LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 45 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Diesen tödtet Bley und Eisen/1
Jenen müssen Schmertz und Weh2
Zu dem kalten Grabe weisen;3
Liebe macht daß ich vergeh!4

Mancher muß sein Leben schlüssen5
In dem Schos der grünen See/6
Ich zu Galatheens Füssen:7
Liebe macht daß ich vergeh!8

Also klagte seine Schmertzen9
Filidor im grünen Klee/10
Sagend mit betrübtem Hertzen:11
Liebe macht daß ich vergeh!12

Es bewegten sich die Steine/13
Doch nicht seine Galathe:14
Echo ruffte durch die Häyne:15
Liebe macht daß ich vergeh!16

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 1

Diesen tödtet Bley und Eisen/1
Jenen müssen Schmertz und Weh2
Zu dem kalten Grabe weisen;3
Liebe macht daß ich vergeh!4

1 Diesen tödtet Bley und Eisen

Analyse

1. Der eröffnet mit dem deiktischen Diesen, das eine unbestimmte, exemplarische Gruppe von Menschen meint; es setzt eine paradigmatische Aussage über Ursachen des Sterbens an den Anfang.

2. Bley und Eisen fungieren als metonymische Chiffren für Kriegsgerät (Kugel und Klinge). Die abstrakte Benennung der Metalle hebt das Faktische der Gewalt hervor und verallgemeinert den Tod im Krieg.

3. Das Prädikat tödtet personifiziert die Metalle: Nicht Soldaten oder Täter erscheinen als Handelnde, sondern die Stoffe selbst; dadurch wird der Todesvorgang entmoralisiert und zugleich fatalistisch zugespitzt.

4. Orthographische Archaismen (tödtet, Bley) verankern den Ton im 17. Jahrhundert und lassen den Klang hart und schwer wirken, passend zur Materialität der Metalle.

5. Die Zeile setzt inhaltlich die erste Stufe einer dreiteiligen Enumeratio: äußerlich-gewaltsamer Tod als Basis des folgenden Steigerungsverlaufs.

Interpretation

1. Der positioniert Gewalt und Krieg als eine von mehreren normalen Bahnen in den Tod; er etabliert eine barocke Vanitas-Perspektive, in der Sterblichkeit jederzeit durch äußere Umstände eintreten kann.

2. Die Metalle symbolisieren nicht nur Waffen, sondern auch Unbeugsamkeit und Kälte: Der Tod erscheint als unwandelbar, gleichsam in die Elementarstruktur der Welt eingelassen.

3. Indem der nicht konkretisiert, wer tötet oder getötet wird, universalisiert er Erfahrung: Jeder könnte dieser sein.

4. Im Rahmen des Zyklus Anemons und Adonis Blumen lässt sich hier bereits die Verbindung von Eros und Thanatos antizipieren: Adonis’ Ende hat etwas vom Eisen, doch die Pointe wird später von der Liebe überboten.

2 Jenen müssen Schmertz und Weh

Analyse

1. Der Parallelismus Diesen … / Jenen … setzt die antithetische Struktur fort und markiert eine zweite Gruppe von Sterbenden; der Wechsel erzeugt rhetorische Balance und rhythmische Erwartung.

2. Schmertz und Weh bilden ein Hendiadyoin: Zwei nahe Synonyma intensivieren das Leid. Die Doppelung ersetzt Details (Krankheit, Siechtum) durch affektive Totalität.

3. Das Modalverb müssen verleiht dem Leid Zwangscharakter: Es ist nicht zufällig, sondern notwendig, gesetzhaft.

4. Der Satz bleibt syntaktisch unvollständig und verlangt die Fortführung in 3 (Enjambement); der Zeilensprung spiegelt das fortdrängende, unaufhaltsame Hinführen zum Ziel.

5. Semantisch erfolgt der Übergang von äußerer, plötzlich-gewaltsamer Todesart (Krieg) zu innerem, prozessualem Sterben (Schmerz, Weh).

Interpretation

1. Das Leiden erscheint als psychopompe Macht, die Menschen schicksalhaft dem Tod entgegenführt; der Mensch ist nicht Täter, sondern Objekt eines größeren, leidlogischen Imperativs.

2. Der Fokus verschiebt sich vom sozialen Feld (Krieg) zur existentiellen Erfahrung (Schmerz): Der Tod ist auch ohne Waffen unausweichlich.

3. Im barocken Kontext verweist die Notwendigkeit des Leidens auf eine Theodizee-Perspektive: Leid wird Teil der Ordnung, die zum rechten Ende (3) weist.

4. Gegenüber 1 gewinnt die Innenperspektive an Gewicht; das Gedicht nähert sich damit dem Affekt, der später in der Liebe kulminiert.

3 Zu dem kalten Grabe weisen;

Analyse

1. Vers 3 schließt die Syntax von Vers 2: weisen ist das Zielprädikat der Schmertz und Weh; Leid wird zur führenden Instanz.

2. Die Fügung kalten Grabe nutzt das epitheton ornans kalt, das den Topos des Todes in barocker Konventionalität (Kälte, Starre, Abwesenheit von Leben) akustisch und bildlich markiert.

3. Der Ausdruck weisen ist doppeldeutig: Er meint sowohl hinzeigen als auch hinführen; das Leid erhält damit die Rolle eines Wegweisers, fast eines Seelenführers.

4. Klanglich rahmt der Reim Eisen / weisen die erste Triadenachse (1 ↔ 3) und bindet Gewalt und Zielteleologie zusammen.

5. Das Semfeld des Weges strukturiert den Sterbevorgang als Bewegung: Vom Zwang des Leidens zur Ruhe des Grabes.

Interpretation

1. Der Tod wird als Ort und Endpunkt einer Notwendigkeitsbewegung begriffen; das kalte Grab ist keine kontingente Möglichkeit, sondern das von Leid gezeichnete Ziel.

2. Die Personifikation des Leidens als Weiser macht den Tod paradox vernünftig: Er erscheint als Konsequenz, nicht als Skandal.

3. In der Mythologie des Zyklus (Adonis → Anemone) korrespondiert das Grab mit Verwandlung: Aus Blut oder Leid entsteht Blüte; so wird das Grab zugleich als Schwelle gedacht.

4. Der Halbsatz-Charakter des Verses (abschließendes Semikolon) hält die Bewegung offen und lädt zur Pointe in 4 über.

4 Liebe macht daß ich vergeh!

Analyse

1. Der Schluss bringt den überraschenden Wendepunkt: Von unpersönlichen Kollektiva (Diesen, Jenen) kippt die Perspektive in die erste Person Singular (ich). Der Sprecher tritt mit existentieller Unmittelbarkeit ins Gedicht ein.

2. Liebe wird als handelndes Subjekt gesetzt und erhält kausative Macht (macht, daß …); sie steht parallel zu Bley und Eisen und Schmertz und Weh, aber übertrifft beide als innere, übermächtige Ursache.

3. vergeh ist semantisch mehrdeutig: Es bedeutet zugrunde gehen, verschwinden, kann aber in frühneuzeitlicher Liebessemantik auch das Vergehen vor Sehnsucht (ekstatische Ohnmacht) meinen.

4. Das Ausrufezeichen verschärft die Affektspannung; der ist kürzer, konzentrierter, performativ. Er fungiert als Klimax der vorher aufgebauten Enumeratio.

5. Der Kreuzreim (Weh ↔ vergeh) bindet den Liebestod an das Leiden; Eros verschmilzt mit Thanatos poetisch-akustisch.

Interpretation

1. Liebe erscheint als höchste, paradoxe Todesursache: Was das Leben steigert, kann es auch vernichten. Der vollzieht die barocke Dialektik der Affekte.

2. Im Horizont des Adonis-Mythos (Venus und Adonis) gewinnt Liebe eine doppelte Valenz: Sie stiftet die Bindung und führt – über Eifersucht, Verlust oder übersteigerte Leidenschaft – zum Ende des Geliebten; die Anemone als Blutblume ist Emblem dieser Dialektik.

3. Die Ich-Form rückt das Gedicht vom Allgemeinen ins Individuelle und macht aus der moralischen Sentenz ein Bekenntnis; damit wird der Topos existentiell verkörpert, nicht nur exemplifiziert.

4. Die Doppeldeutigkeit von vergehen eröffnet eine theologisch-mystische Lesart: Im Liebesaffekt kann das Ich sich verlieren, was sowohl erotisch als auch spirituell (Selbstentäußerung) gelesen werden kann.

