32
Der Rosen-Wangen Zier beschämt die Morgenröthe/33
Der süssen Stimme Schall die Nachtigall im Walde/34
Wer schäzte nicht mit Ihr beseligt seine Tage!35
Ach aber/ was verlangt der leichte Staub der Erde?36
31 Der lichten Augen Paar läst hinter sich die Sonne
Analyse
1. Der eröffnet eine vierfache Anaphernreihe (Der … / Der … / Der … / Der …), die wie ein barocker Blason einzelne Körperattribute herausstellt.
2. Mit der Hyperbel lässt hinter sich die Sonne wird ein kosmischer Vergleich bemüht: Das Augenpaar überstrahlt den hellsten Himmelskörper. Das ist eine typische Petrarkismus-Topik, die das Liebesobjekt über Naturgrößen erhebt.
3. Grammatisch ist die Konstruktion schlicht parataktisch, aber semantisch überdeterminiert: lichten Augen Paar bündelt Lichtmetaphorik; Paar betont symmetrische Doppelung (Augen als Zwillingssterne).
4. Klanglich häufen sich helle Vokale (i/e/o), die die Lichtsemantik stützen; das fließende /l/ in lichten, lässt, Sonne unterstützt einen weichen, leuchtenden Ton.
Interpretation
1. Die Geliebte wird als Lichtquelle imaginiert, die selbst die Sonne zurücklässt—eine Überhöhung, die auf Idealiserung und affektive Überwältigung des Sprecher-Ichs zielt.
2. Indem die Augen die Sonne übertreffen, verschiebt der den Referenzrahmen vom Irdischen ins Kosmische: Liebe erscheint als kosmologisch wirksame Kraft.
3. Die Symmetrie der zwei Augen modelliert Harmonie und Ordnung; sie fungieren als Achse, um die sich der Blick des lyrischen Ichs dreht.
4. Im Subtext schwingt ein religiös-ästhetischer Unterton mit: Licht als Chiffre des Göttlichen, wodurch die erotische Schönheit in eine quasi-sakrale Aura getaucht wird.
32 Der Sternen-Himmel prangt mit diesen Angel-Sternen
Analyse
1. Der Vergleich wird gesteigert: Nicht nur die Sonne, auch der ganze Sternen-Himmel wird zum Rahmen—und prangt (prunkvoll glänzt) dank der Augen der Geliebten.
2. Das Kompositum Angel-Sternen ist doppeldeutig: Angel kann als Angelhaken gelesen werden (Augen als Haken, die Herzen fangen), zugleich klingt Engel- an (Augen als engelsgleiche Sterne). Barocke Wortspiele lieben solche Equivoque.
3. Die Alliteration Sternen-Himmel … Sternen bündelt die Semantik des Funkelns; prangt setzt einen repräsentativ-prachtvollen, höfischen Glanzakzent.
4. Die syntaktische Parallelität zu V. 31 stabilisiert die Aufzählungsstruktur eines Blasons.
Interpretation
1. Die Augen erhalten kosmische Qualität: Sie sind nicht nur heller als die Sonne, sie schmücken den Kosmos selbst—eine ontologische Aufwertung der Geliebten zur Weltmitte.
2. Liest man Angel-Sterne als fangende Sterne, wird Liebe als Jagd/Fischerei gedacht: Der Blick der Geliebten hakt das Herz des Dichters.
3. Liest man Engel-Sterne, verschiebt sich der Akzent auf Transzendenz und Unschuld; Erotik wird sublimiert.
4. So oder so: Der verschränkt Eros und Kosmos, Sinnlichkeit und Überirdisches, in einer typischen barocken Emblematik.
33 Der Rosen-Wangen Zier beschämt die Morgenröthe
Analyse
1. Wechsel vom Blick (Augen) zum Teint (Wangen): der Blason schreitet körperlich fort. Rosen-Wangen reaktiviert das klassische Rosa-Topos.
2. Beschämt die Morgenröte ist ein anthropomorpher Affekttransfer: Die Natur (Aurora) wird zum empfindenden Gegenpart, der angesichts der Geliebten errötet—und doch beschämt ist.
3. Das Prädikat beschämt markiert den Höhepunkt der Überbietungslogik: Selbst die paradigmatische Schönheit der Morgenröte versagt.
4. Klanglich korrespondieren die sonoren /r/- und hellen /o/-Laute der Rosen-Wangen mit der Morgenröte: ein bewusst gestalteter Binnenklang.
Interpretation
1. Die Schönheit der Geliebten wird zum Normmaß, dem die Natur unterliegt. Das Umwerten von Vor-Bild (Morgenröte) und Ab-Bild (Wange) ist poetische Dominanzbehauptung.
2. Beschämen hat eine moralische Nuance: Die Geliebte erscheint nicht nur schöner, sondern würdiger.
3. Indem die Morgenröte errötet, entsteht ein Spiegelungseffekt: Die Natur nimmt die Farbe der Geliebten an—ästhetische Theologisierung der Welt.
4. Der hält die Balance zwischen Sinnesnähe (Wange als Körperzone) und mythischer Höhe (Aurora), ein barockes Signum.
34 Der süssen Stimme Schall die Nachtigall im Walde/
Analyse
1. Der Satz ist elliptisch; das Prädikat (übertrifft/beschämt) ist gegenüber V. 33 mitgedacht. Die Reihe der Überbietungen (Sonne, Sterne, Morgenröte) mündet in das akustische Feld.
2. Mit süssen Stimme Schall wird phonetische Weichheit (s-Zischlaute) ikonisch nachgeahmt; die Nachtigall ist das klassische Emblem der Liebesklage und des Wohlklangs.
3. Die Naturreferenz im Walde erdet kurz die hochgestimmte Kosmik der Vorverse, bleibt aber Bühne für die Hierarchisierung.
4. Der Übergang vom Visuellen (Augen, Wangen) zum Auditiven (Stimme) rundet den Blason multisensorisch ab.
Interpretation
1. Selbst das Sinnbild vollendeten Gesangs muss zurückstehen: Die Geliebte ist Maß aller Klangschönheit.
2. Das Lob der Stimme verschiebt Begehren in den Bereich der Sprache: Die Macht der Geliebten liegt nicht nur im Aussehen, sondern im performativen Sprechen/Singen—ein Hinweis auf soziale/höfische Kommunikationsmacht.
3. Der Wald als Ort der Nachtigall evoziert Naturidylle, die vom Kultur-/Hofklang der Geliebten übertönt wird; Kultur triumphiert über Natur.
