LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 43 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Wenn ich beklagte Tag und Nacht1
Die Menge meiner herben Schmertzen/2
Wenn sie mit Blutt von meinem Hertzen3
Gleich würden zu Papir gebracht/4
So wird doch mehr als Schrifft und Mund5
Die Flammen/ die mein Hertze brennen/6
Dein Auge geben zu erkennen/7
Das meine Seele hat verwundt.8
Was kein Papir zu melden weiß9
Und meine Zunge muß verschweigen/10
Wird dir zur Gnüge können zeigen11
Dein Bildins und des Spiegels Eiß.12

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Wenn ich beklagte Tag und Nacht

Analyse

1. Der eröffnet mit einem Konditionalsatz (Wenn…) und setzt damit eine hypothetische Sprechsituation an, die das Folgende als Gedankenspiel markiert.

2. Die Zeitangabe Tag und Nacht totalisiert das Lamentieren: Es handelt sich um eine barocke Hyperbel, die Dauer und Ubiquität des Schmerzes rhetorisch verdichtet.

3. Syntaktisch trägt der anhebende Wenn-Satz zu einer Periodenbildung bei, die für die barocke Diktion typisch ist: Der Hauptsatz folgt erst später und steigert die Erwartung.

Interpretation

1. Das lyrische Ich inszeniert sich als permanent leidend — ein Topos der petrarkistischen Liebeslyrik, in der unablässiges Klagen die Intensität des Affekts beglaubigt.

2. Tag und Nacht stellt nicht nur Zeitfülle, sondern existentielle Totalität dar: Liebe (und ihr Schmerz) ergreift das Ganze des Lebens.

2 Die Menge meiner herben Schmertzen/

Analyse

1. Menge quantifiziert den Schmerz; Schmerz erscheint nicht singulär, sondern in einer Akkumulation — eine semantische Steigerungsfigur (Akkumulatio).

2. Das Adjektiv herben überträgt einen gustatorischen Bereich auf das Gefühl (Synästhesie), wodurch der Affekt körperlich-sinnlich gefasst wird.

3. Die Orthographie (Schmertzen) markiert die frühneuhochdeutsche Schreibweise, ohne den semantischen Kern (zärtlich/grell herbe Bitterkeit) zu beeinträchtigen.

Interpretation

1. Die Menge verweist auf Unzählbarkeit und damit Unbewältigbarkeit des Leidens; es ist nicht messbar, nur steigerbar.

2. Herb setzt die Liebespein zwischen Süße und Bitterkeit und bindet sie an die sinnliche Erfahrbarkeit des Körpers.

3 Wenn sie mit Blutt von meinem Hertzen

Analyse

1. Das Pronomen sie nimmt die Schmertzen auf; diese werden als mögliche Schreibsubstanz gedacht: Blut als Tinte.

2. Die Metonymie Blutt von meinem Hertzen (Blut = Lebenssaft; Herz = Sitz der Affekte) radikalisiert Authentizität: Das Innerste schreibt sich selbst.

3. Bildlich entsteht ein sakrifizielles Schreiben; der Textkörper würde aus dem verletzten Körper gespeist.

Interpretation

1. Das Ich bietet das Maximum an Wahrhaftigkeit an: nicht bloße Worte, sondern Lebenssubstanz. So wird Authentizität zur poetischen Währung.

2. Im Subtext schwingt die Mythopoetik des Zyklus-Titels mit (Anemons und Adonis Blumen): Blut, das sich in Zeichen verwandelt, erinnert an Adonis’ Blut, das zur Blume wird — Schmerz metamorphosiert in Gestalt (hier: Schrift).

4 Gleich würden zu Papir gebracht/

Analyse

1. Gleich (sofort, unmittelbar) behauptet direkte Medialisierung: vom Herzblut auf das Papir.

2. Die Passivkonstruktion (würden … gebracht) unterstreicht die Objektivierung des Innenlebens: Es lässt sich (scheinbar) technisch übertragen.