Zusammenfassende Untersuchung der gesamten Strophe 1

Die vier Verse entfalten eine präzise, stufenförmige Dramaturgie des Sterbens: Zunächst wird der Tod durch äußere Gewalt (Bley und Eisen) gesetzt, dann durch inneres Leid (Schmertz und Weh) als Notwendigkeitsweg markiert, um schließlich in einer überraschenden Pointe von der Liebe überboten zu werden, die das lyrische Ich selbst vergehen lässt. Diese Bewegung von Außen nach Innen, vom Allgemeinen zum Individuellen, vom Dinglichen (Metalle) zum Affekt (Liebe), formt eine klare Klimax. Der Kreuzreim verschränkt die Pole (Eisen/weisen; Weh/vergeh) und macht hörbar, dass der Weg zum Grab sowohl gewaltsam als auch leid-, ja liebesbedingt sein kann.

Barocke Topoi strukturieren die Strophe: Vanitas (das kalte Grab), Fatalität (das modal determinierende müssen), Personifikation (Metalle und Affekte als Täter) sowie die Ambivalenz der Liebe als Lebens- und Todesmacht. Im Kontext von Anemons und Adonis Blumen gewinnt die Pointe besondere Tiefe: Adonis’ Tod steht emblematisch dafür, dass höchste Liebesintensität mit Vergänglichkeit verknüpft ist; aus dem Blut erwächst die Blume – ein emblematisches Bildzyklus-Prinzip, das Tod in Schönheit verwandelt. So kondensiert die Strophe in vier Schritten ein barockes Welt- und Liebeswissen: Was Menschen unter Waffen oder im Leid ereilt, ereignet sich im höchsten Maße im Innersten – im Übermaß der Liebe, in der das Ich sich selbst verliert und damit seine Sterblichkeit am radikalsten erfährt.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 2

Mancher muß sein Leben schlüssen5
In dem Schos der grünen See/6
Ich zu Galatheens Füssen:7
Liebe macht daß ich vergeh!8

5 Mancher muß sein Leben schlüssen

Analyse

1. Der eröffnet mit der indefiniten Quantifizierung Mancher, die eine verallgemeinernde, exemplarische Perspektive einführt. Dadurch entsteht ein typischer barocker Kontrastrahmen, der das Folgende als Gegenbild zur individuellen Ich-Setzung vorbereitet.

2. muß markiert Notwendigkeit, nicht Wahl: das semantische Feld zwingender Fügung (fatum) deutet auf barocke Vanitas-Erfahrung; die Lebensbewegung wird als in eine unabwendbare Schließung mündend begriffen.

3. Das Verb schlüssen (frühneuhochdeutsch für beschließen, endigen) ist bewusst gewählt: es aktiviert den Doppelsinn von abschließen (Zielpunkt) und versiegeln (Unumkehrbarkeit), wodurch der Lebensschluss als eine formale, beinahe rituelle Handlung erscheint.

4. Klanglich verbinden die s-/sch-Lauten (mußschlüssen) die Idee des Schließens mit einem zischenden, versinkenden Geräusch; die weiche, weiblich ausgehende Kadenz stützt die Vorstellung eines Ausgleitens aus dem Leben.

Interpretation

1. Der Sprecher entwirft ein allgemeines Schicksalsmuster, in das mancher fällt; dadurch gewinnt sein eigenes, späteres Gegenbekenntnis Kontur: Er will anders, nämlich freiwillig-liebend, und nicht bloß schicksalsergeben enden.

2. Leben schlüssen rahmt den Tod als aktiven Akt des Beschließens statt als bloßen Widerfahrnis-Tod. Diese semantische Verschiebung erlaubt, den Tod später als Wahlhandlung der Liebe umzudeuten.

3. Der barocke Hintergrund (Vanitas, Memento mori) schwingt mit, wird aber zugleich vorbereitet, überschrieben zu werden: Nicht die anonyme Notwendigkeit, sondern die personale Bindung (Liebe) soll den Schlussakt bestimmen.

6 In dem Schos der grünen See/

Analyse

1. Die präpositionale Bestimmung In dem Schos konkretisiert den 5 räumlich; Schoß (hier als Schos) verbindet lapidar-körperliche Nähe mit der Konnotation des Mutterleibs. Der Tod erscheint als Rückkehr in einen elementaren Ursprung.

2. grünen See bringt Farbsymbolik ins Spiel: Grün steht im Barock ambivalent für Lebendigkeit und Giftigkeit; die See ist Ursprung und Grab zugleich. Das Element Wasser rahmt das Ende als Auflösung.

3. Die Alliteration s-/sch- (Schos, See) und die gedehnten Vokale e/ö erzeugen einen fließenden, wellenhaften Klang, der die Bildsemantik trägt.

4. Der abschließende Schrägstrich signalisiert in vielen Barockdrucken syntaktische und metrische Zäsur: Die Vorstellung des Seetodes wird als Möglichkeit benannt, aber noch nicht akzeptiert; die Aussage bleibt vorläufig.

Interpretation

1. Der Schoß der See bündelt Thanatos und Matrix: Eine Aufhebung der Individualität im Elementaren. Das ist der Tod der Vielen, der Mancher-Tod aus V. 5, in Natur hineingezogen, anonym.

2. Im mythologischen Horizont deutet der Seeschoß auf die Nereidenwelt, aus der später Galathea explizit hervortritt. Der Text verschiebt sich von Natur (See) zu Person (Nereide), vom anonymen Element zum Du.

3. Dieser setzt damit die Folie für eine Alternative: Das lyrische Ich will sein Ende nicht im Element verlieren, sondern in personaler Nähe finden.

7 Ich zu Galatheens Füssen:

Analyse

1. Die Syntax bricht um: vom generisch-indefiniten Mancher zum emphatisch pronominalen Ich. Der Doppelpunkt setzt eine rhetorische Erwartungsspannung: Es folgt die Begründung oder Pointe.

2. zu … Füßen ist ein höfisch-galantes Topos der Unterwerfung und Verehrung. Der Körpermetonym Fuß markiert den niedrigsten Rang und zugleich intimste Nähe (Berührungsgrenze).

3. Galatheens (Genitiv) ruft die Nereide Galathea auf, die mythologisch als geliebte Meeresnymphe (Ovid, Metamorphosen 13) bekannt ist. So wird das Element Wasser personifiziert und erotisiert.

4. Die Binnenreimung mit V. 5 (schlüssen/Füssen) bindet beide Alternativen formal zusammen: Tod im Element versus Ende in der Liebe – als korrespondierende, aber qualitativ verschiedene Schlüsse.

Interpretation

1. Das Ich setzt eine Gegenexistenz: nicht im Schoß der See, sondern zu Galatheens Füßen. Der Wechsel vom anonym-natürlichen zum personal-mythischen Gegenüber kodiert eine Umwertung des Todes in Hingabe.

2. Das höfische Geste-Vokabular (zu Füßen liegen) übersetzt Liebes-Servitium in eine metaphysische Option: Die Selbsterniedrigung wird zur Form des Selbstvollzugs.

3. Indem Galathea die See personifiziert, bleibt das Wasser-Motiv erhalten, aber transformiert: Das Element wird Beziehung, das Grab wird Kult-Ort der Verehrung.

8 Liebe macht daß ich vergeh!

Analyse

1. Der Exklamationsvers liefert die kausale Kernsatzung: Liebe macht …. Die Liebe fungiert als Wirkprinzip, nicht als bloßes Gefühl; sie ist Kausalagent.

2. vergeh balanciert semantisch zwischen vergehen als Schwinden/Entwerden und der barocken Erotisierung des süßen Todes (la petite mort). Der Begriff hält Thanatos und Eros in einer Figur.

3. Die reine e-Klang-Rhyme mit V. 6 (See / vergeh) schließt das Alternations-Schema (ABAB) und bindet den Elementtod und Liebesvergehen akustisch zusammen – bei gegensätzlicher Valenz.

4. Der Paratax-Stil (keine Nebensatzentfaltung, starke Aussagerede) und das Ausrufezeichen geben dem den Charakter einer Bekenntnisformel.

Interpretation

1. Vergehen bezeichnet hier die ekstatische Selbstentgrenzung, nicht das bloße Verlöschen: Ein gewolltes, von der Liebe bewirktes Sich-Aufheben, das den anonymen Naturtod ästhetisch und affektiv übersteigt.

2. Der radikalisiert die barocke Liebesmetaphysik: Der Schluss des Lebens wird zur Vollendung in der Liebe; Sterben als Vollendung (consummatio), nicht als Mangel.

3. Durch die kausale Struktur (macht daß) wird die Liebe zur eigentlichen Machtinstanz über das Leben – eine Konkurrenz zum Schicksal aus V. 5, die dieses in eine freiwillige Hingabe umschreibt.