4. Insgesamt kulminiert hier die Ästhetisierung: Sehen, Erröten, Hören—alle Sinne sind gebannt.
35 Wer schäzte nicht mit Ihr beseligt seine Tage!
Analyse
1. Rhetorische Frage mit Exclamatio; sie fungiert als affektiver Drehpunkt und verallgemeinert das zuvor gesagte.
2. schäzte (historische Orthographie) steigert die Wertsemantik; beseligt markiert ein religiös angehauchtes Glücksregister.
3. Der löst die Aufzählung in eine adressatenbezogene Bindung: Das Wer … nicht sucht Zustimmung als Konsensangebot.
4. Die Syntax ist nun nicht mehr genitivisch-konstruierend wie in V. 31–34, sondern direkt auf die Lebensführung (seine Tage) gerichtet.
Interpretation
1. Das lyrische Ich erweitert die subjektive Schwärmerei zur objektiven Gültigkeit: Jeder würde, ja müsste mit ihr seine Tage als gesegnet erachten.
2. Beseligung verschiebt Eros ins Soteriologische: Die Geliebte wird zur Quelle seligmachender Erfahrung—ein poetischer Grenzgang zur Vergeistigung.
3. Der ist performativ: Er verführt den Leser zur Bejahung und spannt damit ein kollektives Begehren auf.
4. Gleichzeitig kündigt die gesteigerte Emphase die bevorstehende Korrektur an: Je höher die Emphase, desto stärker kann die barocke Ernüchterung wirken.
36 Ach aber/ was verlangt der leichte Staub der Erde?
Analyse
1. Mit Ach aber erfolgt eine schroffe Volte: Exclamatio + adversative Partikel leiten eine Vanitas-Korrektur ein.
2. leichte[r] Staub der Erde zitiert biblisch-anthropologische Memento-mori-Formeln (Gen 3,19): der Mensch als vergängliche, vom Wind verwehbare Materie. Leicht bezeichnet Unwucht, Geringwertigkeit und epistemische Unzuverlässigkeit.
3. Die rhetorische Frage kehrt die vorangegangene (Wer schätzte nicht …) ins Gegenteil: Statt positiver Verallgemeinerung nun skeptische Selbstbefragung.
4. Semantisch entsteht ein Antagonismus: kosmische Überhöhung (V. 31–35) vs. irdische Erniedrigung (V. 36).
Interpretation
1. Der Sprecher bricht die Hybris des Liebeslobs: Wenn der Mensch Staub ist, ist sein Verlangen prekär—es zielt womöglich falsch, ist vergänglich, richtet sich auf Eitles.
2. Die Frage kann doppelt gelesen werden: (a) kritische Selbstzucht (Was steht einem Staubwesen zu, so hoch zu verlangen?) und/oder (b) teleologische Umsteuerung (Worauf sollte Staub eigentlich verlangen? Auf Höheres als irdische Schönheit).
3. Damit wird die zuvor sakral angehauchte Ästhetik auf ihre theologische Probe gestellt: Ist die Geliebte Idol oder Ikone? V. 36 mahnt, nicht am Geschöpf zu verabsolutieren.
4. Der barocke Strukturzug elevatio–deiectio tritt klar hervor: Nach ekstatischer Erhöhung folgt demütige Ernüchterung.
1. Form und Topik: Die Strophe entfaltet einen klassischen barocken Blason: Augen, Sterne, Wangen, Stimme—jede Sinnesqualität der Geliebten überbietet ein Natur- oder Kosmos-maß. Die anaphorische Serie Der … / Der … / Der … schafft einen litaneiartigen Duktus, der Emphase und Pracht (prangen) verbindet. Ellipsen (V. 34) zeigen barocke Kunstmittel, die den Parallelismus dynamisieren.
2. Steigerungslogik: Es liegt eine graduelle Eskalation vor: von der Sonne (singulär) zum Sternenhimmel (plural/kosmisch), zur Morgenröte (mythisch-metaphorisch), schließlich zur Nachtigall (akustisch-ikonisch). Der Bewegungsvektor geht vom Astral-Makrokosmos über Naturmetaphern zum kultivierten Klang—immer endet er in der Überbietung durch die Geliebte.
3. Ambivalente Sakralisierung: Die Licht- und Sternentopik, die Beseligung und die mögliche Doppellesung von Angel-Sternen (Haken/Engel) spiritualisieren Erotik, ohne sie zu entleiben. Das Gedicht demonstriert barocke Doppelperspektive: Sinnliche Schönheit erscheint als Durchschein des Überirdischen—und zugleich als Gefahr der Verabsolutierung.
4. Affektrhetorik und Kollektivierung: Mit der rhetorischen Frage in V. 35 verallgemeinert der Sprecher sein Begehren; er sucht ein wir der Anerkennung und lädt zur affektiven Zustimmung ein. Das ist mehr als Privatgeständnis: Es ist ein sozialer Geltungsanspruch der Schönheit.
5. Vanitas-Korrektur (Volte): V. 36 setzt die barock notwendige Gegenkraft: Ach aber entwertet die Hybris des Eros, erinnert an die Conditio humana als Staub. Die Frage lässt das vorausgehende Loblied nicht einfach fallen, sondern rahmt es moralisch-theologisch: legitimer Glanz—aber unter dem Vorbehalt der Vergänglichkeit und der rechten Ausrichtung des Verlangens.
6. Wirkungseinheit: Gerade der Kontrast macht die Strophe: Die vorherige kosmische Inszenierung gewinnt ihren Ernst erst durch die memento-mori-Zäsur; umgekehrt erhält die Vanitas-Frage ihr Gewicht, weil zuvor die Schönheit als weltordnende Kraft imaginiert wurde. So entsteht eine barocke Dialektik von Erhebung und Demut, von Kunstprunk und existenzieller Besinnung.
7. Ergebnis: Die Strophe zeigt, wie höfisch-galantes Liebeslob und barocke Religiosität nicht Gegensätze, sondern komplementäre Bewegungen sind: Die Geliebte erscheint als Prisma, das Kosmos und Klang, Natur und Kultur bündelt—doch am Ende steht die Selbstbefragung des Menschen als Staub, die das Begehren diszipliniert und auf ein überzeitliches Maß zurückführt.