3. Die Materialität (Papir) lenkt den Blick auf das Medium und damit auf die Differenz zwischen Affekt und Darstellung.

Interpretation

1. Trotz maximaler Unmittelbarkeit bleibt es Papier — ein Symbol für die Unzulänglichkeit sprachlicher/medialer Repräsentation gegenüber der Überfülle des Affekts.

2. Der bereitet die Wendung vor: Selbst ein mit Blut geschriebener Text reicht nicht an das heran, was gleich als mehr als Schrifft und Mund bestimmt wird.

5 So wird doch mehr als Schrifft und Mund

Analyse

1. Mit So wird doch setzt der Hauptsatz (Apodosis) ein: adversativ (doch) gegen die bisher entworfene, ultimative Schreib-Geste.

2. Schrifft und Mund bündeln die zwei Hauptkanäle der Expression (geschriebenes und gesprochenes Wort); mehr als markiert deren Überbietung.

3. Rhetorisch liegt eine Hierarchisierung von Zeichen vor: Jenseits symbolischer (Schrift) und phonetischer (Mund) Zeichen tritt etwas Evidenteres.

Interpretation

1. Der Text entwirft eine Affektsemiotik: Es gibt Zeichen, die unmittelbarer überzeugen als Sprache — der Körper selbst.

2. Damit wird der Wahrheitsstatus verschoben: Nicht die diskursive Darstellung, sondern die physiognomische Evidenz gilt als höchste Beglaubigung.

6 Die Flammen/ die mein Hertze brennen/

Analyse

1. Die Flammen fungieren als Subjekt der genannten höheren Evidenz; der Relativsatz (die mein Hertze brennen) konkretisiert das innere Feuer.

2. Das Bildfeld Feuer/Flamme gehört zum festen Inventar der petrarkistischen Liebesrhetorik (Amor als Brandstifter des Herzens).

3. Semantisch wird Inneres (Affekt) als Elementares (Feuer) gefasst; die Metapher ist dynamisch und visuell.

Interpretation

1. Die Flammen sind als sichtbare Symptome (Erröten, Glut des Blicks, fiebrige Unruhe) lesbar: der Körper zeigt.

2. Zugleich kann Flammen die destruktive und reinigende Dimension der Liebe andeuten: Sie verzehrt und läutert das Ich.

7 Dein Auge geben zu erkennen/

Analyse

1. Die Fügung geben zu erkennen bezeichnet ein Offenbaren; syntaktisch steht dein Auge in exponierter Position.

2. Grammatisch ist eine dative Lesart (deinem Auge) mitzuhören; frühneuhochdeutsche Kasusökonomie und poetische Lizenz machen die Form plausibel.

3. Ambig ist die Rollenverteilung: Ist das Auge Adressat (dem gegeben wird) oder Agent (das gibt zu erkennen)? Der lässt beides anklingen.

Interpretation

1. Doppelrolle des Blicks: Das Auge der Geliebten ist Richterin/Leserin (dem die Wahrheit gezeigt wird) und zugleich Täterin (das verwundet).

2. So entsteht ein zirkulärer Blickakt: Der Blick, der verwundete, soll nun die Symptome (Flammen) lesen — Liebe als hermeneutischer Kreislauf.

8 Das meine Seele hat verwundt.

Analyse

1. Das fungiert hier als frühneuhochdeutsche Schreibweise für dass; es leitet den Kernsatz ein.

2. Pointe: Nicht nur das Herz, sondern die Seele ist verwundet — der Affekt wird ontologisch vertieft.

3. Verwundt (Orthographie mit -dt) schließt den Satz mit einer finalen, schweren Kadenz: Die Ursache der Zeichen (Flammen) wird benannt.

Interpretation

1. Die Wunde ist nicht bloß somatisch, sondern geistig/spirituell — das barocke Bewusstsein von der Durchdringung von Körper und Seele.

2. Der Täter ist implizit das Auge der Geliebten (Liebes-Topos der verwundenden Blicke). Die Liebe stiftet eine paradoxe Theologie des Leidens: Im Schmerz liegt Wahrheit.