Zusammenfassende Untersuchung der gesamten Strophe 2

Die Strophe entwirft eine klare Antithese: Der generische, schicksalhafte Lebensschluss im Schoß der grünen See (V. 5–6) steht dem selbstgewählten Ende des Ich zu Galatheens Füßen (V. 7–8) gegenüber. Formal wird diese Gegenüberstellung durch das Kreuzreimschema (A: schlüssen/Füssen – B: See/vergeh) gestützt, das die beiden Möglichkeiten des Endens als strukturierte Alternativen präsentiert und sie zugleich lautpoetisch verbindet.

Semantisch transformiert der Text das Element Wasser: Zunächst ist es naturhaft-mütterlicher Schoß (Anonymität, Auflösung), dann als Galathea personalisierte, erotisierte Instanz (Beziehung, Verehrung). Der Tod wird aus dem Bereich des passiven Schicksals (necessitas) in den der aktiven Hingabe (amor) überführt. Vergehen markiert die barocke Synthese von Thanatos und Eros: Auflösung als Erfüllung, Verlust als Vollendung. So wird die Vanitas-Erfahrung nicht negiert, sondern umcodiert: Nicht die Natur verschlingt das Ich, sondern die Liebe entgrenzt es – ein galant-mythopoetischer Gegenentwurf zur anonymen Naturmächtigkeit.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 3

Also klagte seine Schmertzen9
Filidor im grünen Klee/10
Sagend mit betrübtem Hertzen:11
Liebe macht daß ich vergeh!12

9 Also klagte seine Schmertzen

Analyse

1. Die Einleitungspartikel Also hat eine resumierende und überleitende Funktion: Sie bindet an das zuvor Gesagte an und markiert zugleich einen narrativen Einsatz, der eine Szene des Klagens eröffnet.

2. Das Präteritum klagte etabliert einen epischen Abstand und verweist auf das barocke Topos der Klage (comploratio) als eigenständiges rhetorisches Genre; es kündigt pathosgeladene Rede an.

3. seine Schmertzen (barocke Orthographie) macht das Leid zum Objekt der Rede und verwendet die konventionalisierte Herz-Schmerz-Diktion; die Pluralform Schmertzen verstärkt die Vielgestaltigkeit des Leidens.

4. Die syntaktische Schlichtheit (Subjekt – Prädikat – Objekt, teils elliptisch) lässt den Fokus auf dem Affekt liegen; die Lautnähe Schmertzen/Hertzen (V. 11) bereitet zudem ein Binnenfeld von Klang- und Sinnkorrespondenzen vor.

Interpretation

1. Der setzt die Szene als lamentosartige Darstellung: Das Sprechen über Schmerz ist selbst performativer Ausdruck des Schmerzes; Klage wird zur Selbstversicherung des affektiven Zustands.

2. Die Resumptionspartikel Also suggeriert, dass der Schmerz keine Episode, sondern ein Fortgang ist; Liebesleid erscheint als Dauerzustand, der sich nun in Worte bricht.

3. Indem der Schmerz sprachlich vergegenständlicht wird, zeigt der Text ein barockes Bewusstsein für die rhetorische Formbarkeit von Affekten: Leiden wird in die Ordnung der Rede überführt und damit zugleich ästhetisiert.

4. Der kündigt die innere Logik der Strophe an: Vom berichtenden Rahmen (Klage) führt sie in die situative Verortung (V. 10) und schließlich in den direkten Affektmonolog (V. 12).

10 Filidor im grünen Klee/

Analyse

1. Filidor fungiert als Schäfer- oder Galantenname (Pastoralpseudonym), wie er in der barocken Hirtendichtung geläufig ist; die Figur wird typisiert, nicht individuell charakterisiert.

2. Die Ortsangabe im grünen Klee markiert den locus amoenus: Wiese, Grün, Natur – ein klassisches Bühnenbild höfischer-pastoraler Liebesszenen; grün evoziert Wachstum, Jugend, Hoffnung.

3. Die knappe, präpositionale Situierung ohne Verb ergänzt V. 9 szenografisch: Sie malt das Setting, in dem die Klage erklingt, und verknüpft Inneres (Affekt) und Äußeres (Natur).

4. Der Binnenklang der langen /e/-Vokale (Filidor, Klee) verleiht dem Weichheit; dieses Phonische steht im Kontrast zum Thema Schmertzen und erzeugt eine barocke Antithese von Süße der Natur und Bitterkeit des Gefühls.

Interpretation

1. Die Idylle wird zum Kontrastfolie: Gerade im vermeintlich heiteren, glücksverheißenden grünen Klee tritt das Leid schärfer hervor; das Glückssymbol Klee ironisiert das Unglück der Liebe.

2. Die Pastoralmaske Filidor verweist auf eine poetische Rollensprache der Liebe: Nicht psychologischer Realismus, sondern emblematische Darstellung von Amor und Leiden steht im Vordergrund.

3. Die Natur fungiert als mitleidender Resonanzraum: Was äußerlich blüht, wird innerlich verfehlt; so entsteht das barock typische Spiel von Erscheinung und Essenz.

4. Im Kontext des Zyklus Anemons und Adonis Blumen setzt die Flora (hier: Klee) eine botanische Motivik fort, die auf Verwandlung, Vergehen und die Nähe von Eros und Thanatos (Adonis-Mythos) verweist.

11 Sagend mit betrübtem Hertzen:

Analyse

1. Der Partizipialanschluss Sagend verschiebt vom Bericht zur Szene des Sprechens und schafft szenische Unmittelbarkeit; er bereitet das Zitat in V. 12 vor.

2. Die Fügung mit betrübtem Hertzen (Orthographie Hertzen) ist ein instrumentaler Ablativ: Das Herz ist nicht nur Sitz des Affekts, sondern gleichsam das Instrument des Sagens – Reden geschieht durch das bekümmerte Herz.

3. Der Doppelsinn von Herz/Schmerz (bereits klanglich antizipiert) bildet ein semantisches Feld barocker Affektpoetik; die Innenmetaphorik (Herz) rückt das Subjektive in den Vordergrund.

4. Der Doppelpunkt markiert eine rhetorische Stufe: vom narrativen Rahmen zur direkten Exklamation; er fungiert als Schwelle zwischen diegetischer Beschreibung und performativer Selbstäußerung.

Interpretation

1. Das betrübte Herz verleiht dem folgenden Ausruf Authentizität: Nicht bloß konventionelle Klage, sondern situativ erhitzte Innerlichkeit spricht; Pathos wird legitimiert.

2. Der Partizipialstil vermittelt Bewegung: Filidor ist im Akt des Sagens, Liebe ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess des Sich-Aussprechens – eine barocke Dynamisierung des Affekts.

3. Die Herzsemantik verknüpft anthropologische Tiefe (Innerstes des Menschen) mit literarischer Konvention; dadurch entsteht eine doppelte Lesbarkeit: als topische Schäferklage und als ernsthafte Seelenrede.

4. Durch die Setzung des Doppelpunktes wird der Leser in Erwartungshaltung versetzt; die Energie des Affekts bündelt sich und entlädt sich im folgenden direkten Satz.

12 Liebe macht daß ich vergeh!

Analyse

1. Die Personifikation Liebe macht setzt Liebe als wirkende Instanz; die Konstruktion macht, daß formuliert Kausalität und Fremdbestimmung – das Subjekt erfährt sich als Objekt der Macht der Liebe.

2. daß ich vergeh nutzt frühneuhochdeutsche Apokope (vergeh[e]), die den Ausruf verdichtet; das Exklamationszeichen markiert die rhetorische Figur der exclamatio.

3. vergeh(en) ist semantisch vielwertig: schwinden, vergehn, sterben, zergehen (auch im Sinn erotischer Verzückung); die Bedeutungsbreite ist barocktypisch und hält Tod, Ohnmacht und süßes Verlöschen in Spannung.

4. Klanglich bildet vergeh mit Klee (V. 10) eine assonanzartige Korrespondenz, während Schmertzen/Hertzen (V. 9/11) den Reimkern stellen; die Strophe zeigt so ein Kreuzschema, das Sinnkorrespondenzen (Herz/Schmerz – Klee/Vergeh) ikonisch ordnet.

Interpretation

1. Die Aussage radikalisiert die Logik der Liebesklage: Liebe ist nicht bloß Quelle von Schmerz, sondern ursächlich für existenzielle Auflösung; Eros kippt in Thanatos.

2. In der barocken Emblematik lässt sich vergehen zugleich als Metamorphose denken: Wie Adonis’ Blut zur Anemone wird, so geht der Liebende in der Liebe ein – ein Bild zwischen Vernichtung und Verklärung.

3. Die Passivierung des Ichs (Liebe macht) spricht von Unfreiheit und Süße des Unterliegens: ein freiwilliges Ausgeliefertsein, das in der höfisch-galanten Tradition als höchste Liebesintensität gilt.