Mich decket in der Erd ein dünnes Brett vom Walde/37
Eh mir so süssen Tag vergönnen Glück und Sternen/38
Eh mir die Morgenröth erscheint von dieser Sonne.39
37 Mich decket in der Erd ein dünnes Brett vom Walde
Analyse
1. Die Satzstellung rückt das persönliche Pronomen Mich an den Beginn und erzeugt so eine sofortige Betroffenheit: Nicht ein Brett oder die Erde, sondern das Ich steht vorn, wodurch der Vers als subjektive Todesantizipation gelesen wird. Das Prädikat decket folgt unmittelbar, die eigentlich semantisch zentrale Subjektgruppe (ein dünnes Brett vom Walde) erscheint verzögert—eine stilistische Inversion, die den Eindruck eines bereits über das lyrische Ich herniedergehenden Abschlusses verstärkt.
2. Lexikalisch arbeitet der Vers mit einer drastischen, zugleich nüchternen Periphrase für den Sarg: ein dünnes Brett vom Walde. Die Materialität (Brett), die Schlichtheit (dünnes) und der Herkunftshinweis (vom Walde) entmythologisieren das Sterben; an die Stelle von Pracht, Stand oder Ritual tritt das rohe Holz. Das ist barocke humilitas in Reinform.
3. in der Erd (verkürzte Form von Erde) und die ganze Bildgruppe rufen das Memento-mori-Inventar auf. Die knappe, raue Dingrede (Brett, Wald, Erd) verdichtet Vanitas-Semantik ohne Zier, eher als sachlicher Totenschein denn als elegisches Lamento.
4. Klanglich fallen die harten Plosive und Dentale (decket, dünnes, Brett) auf; sie rhythmisieren den Vers wie Hammerschläge und unterstreichen das endgültige Zuschlagen eines Sargdeckels. Das Walde am Versende öffnet das Bild zugleich ins Archaisch-Natürliche: Das Ende des Menschen ist in den Kreislauf des Naturstoffes eingeschrieben.
Interpretation
1. Der Vers setzt einen Nullpunkt: Noch bevor ein Wunsch oder eine Hoffnung ausgesprochen wird, entwirft die Stimme ihr eigenes Begräbnis. Das ist nicht nur Vanitas, sondern eine programmatische Selbsterniedrigung, aus der die folgenden Eh…-Sätze ihre Schärfe gewinnen.
2. Das dünne Brett schafft eine paradoxe Nähe und Distanz: Es trennt den Toten von der Welt, ist aber so dünn, dass die Lebendigkeit der Welt jenseits davon geradezu fühlbar bleibt. So entsteht rhetorisch die Bühne für das, was verfehlt wird.
3. vom Walde deutet eine Ent-Adelung des Todes an: Kein schweres Eichenprunkstück, sondern das einfache Holz der Natur. Der Ton ist existenziell-demütig, nicht repräsentativ; das Ich rechnet mit einem schmucklosen Ende.
4. In der Logik des Zyklus (mythisch-florale Signaturen um Anemone/Adonis) tritt hier die Natur als nüchterner Lieferant des Sargmaterials auf—ein bittere Pointe gegen jede mythologische Verklärung: Die gleiche Natur, die blühen lässt, deckt auch zu.
38 Eh mir so süssen Tag vergönnen Glück und Sternen
Analyse
1. Der Temporalsatz mit Eh (Ehe) baut eine starke Voranstellung des Zeitverhältnisses auf: Bevor etwas Gutes geschieht, ist bereits der Tod gesetzt. Die syntaktische Inversion (Eh mir … vergönnen Glück und Sternen) legt das Dativobjekt mir und das Objekt so süssen Tag in den Vordergrund; die Agensgruppe (Glück und Sternen) folgt nach.
2. so süssen Tag verknüpft Empfindungssemantik (süss) mit Zeitsemantik (Tag) und erzeugt eine emphatische Wunschmetapher: Der erhoffte Erfüllungsmoment wird als ganzer Tagesbogen imaginiert.
3. Glück und Sternen personifiziert zwei barock zentrale Kräfte—Fortuna und das astrologische Fatum. Pluralisch gekoppelt wirken sie überpersönlich und kosmisch; das Verb vergönnen (konzedieren, gewähren) markiert die Unterworfenheit des Subjekts.
4. Die semantische Bewegung geht vom Intimen (mir, süssen Tag) zum Übergeordneten (Glück, Sternen). Dadurch spannt der Vers eine Achse zwischen privatem Begehren und kosmischer Verfügung, typisch barocke Perspektivverschiebung.
Interpretation
1. Der Sprecher rechnet fest damit, dass die übergeordneten Mächte ihm den süssen Tag nicht mehr gewähren werden; der Vers fungiert als negativer Heilszuspruch: Das, was erfüllt, bleibt aus.
2. In Liebessemantik gelesen, meint süsser Tag den Tag der Gegengunst, des Zusammentreffens, vielleicht gar der legitimen Vereinigung; sozial gelesen könnte er der Tag des Glückswandels sein. In beiden Fällen wird die Erfüllung nicht individueller Tat, sondern Gunst von Glück und Sternen zugeschrieben.
3. Der Vers steigert damit die Tragik des Vorhergehenden: Nicht nur der Tod, sondern auch die kosmische Verweigerung strukturieren die Zukunft. Das Subjekt steht doppelt blockiert—von unten her (Erde/Brett) und von oben her (Sterne/Glück).
4. Poetologisch schließt der Vers an barocke Weltdeutung an, in der astrologische Signaturen das individuelle Schicksal markieren. Der Gestus bleibt dennoch persönlich-resignativ, nicht fatalistisch-dogmatisch: Er bittet nicht mehr; er konstatiert.
39 Eh mir die Morgenröth erscheint von dieser Sonne.
Analyse
1. Der zweite Eh-Einsatz erzeugt eine anaphorische Parallelstruktur zu Vers 38 und bindet den Schlussvers als zweite, noch konkretere Verfehlung: Vor dem Eintreten des ersten Lichts wird der Sprecher schon bedeckt sein.
2. Morgenröth ist ein klassisches Bild für Aufbruch, Hoffnung und Beginn; zugleich evoziert es Farben (Rötung, Glühen), die in Liebespoesie als Erröten/Erblühen codiert sind.
3. von dieser Sonne enthält ein deiktisches Element (dieser), das auf einen zuvor im Gedichtzyklus etablierten Sonnen-Topos verweist—zumeist die Geliebte als Sonnenmetapher. Grammatisch markiert von die Herkunft: Die Morgenröte kommt von dieser Sonne.