9 Was kein Papir zu melden weiß

Analyse

1. Die Einleitung mit dem Relativpronomen Was setzt eine (zuvor vorbereitete) Aussage fort: Es geht um etwas, das einer Benennung harrt, aber sich der Schrift entzieht. Der öffnet semantisch einen Raum des Unaussprechlichen/Unaufschreibbaren.

2. Papir fungiert als Metonymie für die Schriftkultur (Brief, Gedicht, Dokument). Die Wahl des Mediums Papier legt den Akzent auf mediale Grenzen: Die Schrift weiß etwas nicht zu melden, d. h. sie vermag es nicht adäquat auszudrücken.

3. Das Verbgefüge zu melden weiß verschränkt Erkenntnis (wissen) und Mitteilung (melden). Darin liegt eine feine Ironie: Selbst wenn Sprache weiß, fehlt ihr das Vermögen, es zu melden—Wissen und Mitteilbarkeit fallen auseinander.

4. Klanglich wird durch den fallenden Kadenzschluss weiß eine erste Reimvorbereitung auf Eiß (V. 12) gesetzt; zudem kontrastiert die epistemische Farbe von weiß (Wissen) mit der späteren, sinnlich-bildhaften Evidenz (Spiegel).

Interpretation

1. Gemeint ist höchstwahrscheinlich ein affektiver oder delikater Gehalt (Liebe, Begehren, inneres Ergriffensein), der der literarischen Konvention nach nicht aufs Papier gehört—sei es aus Anstandsgründen (höfische Decorum-Regeln) oder weil er sich diskursiv nicht fassen lässt.

2. Der etabliert ein Ineffabilitäts-Topos: Wesentliches entzieht sich der Schrift; das lyrische Ich markiert damit sowohl Demut (die Unzulänglichkeit der Sprache) als auch Feinfühligkeit (die Sache ist zu zart für die Feder).

3. Zugleich kündigt er strategisch eine Medienverschiebung an: von der Schrift (Papier) zu einem anderen, geeigneteren Medium der Offenbarung, das später benannt wird.

10 Und meine Zunge muß verschweigen/

Analyse

1. Die Konjunktion Und schafft Parallelismus und Steigerung: Nicht nur die Schrift scheitert; auch die Mündlichkeit ist gebunden. So entsteht ein doppeltes Mediumversagen (Schrift und Rede).

2. Zunge steht metonymisch für das Sprechen; muß benennt Zwang—notwendig, nicht bloß freiwillig. Das kann soziale Normen (Diskretion, Standesregeln), situative Rücksichten oder das innere Ergriffensein (Sprachlosigkeit) bedeuten.

3. Verschweigen ist stärker als schweigen: Es impliziert ein bewusstes Nicht-Aussprechen dessen, was vorhanden ist. Das Geheimnis ist real, doch es wird absichtsvoll zurückgehalten.

4. Der Schrägstrich (Versende) markiert eine suspendierte Rede: Die Syntax zielt auf eine Auflösung im Folgenden; das Prospektive des Satzes hält Spannung.

Interpretation

1. Das lyrische Ich bekennt sich zur Diskretion. Inhaltlich konturiert sich arcana amoris: Geheimnisse der Liebe gehören nicht vor Publikum; sie verlangen Verschwiegenheit.

2. Gleichzeitig gewinnt das Schweigen eine ästhetische Würde: Nicht-Sagen kann mehr sagen—als Erwartungsfigur kündigt es ein anderes, wahreres Zeigen an.

3. Zwischen äußerem Zwang (höfische Etikette) und innerem Imperativ (Gefühle sind zu zart) entsteht eine Doppelbindung, die das Pathos der Verse trägt.

11 Wird dir zur Gnüge können zeigen

Analyse

1. Die Futur-Periphrase (wird … können zeigen) verlagert den Fokus von der defizitären Mitteilung (Schrift/Rede) zur künftigen Evidenz. Zur Gnüge verstärkt: Die anstehende Evidenz ist nicht bloß andeutend, sondern hinreichend, ja überreich.