4. Der Ausruf vollendet die strophische Steigerung vom berichteten Schmerz zur Unmittelbarkeit des Selbstverlusts; er ist Kulminationspunkt und zugleich Zäsur für den weiteren Verlauf des Gedichts.

Zusammenfassende Untersuchung der gesamten Strophe 3

1. Dramaturgie der Affektentfaltung: Die Strophe inszeniert eine klare Progression: (a) Ankündigung und Rahmung der Klage (V. 9), (b) szenische Verortung im locus amoenus (V. 10), (c) innerer Spannungsaufbau durch partizipiale Mimesis des Sagens (V. 11), (d) affektive Entladung im exklamatorischen Selbstbekenntnis (V. 12). Diese Vierstufigkeit bildet ein kleines rhetorisches Drama.

2. Konstellation von Natur und Innerlichkeit: Der grüne Klee setzt eine Idylle, die das Leid kontrastiv steigert. Die Natur ist Resonanzraum und Gegenbild: Sie zeigt Fülle, während das Herz Darre und Schwinden erfährt. Damit spiegelt die Strophe ein zentrales barockes Spannungsverhältnis von Schein (Außen) und Sein (Innen).

3. Klang- und Reimstruktur als Sinnträger: Das Paar Schmertzen/Hertzen bildet den semantischen Kern (Affekt-Innenraum), während Klee/vergeh eine klangliche Brücke zwischen Ort und Existenzzustand schlägt. Die vermutlich kreuzende Reimordnung ikonisiert die Überkreuzung von Naturbild und Seelenzustand.

4. Barocke Topik und Mythologemik: Die Schäfermaske Filidor und die pastorale Szene verankern den Text in der höfisch-galanten Lyrik; der Zyklustitel mit Adonis/Anemone legt eine Lesart nahe, in der Liebesleid zur Verwandlungsmetaphorik tendiert: Vergehen als Übergang – zwischen Tod, Ohnmacht und ästhetischer Transfiguration.

5. Anthropologische Pointe: Die Strophe sagt nicht nur Ich leide, sondern Ich werde gemacht zu vergehen: Liebe erscheint als äußere Macht, die das Subjekt aus seiner Autarkie löst. Das ist barockes Denken im Kern: der Mensch als von Kräften (Eros, Fortuna, Vanitas) Durchwirktes, dessen Selbstrede performativ seine eigene Prekarität aufzeigt.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 4

Es bewegten sich die Steine/13
Doch nicht seine Galathe:14
Echo ruffte durch die Häyne:15
Liebe macht daß ich vergeh!16

13 Es bewegten sich die Steine/

Analyse

1. Die Zeile setzt mit einer hyperbolischen Beobachtung ein: Selbst Steine, Inbegriff des Unbeweglichen und Gefühllosen, geraten in Bewegung. Das unpersönliche Es hebt den Satz in eine Art allgemeingültige Maxime, bevor das lyrische Ich (und seine konkrete Situation) überhaupt sichtbar wird.

2. Bildtraditionell schwingt die antike Vorstellung mit, dass außergewöhnliche Kunst oder Liebe Naturgesetze suspendieren kann: Orpheus und Amphion bewegen durch Gesang Felsen; bei Pygmalion wird kalter Stein zur warmen Leiblichkeit. Der ruft diese mythische Matrix als Erwartungshorizont auf.

3. Rhetorisch arbeitet die Zeile mit einer bewusst knappen, prädikativ zugespitzten Formulierung: Subjektloses Es, starkes Prädikat bewegten, markanter Gegenstand Steine. Der Satzrhythmus ist glatt und aphoristisch; er dient als Auftakt, der pathosreiches Terrain eröffnet.

4. In der Klanggestalt häufen sich Zisch- und S-Laute (Es, bewegten, sich, Steine), die die behauptete Bewegung lautmalerisch schimmern lassen, ohne ins Ornamentale zu kippen.

Interpretation

1. Die Aussage bereitet eine steigerungsfähige Antithese vor: Wenn sogar das äußerlich Unbelebte reagiert, müsste das menschliche Gegenüber erst recht berührbar sein. Der stellt also die Norm her, an der gleich das Abweichende gemessen wird.

2. Zugleich versteht sich die Zeile als Selbstbehauptung poetischer Potenz: Rede, Gesang oder Liebe des Sprechers sind so wirkmächtig, dass sie die Welt rühren—ein klassisch-barockes Topos der Kunstmacht.

3. Die Hyperbel signalisiert jedoch bereits ironisches Risiko: Wer so hoch ansetzt, fällt umso tiefer, wenn die erwartete Wirkung ausbleibt. Die Zeile ist damit dramaturgisch ein Sprungbrett in die Enttäuschung.

14 Doch nicht seine Galathe:

Analyse

1. Das adversative Doch bricht die zuvor aufgebaute Erwartung scharf. Grammatisch liegt eine Ellipse vor (bewegte sich [aber] nicht ist ausgespart); der lapidare Nominalsatz verdichtet den Kontrast und akzentuiert das Scheitern.

2. seine Galathe personalisiert und individualisiert: Es geht nicht um eine Geliebte, sondern um die dem Sprecher zugehörig gedachte—der Possessivartikel schmerzt, weil er ein Besitzverhältnis behauptet, das affektiv nicht rückversichert ist.

3. Der Name Galathe (barocke Schreibvariante von Galatea) evoziert unmittelbar Pygmalions Statue. Intertextuell entsteht eine paradoxe Volte: In Ovid wurde Galatea gerade vom Stein zur Lebenden; hier bleibt seine Galathe die Eine, die—trotz aller Wunder ringsum—unbewegt bleibt.

4. Semantisch entsteht eine harte Antithese: Steine vs. Galathe. Ausgerechnet jene Figur, die mythisch für das Erwachen des Steins steht, entzieht sich der Bewegung. Das ist subtile Mythensatire und zugespitzte Liebesklage zugleich.

Interpretation

1. Die Geliebte erscheint als härter als Stein—ein barockes Liebestopos, das Härte/Weichheit als psychomoralische Kategorien der Empfänglichkeit verwendet. Ihr Unbewegtsein negiert die im vorigen beschworene kosmische Rührbarkeit.

2. Die Pygmalion-Umkehr verhandelt auch ein Poetikproblem: Dichtung vermag zwar die Welt zu bezaubern, aber nicht die Freiheit des Anderen zu erzwingen. Liebe ist hier kein magisches Beherrschungsmedium.

3. Der enthält eine leise Selbstkritik des Sprechers: Das seine entlarvt Wunschdenken; die Realität der Geliebten widerspricht der Projektion des Liebenden. Darin liegt eine barocke Erkenntnis über den Trug des Begehrens.

15 Echo ruffte durch die Häyne:

Analyse

1. Mit Echo tritt eine mythologische Personifikation auf, die per definitionem nicht antwortet, sondern wiederholt. Ihre Präsenz verschiebt die Szene vom Plastischen (Stein/Statue) ins Akustische (Ruf/Widerhall).

2. durch die Häyne (barocke Schreibweise für Haine) etabliert den locus amoenus des Hains—Pastoralraum der Liebe—, der jedoch nicht idyllisch erfüllt ist, sondern den Liebesschmerz vervielfacht: Der Ruf geht durch die Haine, füllt den Raum, aber kehrt nur als Echo zurück.

3. Der Doppelpunktschluss signalisiert, dass nun der wörtliche Inhalt dieses Echos folgt; syntaktisch fungiert der als dramaturgische Zäsur und Lautsprecher, der das Innere des Ichs nach außen stülpt.

4. Phonetisch fällt das gerollte r in ruffte und die gedehnten Vokale auf; das vermittelt eine Mischung aus Dringlichkeit und Verhallen—genau die Ambivalenz des Echo-Phänomens.

Interpretation

1. Echo wird zum Symbol der Einseitigkeit: Der Liebende erhält keine dialogische Antwort, nur die mechanische Zurückgabe der eigenen Worte. Das steigert das Pathos der Ungehörtheit.

2. Gleichzeitig reflektiert der das Mediale der Klage: Die Dichtung selbst ist Echo der Empfindung; was der Leser hört, ist bereits der zweite Klang. Damit gewinnt die Strophe eine selbstreflexive Poetikschicht.

3. Die Ausbreitung durch die Haine deutet den Schmerz in Öffentlichkeit um: Die Natur wird Resonanzkörper der individuellen Passion—ein barockes Natur-Anthropologie-Motiv, in dem Welt und Seele korrespondieren.