4. Der Vers verschiebt die Makromächte aus V. 38 (Glück/Sterne) auf eine singuläre, personalisierte Lichtquelle: Die Sonne als Gegenbild zur Erde, die Geliebte als Souveränin des Tages. Der Schluss auf Sonne bringt höchste Helligkeit genau dort ins Versende, wo inhaltlich der Eintritt dieser Helligkeit verweigert wird—eine kunstvolle Antiklimax mit bitterem Glanz.
Interpretation
1. In der Liebesallegorie bedeutet der Vers: Der Sprecher wird sterben, ehe ihm auch nur die Dämmerung der Gunst der Geliebten aufgeht. Morgenröte ist das Minimum an Licht, die erste Verheißung—nicht einmal diese wird ihm zuteil.
2. Religions- bzw. heilsgeschichtlich konnotiert, lässt Morgenröte an Anbruch des Heils, Auferstehung, Gnade denken; in barocker Doppeldeutigkeit kann Sonne auch Christus bezeichnen. Der Vers lebt von dieser Schwebelage zwischen profaner und sakraler Lichtsemantik, hält jedoch in der Zykluslogik (Adonis/Anemone) die amouröse Lesart vorn.
3. Poetisch schließt der Vers den Spannungsbogen der drei Zeilen: Erde (Grab) – Kosmos (Sterne) – Sonne (liebendes Zentrum). Der Tod kommt, bevor die Ordnung von oben nach unten wieder aufhellen kann.
4. Das demonstrative dieser bindet die Zeile intertextuell an Vorstrophen: Es setzt Wiedererkennen voraus—der Schluss wirkt dadurch wie das endgültige, dunkle Gegen-Epilog einer zuvor aufgebauten Metaphorik.
Diese Schlussstrophe (Vv. 37–39) ist architektonisch als dreistufige Verfehlungslogik gebaut: Zuerst der konkrete, materialistische Tod (ein dünnes Brett vom Walde), dann die kosmische Verweigerung (Glück und Sternen), schließlich die personale Lichtquelle, deren erstes Zeichen (Morgenröth) nicht mehr aufgehen wird. Zwei anaphorische Eh-Konstruktionen binden die Zeilen eng zusammen und erzeugen eine unerbittliche Vorzeitigkeit: Alles, was Leben, Tag, Beginnen heißt, kommt zu spät. Die Bildfelder sind bewusst kontrastiv gesetzt: Erd vs. Sonne, Brett vs. Morgenröth, dumpfe Materialität vs. aufstrahlendes Licht. In der barocken Semantik ergibt sich so eine starke Vanitas-Kadenz: Das Ich steht zwischen dem niederziehenden Gewicht der Erde und der entzogenen Helle des Himmels.
Poetologisch ist die Strophe ein Beispiel für barocke Dingrede (konkrete, entzaubernde Nennung des Sargmaterials) gepaart mit hochsymbolischer Lichtrede (Sonne, Morgenröte). Die Syntax mit Inversionen und Voranstellungen zwingt den Leser in die zeitliche Logik des Verpassten: Der Tod ist früher als Gunst, früher als Glück, früher als die erste Röte. Innerhalb des Zyklus Anemons und Adonis Blumen verstärkt diese Strophe die tragische Dialektik von Natur und Schicksal: Die Natur liefert sowohl Blüte als auch Brett; der mythopoetische Glanz (Adonis/Sonne/Morgenröte) bleibt als verwehrte Verheißung stehen. Damit schließt die Strophe das Sprechen in einer Haltung bitterer Demut: Die Welt wäre lichtfähig, die Liebe bild- und farbfähig—doch der Zeitpunkt des Lichts fällt nicht mehr mit dem der Existenz zusammen.
1. Exposition in Naturbeobachtung (V. 1–6)
Das Gedicht beginnt mit einer kosmischen und zoologischen Ordnung: Jedes Tier folgt dem Rhythmus der Natur – am Tag Arbeit, in der Nacht Ruhe. Dies wirkt zunächst wie ein Naturgesetz, das die poetische Reflexion vorbereitet. Die Beobachtung des Tieres dient als Kontrastfolie zum sprechenden Ich.
2. Kontrast zwischen Naturordnung und lyrischem Ich (V. 7–12)
Anstatt wie die Tiere zu ruhen, reagiert das Ich auf den Beginn des Tages mit Klage, Seufzen und Tränen. Die Morgenröte, die die Finsternis vertreibt, wird nicht als Hoffnung, sondern als Anstoß neuer Qual erfahren. Hier tritt die eigentliche Spannung des Gedichts hervor: die Weltordnung und das individuelle Leiden sind nicht deckungsgleich.
3. Anrufung der Gestirne und Klage an die kosmische Ordnung (V. 13–18)
Mit dem Erscheinen des Abendsterns intensiviert sich die Klage. Die Gestirne selbst erscheinen als feindliche Mächte, die das Ich zum Spiel und Schauspiel aller Erde gemacht haben. Die Natur wird nicht mehr als neutral, sondern als antagonistisch gedeutet.
4. Vergleich mit wilden Tieren und Behauptung der Treue des Ich (V. 19–24)
Selbst die grausamsten Tiere erscheinen weniger bedrohlich als der Verlust der Geliebten. Zugleich behauptet das Ich, dass seine innere Konstanz (der demantner Sinn) das Irdische übersteigt und sich den Sternen angleicht. Damit wird eine paradoxe Spannung aufgebaut: totale Schwäche des Körpers, aber unerschütterliche Festigkeit des Geistes.
5. Sehnsucht nach Vereinigung vor dem Tod (V. 25–30)
Das Ich wünscht, noch vor dem endgültigen Eintritt in die jenseitige Welt (Elyseer-Walde) einen Blick der Geliebten zu erhaschen. Der Moment der Gunst, selbst wenn er kurz wäre, würde Jahrhunderte von Leid übertreffen. Damit wird die Intensität des Begehrens in ein metaphysisches Maß überführt.
6. Idealbild der Geliebten als kosmisches Zentrum (V. 31–35)
Die Schönheit der Geliebten übertrifft Sonne, Sterne, Morgenröte und Nachtigall. Hier kulminiert die Überhöhung: die Geliebte erscheint als Zentralgestirn, das die gesamte Schöpfung überstrahlt. Der Aufbau erreicht seinen Höhepunkt in der totalen Poetisierung des Du.
7. Schluss in Resignation und Todesahnung (V. 36–39)
Doch das Finale kippt: das Ich erkennt, dass es vom leichten Staub der Erde begrenzt ist. Noch bevor die ersehnte Vereinigung möglich wird, wird es vom Tod (ein dünnes Brett vom Walde) bedeckt sein. Der Schlusspunkt ist ein tragischer: die Morgenröte der Geliebten wird dem Ich auf dieser Erde nicht mehr erscheinen.