2. Pragmatisch ist zeigen ein rezeptionslenkender Akt: Während Schreiben und Sprechen scheiterten, wird Demonstratives (zeigen) zum probaten Mittel. In der Rhetorik entspricht das demonstratio/evidentia—ein vor Augen Stellen.

3. Die Dativmarkierung dir klärt die Adressierung: Das Du (vermutlich die geliebte Person) ist die Zielinstanz der Evidenz. Die Kommunikation wird intim, dialogisch, performativ.

4. Der wirkt wie ein Gelenk: Er schließt das Schweigeparadox und öffnet den Weg zu den Medien, die diese Evidenz leisten.

Interpretation

1. Das Gedicht wechselt von logos (reden/schreiben) zu opsis (schauen). Wahrheit wird als Anschauung, nicht als Proposition erreicht.

2. Zur Genüge setzt ein stilles Versprechen: Das Du wird nicht nur überzeugt, sondern überzeugt durch Selbstsehen. Der Beweischarakter verschiebt sich vom Argument zum Anblick.

3. Damit zeichnet sich auch eine galante Ethik ab: Man drängt nicht mit Worten; man erlaubt dem Anderen, selbst zu sehen.

12 Dein Bildins und des Spiegels Eiß.

Analyse

1. Orthographisch ist Bildins = Bildniß (Bildnis). Es bezeichnet eine gemalte/gestochene Darstellung des Du—ein Porträt als Objekt der Verehrung und Präsenzersatz.

2. Des Spiegels Eiß lässt sich als die glatte, eis-artige Reflexfläche des Spiegels verstehen (Barocke Sprache kennt Eiß/Eis für die kalte, glatte, spiegelnde Fläche). Genitivkonstruktion hebt die Sache als Material/Medium hervor: die spiegelnde Fläche selbst.

3. Es stehen also zwei visuelle Medien nebeneinander: das fixierte Bild (Bildnis) und die unmittelbare, momentane Reflexion (Spiegel). Zusammen entfalten sie ein Hendiadyoin der Sichtbarkeit: Dauer (Porträt) + Aktualität (Spiegelbild).

4. Klanglich schließt Eiß den Reimkreis zu weiß (V. 9); inhaltlich verwandelt sich Wissen (weiß) in Eis (das Sichtmedium), also Erkenntnis in Anschauung.

Interpretation

1. Das Porträt birgt die kultische Stetigkeit der Anbetung: Es konserviert das Du. Der Spiegel bringt die lebendige Gegenwart des Du zur Erscheinung. Beide zeigen mehr als Worte sagen.

2. Möglich ist auch eine feine Ambivalenz: Eis erinnert an Kälte; die Spiegel-Fläche ist kalt – so könnte das Gedicht die kühle Wahrheit des Blicks evozieren: Der Spiegel schmeichelt nicht, er offenbart.

3. Zusammengenommen symbolisieren Porträt und Spiegel eine Poetik der Evidenz: Liebe wird nicht deklariert, sie blickt; Schönheit wird nicht gepriesen, sie erscheint.

4. Subtil mitschwingend ist der vanitas-Stich: Das Spiegelbild ist flüchtig; das Bildnis altert. Sichtbarkeit hat Dauer und Vergänglichkeit zugleich—ein barockes Doppelregister.

Gesamtschau
Organischer Aufbau und Verlauf

1. Exordium des Klagemotivs

Das Gedicht setzt mit einer hypothetischen Wendung ein: Wenn ich beklagte Tag und Nacht…. Hier wird die unendliche Ausdehnung des Schmerzes durch Dauer (Tag und Nacht) und Fülle (die Menge meiner herben Schmertzen) hervorgehoben. Der Sprecher positioniert sich in der Tradition petrarkistischer Liebeslyrik, wo Klage und Dauer des Leidens zentrale Topoi sind.