16 Liebe macht daß ich vergeh!

Analyse

1. Der Ausruf bringt das Ich explizit und unverhüllt ins Spiel; Kausalität (macht daß) bindet das eigene Vergeh(en) direkt an die Macht der Liebe. Der Exklamationsschluss verleiht der Strophe die Funktion eines epiphonematischen Seufzers.

2. vergeh oszilliert semantisch zwischen Schwinden, Ohnmacht, Sterben und Entgrenzung—ein Kernwort barocker Affect-Rhetorik, das Vanitas-Konnotationen (Zerfall) mit erotischer Ekstase (Auflösung ins Andere) verbindet.

3. Da die Zeile den angekündigten Echo-Inhalt liefert, hört man sie doppelt: als Erst-Ruf des Ichs und als Widerhall der Welt. Form und Inhalt fallen ineins und erzeugen einen ringförmigen Schluss.

4. Der Verzicht auf jedes Beiwerk (kein Prädikatszusatz, keine Zeit- oder Ortsangabe) radikalisiert die Aussage: reine Passion, destilliert auf Ursache und Wirkung.

Interpretation

1. Der nivelliert die vorherigen Mythen zu einer anthropologischen Pointe: Jenseits aller Kunstwunder bleibt Liebe eine elementare Macht, die Subjektgrenzen sprengt. Das Vergehen benennt diesen Grenzphänomen-Charakter.

2. In der Logik des Zyklus Anemons und Adonis Blumen gewinnt die Todesmetaphorik eine metamorphotische Färbung: Wie Adonis im Sterben zur Blume wird, so könnte das Vergehen des Ichs in poetische Gestalt umschlagen—Leid wird Lied.

3. Gleichzeitig markiert der Ausruf die Grenze von Rhetorik: Nach Hyperbel, Antithese und Personifikation bleibt nur das nackte Bekenntnis. Das ist barocker Ernst jenseits des spielerischen Wortglanzes.

Zusammenfassende Untersuchung der gesamten Strophe 4

Diese Schlussstrophe choreographiert eine doppelte Paradoxie der barocken Liebesdichtung. Zuerst steigert sie die Macht der Liebe ins Kosmische (Steine bewegen sich), um sie sogleich an der Freiheit der Geliebten scheitern zu lassen (Doch nicht seine Galathe). Dabei spiegelt sich die Pygmalion-Tradition in ironischer Umkehr: Der Stein regt sich, die Statue der Geliebten nicht. Im zweiten Schritt verschiebt die Strophe vom visuellen, plastischen Register (Stein/Statue) ins akustische (Ruf/Echo). Echo, Garant der bloßen Wiederholung, ersetzt den ersehnten Dialog—die Welt antwortet, aber nicht als Du, sondern als Spiegel. Formal kulminiert dies im epiphonematischen Ausruf Liebe macht daß ich vergeh!, der den Kausalnexus von Leidenschaft und Selbstauflösung setzt. So verbindet die Strophe Hyperbel, Antithese, Personifikation und Exklamation zu einer rhetorischen Spirale, die das Thema der Unwiderstehlichkeit und Ohnmacht der Liebe zugleich entfaltet. Innerhalb des Adonis-Kontexts zeichnet sich schließlich eine metamorphotische Lesart ab: Das Vergehen ist nicht nur Vernichtung, sondern Verwandlung—ein Umschlag des individuellen Schmerzes in die objektivierte Form des Gedichts, das, wie eine Blume, aus Blut und Tränen wächst.

Gesamtschau
Organischer Aufbau und Verlauf

1. Einführung in das allgemeine Todesmotiv (Strophe 1):

Das Gedicht eröffnet mit einer klassischen barocken Antithetik: Die ersten beiden Verse nennen die physischen Ursachen des Todes – Bley und Eisen (Krieg, Gewalt) und Schmertz und Weh (Krankheit, Leid). In diese allgemeine Todesordnung bricht die subjektive Stimme des Sprechers mit der paradoxen Wendung ein: Liebe macht, daß ich vergeh! Damit wird die Liebe als dritte, geistig-seelische Todesursache vorgestellt, die den physischen in Intensität gleichkommt oder sie übertrifft.

2. Individualisierung des Todesmotivs (Strophe 2):

Die zweite Strophe konkretisiert den Gegensatz: Mancher stirbt im Meer, also in der Natur, im Schoß der grünen See. Der Sprecher hingegen stirbt zu Galatheens Füssen – in der mythisch überhöhten, doch unerwiderten Liebe. Der Tod wird hier erotisch sublimiert: das Vergehen wird zugleich körperlich und spirituell verstanden, als Auflösung des Selbst im Schmerz der Liebe.

3. Personalisierung und poetische Selbstinszenierung (Strophe 3):

Mit dem Auftreten Filidors tritt ein alter ego des lyrischen Ichs auf. Die Szene im grünen Klee schafft einen bukolischen, pastoral überhöhten Rahmen: Die Natur wird zum Resonanzraum des Liebesschmerzes. Das wiederholte Bekenntnis Liebe macht, daß ich vergeh! erhält hier eine performative Qualität: das Gedicht selbst wird zum Klagelied, das die Grenze zwischen Empfindung und Ausdruck aufhebt.

4. Schluss mit mythischer und metaphysischer Dimension (Strophe 4):

Die letzte Strophe steigert die Klage ins Wunderbare: Selbst die Steine bewegen sich – das Motiv der mitleidenden Natur –, doch die Geliebte bleibt ungerührt. Die Erwähnung von Echo evoziert den antiken Mythos und verleiht der Klage einen kosmischen Nachhall. Das Gedicht endet, kreisförmig und resignativ, mit der wiederholten Zeile: Liebe macht, daß ich vergeh! – ein barockes Vanitas-Resümee in der Sprache des Liebesleidens.

Psychologische Dimension

1. Ambivalenz von Eros und Thanatos:

Das Gedicht entfaltet die psychische Spannung zwischen Liebessehnsucht und Todestrieb. Das Vergehen ist doppeldeutig: es bezeichnet sowohl das Verlöschen des Lebens als auch das ekstatische Aufgehen in der Liebe. Psychologisch offenbart sich ein Ich, das in der Unerfülltheit seiner Leidenschaft den Tod nicht fürchtet, sondern als Vollendung der Empfindung begreift.

2. Mechanismus der Projektion und Mythisierung:

Der Sprecher projiziert seine emotionale Ohnmacht auf mythische Figuren (Galathee, Echo), wodurch die subjektive Erfahrung in eine objektive, archetypische Form überführt wird. Diese Mythisierung dient zugleich der Selbsttröstung: Das Leiden wird dadurch zu einem Teil einer kosmischen Ordnung des Schmerzes.

3. Gefühl der Isolation und des vergeblichen Ausdrucks:

Psychologisch tritt das zentrale Motiv der Kommunikationsstörung hervor. Filidor klagt, doch die Geliebte hört ihn nicht. Nur Echo antwortet – die Wiederholung ohne Verständnis. Damit wird der psychische Zustand des Liebenden als existenzielle Einsamkeit dargestellt: Sprache selbst wird zum Medium der Vergeblichkeit.

4. Affektstruktur: Leidenschaft – Ohnmacht – Resignation:

Der seelische Verlauf des Gedichts führt vom allgemeinen Pathos (Strophe 1) über die persönliche Klage (Strophe 2–3) hin zur Erstarrung in der letzten Strophe. Das Gefühl schlägt in Selbstauflösung um: Das Subjekt verliert sich im eigenen Ruf, der nur noch als Echo zurückkehrt.

Ethische Dimension

1. Kontrast zwischen äußerem und innerem Heldentum:

Während Bley und Eisen auf kriegerische Tapferkeit verweisen, stellt der Sprecher die seelische Tapferkeit des Liebenden daneben. Der ethische Gehalt liegt in der Gleichstellung des inneren, leidenden Menschen mit dem äußerlich kämpfenden – eine subtile Relativierung heroischer Tugendideale.

2. Selbstaufgabe als paradoxes Ideal:

In der barocken Ethik, die Demut und Hingabe hochhält, erscheint das Vergehen durch Liebe nicht als moralisches Scheitern, sondern als Ausdruck höchster Empfindungstiefe. Das Ich wird ethisch geläutert, indem es sich aufopfert – eine Umdeutung des Leidens in Tugend.

3. Unbewegtheit der Geliebten als moralisches Gegenbild:

Galathee, die Unrührbare, verkörpert die ethische Kälte der Welt, die gegenüber dem Gefühl taub bleibt. Damit wird implizit eine Kritik an emotionaler Starrheit formuliert: Das Gedicht fordert Mitgefühl, Bewegung des Herzens, Mitleid – das zentrale barocke Ideal der compassio.