1. Grundstruktur des Leidens
Das Gedicht entfaltet die Psychologie einer unerfüllten Liebe, die das gesamte Bewusstsein beherrscht. Die Diskrepanz zwischen kosmischer Ordnung (Tag/Nacht) und subjektiver Erfahrung (Trauer, Sehnsucht) erzeugt ein Gefühl der Entfremdung.
2. Steigerung von Melancholie zu Verzweiflung
Während die Tiere Ruhe finden, bleibt das Ich rastlos. Die nächtliche Klage, die Anklage gegen die Gestirne und die obsessive Erinnerung an die Geliebte bilden eine Spirale zunehmender Verzweiflung.
3. Ambivalenz zwischen Stolz und Selbstvernichtung
Psychologisch bemerkenswert ist die Spannung zwischen Selbstüberhöhung (demantner Sinn) und tiefer Selbstabwertung (leichter Staub der Erde). Das Ich oszilliert zwischen heroischer Behauptung innerer Treue und fatalistischer Resignation.
4. Eros als obsessives Zentrum
Die Geliebte wird nicht nur als begehrtes Gegenüber, sondern als existentieller Fixpunkt erlebt. Ihre Abwesenheit verwandelt das Leben in reine Qual, ihre mögliche Gegenwart wird als Erlösung imaginiert. Dieses psychologische Muster weist Züge pathologischer Fixierung auf.
1. Kritik am Maßlosen Begehren
Ethisch wird das Gedicht zu einem Dokument ungebändigter Leidenschaft, die alle natürlichen und göttlichen Ordnungen außer Kraft setzt. Das Ich ordnet sein Dasein völlig der Sehnsucht nach der Geliebten unter.
2. Selbstvergessenheit als ethisches Problem
In der barocken Tradition gilt die völlige Selbstaufgabe an ein irdisches Objekt als gefährlich, da sie von der höheren Ordnung (Gott, Transzendenz) ablenkt. Der Sprecher überschreitet dieses Maß, indem er die Geliebte über Sonne, Sterne und Schöpfung stellt.
3. Tragik als moralische Warnung
Die Schlusspointe – Tod vor Erfüllung – kann auch als moralische Mahnung gelesen werden: wer sein Heil allein im Irdischen sucht, findet statt Erfüllung nur das Grab. Der Text enthält also eine implizite ethische Reflexion über Vergänglichkeit und Maßlosigkeit.
1. Zeitlichkeit vs. Ewigkeit
Das Gedicht kontrastiert den Rhythmus der Natur (Tag/Nacht, Sternenlauf) mit dem subjektiven Empfinden der Zeit. Ein Blick der Geliebten wiegt funffzig Wochen. Hier tritt eine theologische Frage hervor: wie verhält sich menschliches Leiden zur Ewigkeit? Das Irdische erscheint unverhältnismäßig verlängert, die Ewigkeit unerreichbar.
2. Kosmologische Ordnung und anthropologische Ausnahme
Die Tiere fügen sich in den Lauf der Schöpfung, das Ich hingegen rebelliert. Theologisch spiegelt dies das barocke Menschenbild: der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern auch Geistwesen, das Leiden intensiver erfährt und reflektiert.
3. Die Gestirne als feindliche Mächte
Sterne, Sonne, Mond erscheinen im Gedicht ambivalent: einerseits als Naturkräfte, andererseits als personale Mächte, die das Ich verfolgen. Dies erinnert an das frühneuzeitliche Empfinden einer von Fortuna oder Schicksal bestimmten Welt – im Kontrast zur christlichen Vorsehung.
4. Eros und Transzendenz
Die Überhöhung der Geliebten ins Kosmische ist mehr als poetische Rhetorik: sie ersetzt die Gottesmetaphorik durch eine Theologie der Liebe. Philosophisch liegt hier ein Übergang vom christlich-theologischen Weltbild zur säkularisierten, anthropozentrischen Ordnung: die Geliebte wird zum höchsten Wert, eine Art irdischer Gottheit.
5. Memento mori und Erlösungssehnsucht
Der Schluss führt zurück zur barocken Vanitas-Theologie. Trotz der Überhöhung des Eros bleibt die letzte Wahrheit: der Mensch ist Staub, dem Tod verfallen. Der ersehnte Augenblick der Erfüllung wird wahrscheinlich erst im Jenseits gewährt – aber auch dies bleibt ambivalent: ob es dort eine Vereinigung gibt, bleibt offen.
1. Das Gedicht entfaltet eine Gegenüberstellung zwischen der natürlichen Ordnung der Tiere und der existenziellen Unruhe des Menschen. Während jedes Tier mit dem Rhythmus von Tag und Nacht harmoniert, zeigt der Sprecher eine Unfähigkeit, in diesen natürlichen Kreislauf eingebunden zu sein. Moralisch liegt darin eine Kritik an der Unmäßigkeit und Ungeduld menschlicher Leidenschaften.
2. Die Klage über die verlorene Freude und die Abhängigkeit vom Blick einer geliebten Person deutet auf die Gefahr hin, die menschliche Würde und Freiheit gänzlich an äußere Objekte zu binden. Die moralische Lehre wäre, die eigene Integrität nicht allein von der Gunst eines anderen abhängig zu machen.
3. Die ständige Klage gegen Sonne, Sterne und Naturkräfte zeigt ein Bewusstsein von Ungerechtigkeit im Schicksal. Moralisch liegt hier die Mahnung, das Leiden nicht zu überhöhen, sondern im Verhältnis zur Ordnung der Schöpfung zu sehen.
4. Schließlich tritt in der Schlusswendung eine Vanitas-Dimension hervor: der Mensch ist leichter Staub der Erde, und alles Begehren muss sich der Endlichkeit fügen. Moralisch wird so die Einsicht vermittelt, dass wahres Glück nicht im zeitlichen Besitz, sondern im Anerkennen der eigenen Sterblichkeit liegt.
1. Aus anthroposophischer Sicht erscheint der Gegensatz von Tag und Nacht, Tier und Mensch, nicht nur als Naturbeobachtung, sondern als Hinweis auf verschiedene Bewusstseinszustände. Die Tiere folgen dem Rhythmus des Kosmos, während der Mensch durch sein Ich-Bewusstsein aus dieser Harmonie herausgerissen ist.