4. Liebe als Prüfstein der menschlichen Integrität:

Die ethische Pointe liegt in der Bewährung des Ichs im Leiden: das wahre Maß menschlicher Tiefe zeigt sich nicht im äußeren Erfolg, sondern in der Fähigkeit, das Scheitern in geistige Würde zu verwandeln.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Barocke Metaphysik der Liebe und des Todes:

Im Hintergrund steht die typisch barocke Vorstellung, dass Liebe und Tod zwei Erscheinungsformen derselben metaphysischen Macht sind – beide führen zur Auflösung des Individuums in ein größeres Ganzes. Vergehen ist nicht bloß Sterben, sondern Heimkehr in die Einheit des Seins.

2. Theologische Paradoxie: Eros als Weg zum Tod, Tod als Weg zu Gott:

Die Liebe, die hier tödlich wirkt, verweist in tieferer Deutung auf das göttliche Prinzip selbst: Deus caritas est. Das Vergehen durch Liebe kann so auch als mystische Metapher gelesen werden – das Ego löst sich im Feuer der göttlichen Liebe auf. Der Liebestod ist somit zugleich ein spirituelles Sterben der Eigenheit, eine mors mystica.

3. Der Ruf ins Leere und die göttliche Stille:

Der Umstand, dass nur Echo antwortet, deutet eine theologische Dimension des Schweigens Gottes an: Der Mensch ruft in die Schöpfung hinein, doch die Antwort bleibt reflektierend, nicht personal. Das Echo ersetzt die Offenbarung – die Welt hallt zurück, aber sie spricht nicht. Der Schmerz des Liebenden spiegelt so die Gottesferne der gefallenen Welt.

4. Natur als Spiegel der göttlichen Ordnung:

Die bewegten Steine und die grüne See sind mehr als Dekoration; sie stehen für das All-lebendige, das Mitleid der Schöpfung mit dem leidenden Menschen. Doch die unbewegte Geliebte bricht diesen Zusammenhang. Damit wird das theologische Spannungsfeld zwischen natura naturata (geschaffene Natur) und der menschlichen Freiheit sichtbar: Die Natur empfindet mit – der Mensch allein bleibt ungerührt.

5. Vanitas und Erlösungssehnsucht:

Das refrainsartige Liebe macht, daß ich vergeh! wird so zur barocken Formel des memento mori, aber zugleich zur transzendierenden Bitte um Auflösung in das Ewige. Die Liebe ist hier nicht bloß Leidenschaft, sondern ein göttliches Prinzip, das den Tod heiligt. Der Schlusschor der Wiederholung ist Gebet und Selbstaufgabe zugleich.

Moralische Dimension

1. Die Liebe als zerstörerische und zugleich veredelnde Macht.

Der Sprecher klagt darüber, dass die Liebe ihn vergehen lässt – ein Ausdruck des Leidens, zugleich aber auch der moralischen Läuterung. Das Vergehen kann nicht nur als Tod verstanden werden, sondern als Überwindung des Ichs durch eine höhere, göttliche oder moralisch reinigende Kraft. In der barocken Moraldichtung wird dieses Motiv häufig als Warnung vor den gefährlichen Leidenschaften gedeutet, die das vernünftige Maß überschreiten.

2. Die Gleichsetzung von Liebesleid und Todesnot.

Abschatz stellt verschiedene Todesarten gegenüber: Tod durch Waffen, durch Schmerz, durch Ertrinken – und schließlich den Tod durch Liebe. Moralisch gesehen wird dadurch eine Hierarchie der Leidenschaften aufgestellt: körperliche Gefahren sind unvermeidlich, aber die seelische Hingabe an die Liebe ist selbstgewählt. Der moralische Appell liegt in der impliziten Mahnung, Maß zu halten und nicht der sinnlichen Übermacht zu erliegen.

3. Die unbewegte Geliebte als Spiegel der moralischen Blindheit.

Galathee – mythologisch die Geliebte des Hirten Akis – zeigt keine Regung; ihre Gefühllosigkeit wird kontrastiert mit der übervollen Empfindung des Liebenden. Moralisch deutet dies auf das Ungleichgewicht zwischen sinnlicher Projektion und realer Tugend: der Liebende liebt ein Bild, nicht eine Person. Abschatz moralisiert hier die Illusion der Leidenschaft.

4. Das Echo als moralisches Gericht.

Im Schlussvers bleibt nur das Echo als Antwort. Dieses Echo ist nicht tröstend, sondern spiegelnd und leer – eine moralische Konsequenz der ungerichteten Leidenschaft: wer sich selbst in der Liebe verliert, hört am Ende nur den Widerhall der eigenen Stimme.

Anthroposophische Dimension

1. Das Vergehen als Metamorphose des Ichs.

Aus anthroposophischer Sicht (im Sinne Rudolf Steiners) kann das Vergehen durch Liebe als ein Übergang vom sinnlich-niederen zum geistig-höheren Selbst verstanden werden. Die Liebe wirkt hier wie eine seelische Alchemie, in der das Ich durch Schmerz vergeistigt wird.

2. Vier Naturreiche als symbolischer Resonanzraum.

Das Gedicht bewegt sich in einer kosmischen Ordnung: Metall (Blei, Eisen), Erde (Grab, Stein), Wasser (grüne See) und Luft (Echo, Häyne). Die Liebe durchdringt alle Elemente; der Mensch, der durch sie vergeht, durchläuft symbolisch die vier Reiche der Natur und reinigt seine Wesenheit im Prozess des Leidens.

3. Filidor als Repräsentant der astralischen Seele.

Die Figur Filidor – Name von philos doré, der goldene Liebende – steht für die Seele, die durch Liebe vergeistigt, aber auch zerrissen wird. In der anthroposophischen Perspektive repräsentiert er den Menschen zwischen sinnlicher Verstrickung und geistiger Wandlung.

4. Das unbewegte Galathee-Bild als Symbol des Fixpunktes des Geistes.

Galathee, die Unbewegte, ist nicht nur kalte Geliebte, sondern die Idee des Unveränderlichen, das sich dem Wandel der sinnlichen Welt entzieht. Das Echo hingegen zeigt die Bewegung der Seele – so entsteht ein spirituelles Wechselspiel zwischen Ruhe (Geist) und Bewegung (Seele).

Ästhetische Dimension

1. Konzentrische Struktur und musikalischer Refrain.

Die vier Strophen bilden ein kreisförmiges Gefüge, dessen Mittelpunkt der Refrain ist. Dieses Wiederkehren schafft eine musikalische, fast liturgische Bewegung – der Text wird zu einem klanglich-rhythmischen Ritual des Vergehens.

2. Bildlichkeit und Elementesymbolik.

Die ästhetische Kraft des Gedichts liegt in seiner sinnlich konkreten, aber übertragenden Bildsprache: Bley und Eisen, kaltes Grab, grüne See, Steine und Echo. Diese Bilder verbinden Schönheit und Tod, Natur und Gefühl in barocker Ambivalenz.

3. Elegische Tonalität und galante Empfindung.

Abschatz erreicht eine Balance zwischen Wehmut und Anmut. Das Gedicht ist nicht düster, sondern von einer elegischen Süße getragen: das Leiden wird ästhetisch verklärt. Diese Spannung ist typisch für den galanten Barock, der Schmerz in Kunst verwandelt.

4. Mythologische und allegorische Schichtung.

Die Erwähnung von Galathee und Filidor führt in eine poetische Sphäre, in der Liebe allegorisch und mythisch zugleich ist. Diese Doppelstruktur – zwischen höfischer Fabel und innerem Erleben – verleiht dem Text eine ästhetische Tiefendimension, die über den Einzelfall hinausweist.

Rhetorische Dimension

1. Anapher und Refrain als Emblem der Leidenschaft.

Der immer gleiche Schlussvers Liebe macht, daß ich vergeh! fungiert als rhetorisches Emblem, das sowohl inhaltlich als auch strukturell die Macht der Liebe spiegelt. Die Wiederholung erzeugt suggestive Intensität und betont das Unentrinnbare des Gefühls.

2. Antithetischer Aufbau.

Jede Strophe stellt eine Opposition her: physischer Tod ↔ seelisches Vergehen; Bewegung der Natur ↔ Unbewegtheit der Geliebten; klagende Stimme ↔ stummes Echo. Diese Gegensätze sind barocke Kunstmittel, die die Dialektik von Leben und Tod sprachlich verdichten.

3. Personifikation und Allegorie.

Liebe, Schmertz und Weh erscheinen als handelnde Mächte – das ist klassische barocke Allegorisierung, die Gefühle zu Gestalten macht. Diese Rhetorik dient der Distanzierung: der Dichter spricht über das Leiden, aber stilisiert es zugleich.

4. Klanggestaltung und metrische Balance.

Der vierhebige mit weiblicher Kadenz schafft einen weichen, klagenden Rhythmus, der durch die Reimfolge (a b a b) musikalisch schwingt. Die Lautstruktur – besonders die Wiederkehr des weichen e in vergeh, Weh, See, Klee, Galathee – erzeugt eine harmonische Klangwelle, die das Motiv des Vergehens lautmalerisch ausdrückt.

Metaebene

1. Struktur und Refrain als Ausdruck existenzieller Vergeblichkeit

Das Gedicht ist formal streng symmetrisch gebaut: vier Strophen zu je vier Versen, in jeder Strophe der Refrain Liebe macht daß ich vergeh!. Diese formale Wiederholung schafft eine Kreisbewegung, die das Vergehen selbst rhythmisch inszeniert – der Sprecher kommt nie aus der Bewegung des Untergangs heraus. Auf der Metaebene bedeutet dies: das Gedicht reflektiert den Zwang zur Wiederholung als Form der poetischen Selbstauslöschung.

2. Selbstreferenzialität der Klage

Der Text kommentiert implizit den eigenen poetischen Akt. Indem Filidor seine Schmertzen klagt, verwandelt er Schmerz in Dichtung. Das Gedicht stellt so den Prozess poetischer Selbstthematisierung aus: das Leiden wird zum Stoff der Kunst, und die Kunst wiederum perpetuiert das Leiden, indem sie es in Worte bannt.

3. Distanz zwischen Sprecher und Figur

Der Sprecher berichtet in der dritten Strophe über Filidor, eine lyrische Figur. Damit entsteht eine doppelte Erzählebene: ein dichterisches Ich, das eine andere Stimme zitiert. Diese Verschachtelung erzeugt Distanz und verweist auf die poetische Künstlichkeit des Gefühlsausdrucks – eine barocke Reflexion über die Grenze zwischen Empfindung und Kunst.

4. Versteinerung und Echo als Metapher der Sprachvergeblichkeit

Die letzte Strophe hebt das Scheitern des poetischen Ausdrucks hervor: selbst die Steine reagieren, doch die Geliebte nicht. Nur das Echo antwortet – ein Sinnbild dafür, dass das lyrische Ich letztlich nur sich selbst hört. Auf der Metaebene bedeutet dies: Dichtung ist Selbstgespräch, das von Resonanz träumt, aber nur Widerhall erfährt.

Poetologische Dimension

1. Poetische Transformation von Schmerz in Klang

Der Refrain Liebe macht daß ich vergeh! ist nicht nur ein Bekenntnis, sondern auch ein Klangmotiv. Durch die Wiederholung wird Schmerz in musikalische Form überführt – eine poetologische Demonstration, dass Sprache Leiden rhythmisiert und ästhetisiert.

2. Nachahmung antiker und petrarkistischer Vorbilder

Der Name Galathee verweist auf die antike Nymphe, bekannt aus der Ovidischen Erzählung um Polyphem. Diese Anlehnung ist zugleich poetologisches Signal: Der Dichter greift auf mythisches Material zurück, um das individuelle Empfinden zu veredeln. Dichtung erscheint so als Fortsetzung antiker Formen in barocker Variation.

3. Selbstreflexion des poetischen Mediums durch das Echo-Motiv

Das Echo am Ende des Gedichts ist ein poetologisches Symbol: es steht für das Gedicht selbst, das als Wiederhall menschlicher Emotionen funktioniert. Der Dichter ruft in die Welt, die Poesie antwortet, aber sie bleibt Spiegel der eigenen Stimme.

4. Poetische Funktion des Todesmotivs

Die Gleichsetzung von Liebe und Vergehen ist eine barocke Poetik der Paradoxie: Das Gedicht zeigt, dass poetische Intensität gerade aus der Nähe zum Tod entsteht. Die Dichtung lebt davon, das Ende zu thematisieren, und gewinnt daraus ihre existentielle Energie.

Metaphorische Dimension

1. Metallische, maritime und vegetabile Metaphern des Todes

Die ersten Strophen kontrastieren verschiedene Todesarten: Bley und Eisen, Schmertz und Weh, grüne See. Diese Bilder erzeugen ein Panorama des universalen Vergehens – ein Gleichnis für die Allgegenwart des Todes im barocken Weltverständnis.

2. Liebe als metaphysische Krankheit

Liebe macht daß ich vergeh fungiert als Metapher einer zerstörerischen, übernatürlichen Macht. Liebe erscheint hier nicht als seelische Bindung, sondern als metaphysische Energie, die Leben vernichtet. Der Satz könnte als Umkehrung der christlichen Caritas gelesen werden: statt zur Erlösung führt Liebe zum Untergang.

3. Das Motiv des versteinerten Herzens

Es bewegten sich die Steine, / Doch nicht seine Galathe – die paradoxe Umkehrung der Naturgesetze (die toten Steine reagieren, die Geliebte nicht) symbolisiert emotionale Starre und unerreichbare Gnade. Die Geliebte wird zur Allegorie der Unerbittlichkeit des Schicksals oder der göttlichen Kälte.

4. Echo als Sinnbild der Einsamkeit und Selbstauflösung

Das Echo wiederholt, aber verändert nicht. Es ist Metapher für die Selbstspiegelung des lyrischen Ichs in der eigenen Klage. Damit steht das Echo für den metaphysischen Zirkel der barocken Existenz: Sprache wiederholt das Leiden, kann es aber nicht aufheben.

Literaturgeschichtliche Dimension

1. Einordnung in die Barocklyrik

Abschatz gehört zur zweiten Generation der schlesischen Dichterschule (neben Lohenstein und Hofmann von Hofmannswaldau). Sein Gedicht zeigt typische barocke Elemente: Vanitas-Motiv, Todesbewusstsein, Antithese von Leben und Tod, sowie formale Strenge und Refrainstruktur.

2. Beziehung zur petrarkistischen Liebeslyrik

Die Figur der Galathee, der Schmerz über Unerreichbarkeit, die Wiederholung der Klage – all dies greift auf petrarkistische Topoi zurück. Abschatz transformiert diese Tradition in die barocke Dialektik von Liebe und Tod.

3. Verbindung zur Mythologisierung des Gefühls

Der Rückgriff auf mythologische Namen (Galathee, Filidor als typisierte Figur) zeigt die Tendenz des Barock, individuelle Erfahrung durch antike Muster zu universalieren. Damit steht das Gedicht in der Tradition einer gelehrten Liebespoesie, die Emotionalität und Gelehrsamkeit verbindet.

4. Vorbereitung auf die Empfindsamkeit

Trotz seiner formalen Strenge enthält das Gedicht bereits Züge einer subjektiven Innerlichkeit. Die Betonung des individuellen Schmerzes (betrübtes Hertzen) deutet auf den Übergang zur empfindsamen Subjektivität des 18. Jahrhunderts.

Literaturwissenschaftliche Dimension

1. Analyse der Refrainstruktur als rhetorische Figur

Der wiederkehrende fungiert als anaphorisches Refrainmotiv, das eine Steigerung der emotionalen Intensität bewirkt. Literaturwissenschaftlich lässt sich dies als performative Wiederholung deuten: das Ich wird durch Sprache in seinem Leiden reproduziert.

2. Intertextuelle Resonanzräume

Der Text steht in Dialog mit antiken Mythen (Ovids Metamorphosen), der Tradition der höfischen Liebeslyrik und der christlich-barocken Todesmeditation. Diese Überlagerung von Diskursen macht ihn zu einem paradigmatischen Beispiel intertextueller Verdichtung im Barock.

3. Semiotische Spannung zwischen Klang und Bedeutung

Die Alliteration und der Assonanzcharakter (Liebe macht daß ich vergeh) erzeugen einen Lautfluss, der semantisch das Verlöschen evoziert. Sprache selbst wird hier zum Medium des Vergehens – eine strukturelle Selbstaufhebung des Sinns.

4. Psychologische Deutung

Die Figur Filidor kann als Projektion des Dichters gelesen werden: ein sprechendes Alter Ego, das seinen Schmerz in den Naturraum projiziert. Der Text wird so zur Bühne einer Innenbewegung, in der Natur, Mythos und Subjekt verschmelzen.

Assoziative Dimensionen

1. Liebestod und Passion

Das lyrische Ich (bzw. die Figur Filidor) erlebt die Liebe als tödliche Kraft. Liebe macht, daß ich vergeh! ist hier nicht nur Klage, sondern auch Hingabe — eine barocke Fusion von Eros und Thanatos. Die Liebe erscheint als Schicksalsmacht, der man sich nicht entziehen kann. Der Tod wird zur Erfüllung der Liebe, wie in der Tradition des amour mortel oder des petrarkistischen Liebesleidens.