2. Die Seelenhaltung des lyrischen Ichs ist eine Art vorgezogener Seelenprüfung: es erlebt die Morgenröte, die Sterne, den Mond nicht als neutrale Naturerscheinungen, sondern als Kräfte, die sein Leiden spiegeln. Anthroposophisch gelesen sind diese Gestirne Abbilder geistiger Hierarchien, die im Schicksal des Menschen mitwirken.
3. Besonders bedeutsam ist die Stelle, an der der demantne[r] Sinn des Menschen dem Öl der Sterne verglichen wird. Hier klingt die anthroposophische Vorstellung an, dass der wahre Wesenskern des Menschen unvergänglich ist und mit den Sternen verwandt bleibt, auch wenn der Leib von schwacher Erde ist.
4. Der Wunsch nach einem Blick der Geliebten, der funffzig Wochen ersetze, verweist auf eine seelische Dimension des Zeit-Erlebens: in der Liebe offenbart sich eine Intensität, die die gewöhnliche Zeitlichkeit transzendiert. Anthroposophisch bedeutet dies ein Aufscheinen des Ewigen in der sinnlichen Erfahrung.
5. Schließlich deutet die Vision des Todes (mich decket in der Erd ein dünnes Brett) auf die Verwandlung des Ichs hin: ehe der Mensch die wahre Morgenröte der geistigen Sonne schauen kann, muss er durch die irdische Vergänglichkeit hindurchgehen.
1. Das Gedicht arbeitet mit einer konsequenten Strukturierung von Naturbildern (Tierwelt, Sonne, Sterne, Morgenröte, Wald), die nicht nur ornamentalen Charakter haben, sondern die seelische Verfassung des Sprechers objektivieren. Die Ästhetik liegt in dieser Parallelführung von Naturbeschreibung und innerem Empfinden.
2. Das formale Gleichmaß der Strophen mit wiederkehrenden Motiven (Sonne, Morgenröte, Wald, Sterne) schafft eine zyklische Bewegung, die das Unruhige des lyrischen Ichs paradoxerweise in ein ästhetisches Gleichgewicht bringt.
3. Die Verwendung von Antithesen – Tag und Nacht, Tier und Mensch, Leben und Tod, Sternenglanz und Tränenfluss – erzeugt eine barocke Spannungsästhetik, die das Grundgefühl der Vanitas formal verstärkt.
4. Besonders kunstvoll ist die Steigerung vom allgemeinen Naturgesetz (Strophe 1) über die persönliche Klage (Strophen 2–5) bis hin zu den idealisierenden Beschreibungen der Geliebten (Strophen 6–7). So wird die Bewegung des Gedichts von der objektiven Ordnung hin zur subjektiven Obsession geführt, was dem Text eine dramatische Ästhetik verleiht.
1. Das Gedicht ist reich an Anaphern und Wiederholungen: Morgenröthe, Sonne, Sternen, Walde erscheinen fast in jeder Strophe. Rhetorisch wird so das Leiden durch Beschwörung und litaneiartige Intensivierung verstärkt.
2. Der Sprecher verwendet Apostrophen an kosmische Mächte: er schrey[e] kläglich an die mir befeindten Sternen oder beklagt seine Not bey Himmel, Lufft und Sonne. Diese Rhetorik der Anrufung verleiht der Klage eine theatralische und beinahe religiöse Dimension.
3. Hyperbolische Wendungen (viel wilder denn ein Thier) steigern das Leiden ins Maßlose und sind typisch für die barocke Rhetorik des Übertreibens, die die Grenze zwischen Realität und Emphase bewusst verwischt.
4. Rhetorisch raffiniert ist auch die allegorische Funktion der Naturbilder: die Sonne wird nicht bloß Himmelskörper, sondern Symbol der Geliebten; die Morgenröte ist nicht nur Tagesbeginn, sondern Zeichen für Hoffnung und Enttäuschung. Damit wird das rhetorische Instrumentarium zur poetischen Transformation.
5. Schließlich hat das Gedicht einen performativen Charakter: durch Seufzen, Schreien, Beklagen und Vergleichen inszeniert es nicht nur Trauer, sondern macht die Sprache selbst zum Schauplatz des Leidens.
1. Das Gedicht entfaltet eine existentielle Klage über das Missverhältnis zwischen Naturordnung und menschlichem Schicksal. Während Tiere dem Rhythmus von Tag und Nacht folgen und dadurch Harmonie erfahren, ist das lyrische Ich diesem Rhythmus entfremdet. Es lebt in einer Unruhe, die die Nacht nicht als Ruhe, sondern als Qual und Sehnsucht erlebt.
2. Die zentrale Spannung liegt zwischen Naturgesetz und Liebessehnsucht. Wo der Tierwelt Ruhe und Ausgleich vergönnt ist, wird das Subjekt in rastloser Empfindung gefangen. Dies markiert einen Bruch zwischen natürlichem Leben und menschlicher Leidenschaft.
3. Die Figur des lyrischen Ichs wird zugleich als radikal vereinzeltes Subjekt dargestellt, das den Kosmos – Sonne, Sterne, Mond, Himmel – zu Zeugen seiner Not anruft, ohne Resonanz oder Linderung zu erfahren. Die Welt wird so zum Spiegel einer einsamen Klage.
4. Das Gedicht bewegt sich auf einer Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits. Es thematisiert, dass erst der Tod – „ein dünnes Brett vom Walde“ – eine Ruhe oder eine Erfüllung der Sehnsucht bringen könnte. Damit ist die Erfahrung von Liebe untrennbar mit der Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit verbunden.
1. Das Gedicht greift den barocken Gestus der Klage und Übertreibung auf, indem es durch Wiederholungen, Parallelstrukturen und Antithesen die Übermacht des Gefühls ins Bild setzt. Poetisch wird dadurch die Affektintensität gesteigert, die dem barocken Ideal des „affectus“ entspricht.
2. Die strenge Gliederung in sieben Strophen mit regelmäßigen Versen zeigt eine formale Ordnung, die im Gegensatz zum inhaltlich thematisierten Chaos der Gefühle steht. Diese poetische Ordnung deutet auf das barocke Bewusstsein hin, dass Kunst ein Medium der Formung und Beherrschung des inneren Aufruhrs ist.
3. Die dichte Verflechtung kosmischer und natürlicher Bilder (Sonne, Sterne, Wald, Tiere) dient nicht nur als Ausdruck der inneren Bewegung, sondern macht auch die poetische Funktion sichtbar: Welt wird poetisch „übersetzt“ in Resonanzräume der Seele.