2. Natur und Resonanz

Das Gedicht ist durchzogen von Naturbildern: grüne See, grüner Klee, Häyne (Haine). Diese Landschaft ist keine bloße Kulisse, sondern eine Art mitleidloser Spiegel der inneren Bewegung. Nur die Steine bewegen sich – paradox –, während Galathee, die Angebetete, unbewegt bleibt. Die Natur reagiert auf das Leiden des Liebenden, die Geliebte aber bleibt ungerührt.

3. Echo und Einsamkeit

In der letzten Strophe antwortet nicht die Geliebte, sondern das Echo. Das ist eine mythische Figur und zugleich ein Symbol für das vereinsamte, selbstreflexive Sprechen der Liebe: das Wort hallt zurück, aber es bringt keine Erfüllung. Hier klingt die Tragik der unerwiderten Liebe in einer fast orphischen Dimension an – das Echo als Stimme der Welt, nicht der Geliebten.

4. Pathos und Ironie

Der sich wiederholende Refrain hat einerseits etwas Hymnisches, fast litaneihaft, andererseits kann er auch als leichte Selbstironie gelesen werden. Diese Ambivalenz zwischen Ernst und überhöhter Klage ist typisch für den höfisch-galanten Ton Abschatz’, in dem Leidenschaft zugleich stilisiert und gebändigt erscheint.

5. Erstarrung und Bewegung

Das Spiel zwischen Belebtem und Unbelebtem (bewegte Steine, unbewegte Geliebte) deutet auf eine barocke Welterfahrung hin, in der die Natur selbst Spiegel und Paradoxon menschlicher Empfindung wird. Die Liebe setzt in Bewegung, aber sie führt in den Tod — das letzte, absolute Stillstehen.

Formale Dimension

1. Strophenbau und Wiederholung

Vier gleich gebaute Vierzeiler mit Kreuzreim (a b a b). Die formale Strenge kontrastiert mit der emotionalen Bewegung. Der Refrain Liebe macht, daß ich vergeh! (4, 8, 12, 16) strukturiert das Gedicht und gibt ihm musikalischen, fast liedhaften Charakter — typisch für barocke Kanzonetten- oder Liedformen.

2. Reim und Klangstruktur

Der Reim auf Weh / vergeh zieht sich durch alle Strophen. Diese lautliche Wiederkehr verleiht der Klage eine hypnotische Qualität; der Klang des eh-Lauts wirkt weich und klagend, zugleich offen — als ob der Laut selbst in den Tod hinein verhallt.

Der Wechsel von harten Lauten (Bley und Eisen) zu weichen (grünen Klee) spiegelt den Spannungsbogen von Gewalt und Liebesleid.

3. Rhythmus und Metrum

Der Wechsel von drei- und vierhebigen Versen lässt eine leichte rhythmische Unruhe entstehen. Die Kadenzen wechseln zwischen männlich und weiblich, was den Eindruck von Bewegung und Klage unterstützt.

Der Refrain wirkt metrisch stabiler, fast wie ein Stoßseufzer, der den emotionalen Fluss schließt.

4. Personifikation und Dialogizität

Die letzte Strophe enthält einen Mini-Dialog: Filidors Wort und das antwortende Echo. Diese rhetorische Bewegung (Klage → Antwort) schafft dramatische Dichte im kleinen Raum und verleiht der Lyrik theatralische Präsenz.

5. Namenssymbolik

Filidor (vom griechischen philos – Freund, Liebender) und Galathee (die Meeresnymphe aus der antiken Mythologie) stehen für klassische Liebesmythen, übertragen in höfische Kontexte. Dadurch verwebt Abschatz Mythologie, Allegorie und barocke Emblematik in komprimierter Form.

Topoi

1. Liebestod / amour mortel

Der Gedanke, dass Liebe tödlich ist, durchzieht die europäische Liebeslyrik seit der Antike. Abschatz stellt sich in diese Tradition, in der Tod und Erfüllung identisch werden.

2. Unerwiderte Liebe / crudelitas amoris

Die Unbewegtheit Galathees und die Resonanz des Echos gehören zum klassischen Topos der unerwiderten Liebe, der Liebende bleibt allein mit seiner Stimme.

3. Naturspiegelung / Sympathie der Welt

Der barocke Gedanke einer correspondentia zwischen menschlicher Seele und Weltkörper: die Natur reagiert auf das menschliche Gefühl. Hier ist sie teilnehmend, aber stumm-ironisch.

4. Vanitas und Vergehen

Liebe macht, daß ich vergeh spielt auch mit der barocken Vanitas-Formel. Vergehen heißt hier nicht nur Liebestod, sondern auch allgemeine Vergänglichkeit — der Mensch ist vergänglich durch alles, was ihn bewegt.

5. Echo-Topos

Das Echo ist Symbol der poetischen Selbstreflexion: die Stimme, die sich selbst hört, aber keine Antwort erhält. Im Barock wird dies oft als Metapher des dichterischen Bewusstseins gebraucht.

Literaturepochentypische Kontextualisierung

1. Barocke Doppeldeutigkeit von Leben und Tod

Das Gedicht steht im Zentrum der barocken Dialektik von vita und mors. Liebe ist hier nicht Erlösung, sondern ein Memento der Endlichkeit. Die Todesnähe steigert den Ausdruck des Lebens, das sich im Moment der Leidenschaft selbst aufhebt.

2. Galante Liebespoetik

Abschatz war Vertreter des galanten Barocks, der höfische Formstrenge und emotionale Raffinesse verband. Die Klage des Filidor ist kultiviertes Leiden – nicht rohe Passion, sondern stilisierte Empfindsamkeit, eingebettet in rhetorische Kunst.

3. Einfluss petrarkistischer Tradition

Wie in der petrarkistischen Lyrik findet sich das Motiv der kalten, unerreichbaren Geliebten (Galathee) und des männlichen Dichters, der im Leiden poetische Stimme findet. Die Wiederholung des Refrains spiegelt die Endlosschleife des Begehrens.

4. Emblematische Dichtung

Abschatz’ Gedicht steht zugleich in der Tradition der Emblematik: das Motiv Liebe tötet wäre bildlich leicht als Emblem darstellbar (Herz durchbohrt von Pfeilen, Liebender in Flammen). Das Gedicht ist sozusagen die verba-Ebene eines möglichen emblematischen pictura.

5. Höfische Rationalisierung des Leidens

Trotz des emotionalen Inhalts ist das Gedicht klar gebaut, regelhaft und musikalisch – der Affekt wird geordnet. Diese Balance zwischen Gefühl und Form ist barockes Prinzip: Leidenschaft wird durch Kunst gebändigt.

Abschließende strophenübergreifende Gesamtheitliche Zusammenfassung

1. Liebeserfahrung als existentielle Grenzerfahrung

Das Gedicht entfaltet eine Stufenfolge des Vergehens: von allgemeinem Tod (Blei und Eisen) über Naturtode (Meer) bis zum seelischen Tod in der Liebe. Liebe wird zur stärksten Macht, die das Ich über seine Grenzen hinaustreibt.

2. Formale Zirkularität als Sinnbild des Begehrens

Der refrainartige Aufbau erzeugt ein Kreislaufen – das Sich-Wiederholen des Schmerzes. Der Refrain Liebe macht, daß ich vergeh wird so zur performativen Formel: jedes Mal, wenn er gesagt wird, vergeht der Sprecher ein Stück mehr. Sprache wird hier Tat, Wort wird Schicksal.

3. Mythische Überhöhung des Individuellen

Durch Filidor und Galathee verwandelt sich eine individuelle Liebesklage in eine universelle Allegorie der Menschenseele. Der mythologische Bezug gibt dem Text Tiefe und Zeitlosigkeit.

4. Tragik der Unbewegt-heit

Während alles (selbst Steine) Anteil nimmt, bleibt die Geliebte kalt. Diese Kälte ist die barocke Erfahrung des Nicht-Erreichbaren, des Abstandes zwischen Ideal und Realität, zwischen Begehren und Erfüllung.

5. Poetische Selbstreflexion

Das Echo am Ende zeigt, dass die Klage letztlich nur im poetischen Raum weiterlebt. Die Liebe, die tötet, gebiert zugleich das Gedicht. Der Tod des Liebenden wird zur Geburt der Dichtung.

6. Barocke Einheit von Gefühl und Vergänglichkeit

Abschatz’ Text bündelt in Miniaturform das barocke Weltgefühl: Schönheit, Schmerz, Tod und Kunst sind untrennbar. Die Liebe ist Motor des Lebens und zugleich dessen Zerstörung. Die Refrainform bindet all dies in einen Kreis ewiger Wiederkehr – eine poetische Vanitas-Meditation.

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