4. Poetologisch wird sichtbar, dass das Gedicht als Teil des Zyklus Anemons und Adonis Blumen ein Spiel mit Topoi der galanten Liebeslyrik betreibt, jedoch ins Ernste gewendet. Die poetische Reflexion über Leiden und Sehnsucht erscheint nicht als bloßes Kunstspiel, sondern als existentielle Selbstaussage.
1. Die Tiermetaphorik („wilder denn ein Thier“, „Tiger“, „Löwe“) fungiert als Spiegel der ungezügelten Leidenschaft des lyrischen Ichs. Tiere sind zunächst Beispiele für natürliche Ordnung, dann aber wird ihre Wildheit herangezogen, um die Übersteigerung menschlicher Empfindung zu kennzeichnen.
2. Kosmische Metaphern (Sonne, Sterne, Mond) bilden ein Spannungsfeld von Hoffnung und Feindseligkeit. Der Sternenhimmel ist zugleich Trost und Bedrohung, „befreundete“ wie „befeindte Sternen“. Damit wird die menschliche Existenz metaphorisch in ein dramatisches Welttheater gestellt.
3. Licht- und Finsternismetaphern strukturieren die seelische Erfahrung: Die Morgenröte, die sonst Neubeginn verheißt, wird ambivalent, weil sie das Licht zwar bringt, dem Ich aber zugleich nur die Wiederkehr des Schmerzes bedeutet.
4. Das Bild des „dünnen Bretts vom Walde“ als Metapher für den Sarg stellt eine drastische Verdinglichung des Todes dar. Metaphorisch wird so die Endlichkeit als einzige Grenze und mögliche Befreiung visualisiert.
5. Schließlich ist die Geliebte selbst in Metaphern von Sonne, Sternen, Rosen und Gesang aufgehoben. Sie erscheint nicht real, sondern kosmisch-überhöht, und wird dadurch zum unerreichbaren Idealbild.
1. Das Gedicht gehört zur barocken Liebesdichtung, die stark von Petrarkismus und der Emblematik geprägt ist. Besonders die Verbindung von Naturbildern und Affektintensität verweist auf diese Tradition.
2. Zugleich zeigt sich die Nähe zur vanitas-Dichtung des Barock. Zwar steht die Liebe im Zentrum, doch wird sie unauflöslich mit Tod und Endlichkeit verknüpft. Die letzte Strophe lässt keinen Zweifel, dass die Erfahrung des Glücks erst jenseits der Erde oder im Tod erlangbar wäre.
3. Der Zyklus Anemons und Adonis Blumen deutet literaturgeschichtlich auf die barocke Tradition, mythologische Stoffe und Naturmotive in die galante Poesie einzubinden, wobei die mythologischen Anspielungen in diesem Gedicht zurücktreten zugunsten kosmischer Bilder.
4. Im Vergleich zu Zeitgenossen wie Gryphius, Opitz oder Hofmannswaldau zeigt Abschatz weniger Pathos in der rhetorischen Übersteigerung, sondern eher eine galant-empfindsame Tonlage, die schon ins Frühaufklärerische weist.
1. Aus rezeptionsästhetischer Sicht reflektiert das Gedicht eine typische barocke Erfahrung von Subjektivität: das Ich erlebt sich im Kosmos als zerrissenes, einsames Subjekt, das dennoch die gesamte Welt in seine Klage hineinzwingt. Der Leser wird in diese Weltdramatik hineingezogen und soll die Intensität mitempfinden.
2. Strukturell wird durch die Antithese von Tag und Nacht, Ruhe und Unruhe, Tier und Mensch eine dialektische Bewegung erzeugt, die das barocke Bewusstsein des Widerspruchs und der Polarität abbildet.
3. Intertextuell ließe sich das Gedicht sowohl mit der petrarkistischen Tradition (unerfüllte Liebe, Überhöhung der Geliebten) als auch mit der barocken Vanitas-Lyrik (Todesnähe, Endlichkeit) in Verbindung setzen. Literaturwissenschaftlich gesehen ist es also ein Hybridtext, der zwischen Liebeslyrik und existentieller Dichtung steht.
4. Aus narratologischer Sicht lässt sich das Gedicht als dramatische Szene auffassen, in der das lyrische Ich zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht, Natur und Menschlichkeit vermittelt. Der Text ist weniger Erzählung als Inszenierung eines seelischen Zustands, was typisch für barocke Lyrik ist.
5. Schließlich erlaubt die rhetorische Analyse, das Gedicht als Beispiel für die barocke Affektrhetorik zu verstehen: Exclamatio („Ach könt ich“), Apostrophe (Anrufung von Sternen, Sonne, Himmel) und Hyperbel sind nicht bloß Schmuck, sondern instrumentalisieren Sprache zur emotionalen Überwältigung.
1. Tag und Nacht als existentielle Gegensätze
Das Gedicht ruft eine Welt hervor, in der Tiere dem Tagesrhythmus folgen, während das sprechende lyrische Ich aus dieser Ordnung herausfällt. Tag und Nacht werden zu Symbolen des inneren Leidens: der Tag bringt keine Freude, die Nacht keine Ruhe.
2. Licht und Finsternis als Metaphern seelischer Zustände
Licht (Sonne, Morgenröte, Sterne) wird immer wieder angerufen, aber mit Tränen, Klagen und Ungeduld verbunden. Statt Erleuchtung oder Freude symbolisiert das Licht für das lyrische Ich Schmerz und Entbehrung. Die Finsternis hingegen wird nicht als Bedrohung, sondern als Ausdruck der inneren Zerrissenheit erlebt.
3. Natur als Spiegel innerer Verfassung
Tiere im Wald, Himmel, Sterne, Sonne, Morgenröte: alle Naturerscheinungen stehen in Korrespondenz mit den Affekten des Ichs. Die Natur ist kein Gegenüber in Harmonie, sondern ein Resonanzraum für Leid und Verzweiflung.
4. Kontrast zwischen Tier und Mensch
Während Tiere Ruhe, Ordnung und Natürlichkeit besitzen, ist das lyrische Ich viel wilder denn ein Thier. Es empfindet sich als unnatürliches, aus der Schöpfung herausgefallenes Wesen – eine assoziative Verbindung von animalischer Wildheit und menschlicher Übersteigerung.
5. Kosmische Dimension des Schmerzes
Nicht nur Erde und Tiere, sondern auch Himmel und Sterne werden Zeugen der Klage. Das Leiden wird ins Universale geweitet, bis hin zur metaphysischen Grenze des Todes und des Elyseer-Waldes.
1. Strophenbau und Verszahl
Das Gedicht umfasst 7 Strophen mit insgesamt 39 Versen, was auf eine formale Symmetrie und zugleich eine gewisse Überfülle verweist. Die Strophen sind durch eine rhythmische Einheit verbunden, die ein Wechselspiel zwischen Tag–Nacht, Licht–Finsternis gestaltet.
2. Reimschema und Klanglichkeit
Es handelt sich um eine gereimte, streng rhythmisch gefügte Lyrik barocker Prägung. Die Reimfolgen (teils Paarreim, teils Kreuzreim) verstärken den Eindruck von Geschlossenheit und Ordnung, während das inhaltliche Thema Chaos und Verzweiflung entfaltet. Hier liegt ein barocktypischer Kontrast von formaler Strenge und inhaltlicher Passion.
3. Stilfiguren
Anaphern und Wiederholungen (z. B. Morgenröthe, Sonne, Sternen) rhythmisieren das Gedicht und steigern die Intensität.
Hyperbeln (viel wilder denn ein Thier, mehr elend bin denn iedes Thier im Walde) heben die existenzielle Radikalität hervor.
Personifikationen von Sternen, Sonne und Morgenröte verlagern das Leiden in einen kosmischen Dialog.
Antithetik: Tag/Nacht, Tier/Mensch, Licht/Finsternis.
4. Klanggestus
Der hohe Anteil an langen Vokalen, gedehnten Klängen (Sonne, Sternen, Morgenröthe) erzeugt eine klagende, wehmütige Grundmelodie. Die Sprache trägt den Affekt unmittelbar.
1. Vanitas-Motiv
Das Gedicht reflektiert die Nichtigkeit irdischen Glücks und die Vergänglichkeit des Leibes, der bald von der Erde bedeckt sein wird.
2. Topos des animal rationale
Der Mensch steht über dem Tier, doch wird er hier tiefer gestellt: mehr elend bin denn iedes Thier im Walde. Der traditionelle anthropologische Vorrang wird verkehrt.
3. Licht–Finsternis als Erkenntnis-Topos
Normalerweise Symbol für Wahrheit und Gott, ist das Licht hier paradox mit Trauer und Qual verbunden, während die Finsternis den Widerpart darstellt. Ein barockes Spiel mit ambivalenten Symbolwerten.
4. Amor-Deperditus-Topos (unglückliche Liebe)
Hinter allen Natur- und Kosmosbildern steht die unerfüllte Liebe zu einer Frau: der lichten Augen Paar, der Rosen-Wangen Zier, der süssen Stimme Schall. Das unerreichbare Liebesobjekt wird zur Quelle unendlichen Schmerzes.
5. Memento mori
Die letzte Strophe erinnert drastisch daran, dass das Grab (ein dünnes Brett vom Walde) den Liebenden schneller erwartet, als die ersehnte Erfüllung seiner Wünsche.
1. Barockes Spannungsfeld von Ordnung und Leidenschaft
Die strenge Form, die metrische und reimliche Ordnung, kontrastiert mit der Unruhe und Zerrissenheit des Inneren. Dieses Spannungsverhältnis ist ein Kernzug barocker Dichtung.
2. Existenzielles Leiden als universalisiert
Typisch barock ist die kosmische Dimension: Sterne, Sonne und Himmel werden zu Instanzen des Schicksals, die den einzelnen übersteigen und doch in seinen Affekten widerhallen.
3. Religiös-metaphysischer Hintergrund
Das Gedicht oszilliert zwischen irdischer Liebe und transzendenter Hoffnung (Elysium, Geist bei den Sternen). Die Spannung zwischen carnalem Begehren und spiritueller Verklärung prägt die Barocklyrik insgesamt.
4. Emblematische Bildlichkeit
Der Text greift auf ein Arsenal emblematischer Natur- und Kosmosbilder zurück (Sonne = Glanz, Sterne = Schicksal, Tiere = Natürlichkeit, Wald = Rückzug). Diese emblematische Sprache ist typisch für die Zeit.
5. Pessimistische Grundhaltung
Das Bewusstsein der Vergänglichkeit, des Todes, der Nichtigkeit durchzieht das Gedicht. Damit fügt es sich nahtlos in den barocken Lebensdiskurs von Vanitas, Memento mori, Carpe diem.
1. Zentraler Konflikt: Naturordnung vs. menschliche Passion
Während Tiere in Ruhe und im Einklang mit der Schöpfung leben, ist das lyrische Ich durch Leidenschaft und Liebesschmerz aus dieser Ordnung herausgerissen. Diese Differenz steigert das Gefühl der Entfremdung.
2. Kosmische Adressierung als Ausdruck barocker Weltwahrnehmung
Der Sprecher klagt nicht nur im Inneren, sondern wendet sich an Sterne, Sonne, Himmel und Morgenröte. Damit wird die subjektive Passion in einen universalen, theatralisch überhöhten Zusammenhang gestellt.
3. Liebe als Quelle von Leiden und Transzendenz
Die unerfüllte Liebe zur Geliebten ist zugleich Qual und metaphysische Erhebung. Ihr Blick wird der Sonne gleichgestellt, ihre Stimme übertrifft die Nachtigall. In dieser Vergöttlichung der Geliebten verschmilzt Sinnlichkeit mit Sakralität.
4. Tod als letzte Grenze
Die letzte Strophe verweist unbarmherzig auf den Tod, der jede Hoffnung zunichtemacht. Das Grab wird der einzige reale Endpunkt, bevor Erfüllung möglich ist. Damit kulminiert das Gedicht in barocker Vanitas-Erkenntnis.
5. Poetische Strategie: Steigerung und Umkehrung
Das Gedicht steigert das Leid von Strophe zu Strophe, indem es erst Tiere und Tageszeiten, dann kosmische Mächte und schließlich den Tod heranzieht. Gleichzeitig werden Wertordnungen umgekehrt (Mensch - Tier, Licht = Schmerz).
6. Gesamteindruck
Der Text ist ein exemplarisches barockes Liebesklagelied: formal streng, inhaltlich leidenschaftlich, von Vanitas und Todesbewusstsein durchzogen. Das lyrische Ich erlebt sich als von der Ordnung der Schöpfung ausgeschlossenes Wesen, das sein Leid in kosmische Dimensionen ausdehnt und in der letzten Strophe mit der Endlichkeit des Todes konfrontiert wird.