2. Metaphorisierung des Ausdrucks

Die Schmerzen werden nicht nur als seelisch vorgestellt, sondern auch als physisch: sie sind mit Blut verbunden, das aus dem Herzen fließt. Dieser Blutfluss würde – so die poetische Fiktion – auf das Papier übergehen. Damit verschränkt sich der innerste Lebenssaft mit der Schrift, wodurch das Schreiben selbst als ein Prozess der Ausblutung verstanden wird.

3. Grenze der Schrift

Trotz dieser starken Metaphorik erkennt der Sprecher die Grenzen von Schrift und Sprache an. Weder Schrifft noch Mund können das eigentliche Feuer seines Herzens vollständig transportieren. Hier entsteht ein poetologisches Moment: das lyrische Ich reflektiert die Unzulänglichkeit der eigenen Ausdrucksmedien.

4. Überbietung durch das Auge

Anstelle der Schrift tritt das Auge der Geliebten. Es fungiert als Spiegel und zugleich als Wunde: es gibt zu erkennen und ist der Ursprung der Verwundung der Seele. Die Dynamik verschiebt sich von der produktiven Tätigkeit des Ich (Schreiben, Sprechen) hin zu einem passiven Erkanntwerden durch den Blick der Geliebten.

5. Epiphanie im Spiegelbild

Am Ende kulminiert das Gedicht im Bild des Spiegels. Das Bildins und das Eiß (Eis/Glas des Spiegels) werden als die letzten Instanzen der Wahrheitserkenntnis hervorgehoben. Was nicht gesagt werden kann, was jenseits von Sprache liegt, das wird im Spiegelbild offenbar. Damit schließt das Gedicht mit einem paradoxen Umschlag: Schweigen und Spiegelung sagen mehr als jede Klage.

Psychologische Dimension

1. Spannung zwischen Ausdrucksdrang und Sprachlosigkeit

Psychologisch zeigt sich die innere Zerrissenheit des Sprechers: einerseits will er Tag und Nacht klagen, andererseits erkennt er die Unmöglichkeit, das Innerste vollständig sprachlich mitzuteilen. Das führt zu einem existenziellen Konflikt zwischen Kommunikationsbedürfnis und Schweigen.

2. Verlagerung der Subjektivität

Die Seele des Sprechers wird durch den Blick der Geliebten verwundt. Psychologisch bedeutet dies, dass das Subjekt seine Selbstbestimmung verliert: es hängt vollständig von der Reaktion der Geliebten ab. Das Innenleben des Ich wird von außen durchschaut und bestimmt.

3. Übermacht des Blicks

Der Blick der Geliebten wird zur zentralen psychischen Macht. Er hat sowohl eine destruktive als auch eine offenbarende Funktion: er verwundet, aber er zeigt auch die Wahrheit. Die Psyche des lyrischen Ichs wird also nicht mehr durch eigene Sprache gesteuert, sondern durch die Wahrnehmung des Anderen.

Ethische Dimension

1. Problem der Wahrhaftigkeit

Das Gedicht stellt die Frage, wie wahrhaft Liebesleid kommuniziert werden kann. Ist es ethisch genug, nur zu klagen? Oder ist es ehrlicher, das Unsagbare anzuerkennen? In der Anerkennung der Sprachgrenze liegt eine Haltung von Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit.

2. Passivität des Liebenden

Ethisch gesehen ergibt sich eine asymmetrische Beziehung: der Liebende ist ausgeliefert, während die Geliebte durch ihren Blick über die Deutungshoheit verfügt. Diese Passivität des Mannes entspricht einer Liebesethik, die den eigenen Willen opfert und sich in Selbsthingabe äußert.

3. Bild des Spiegels als ethische Instanz

Der Spiegel ist nicht nur ein poetisches Bild, sondern auch eine ethische Metapher. Er zeigt, was tatsächlich ist, ohne Beschönigung und ohne Rhetorik. Das lyrische Ich anerkennt damit die ethische Instanz des unverfälschten Bildes über jede sprachliche Selbstinszenierung.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Unendlichkeit des Leidens und Unzulänglichkeit des Ausdrucks

Philosophisch ist das Gedicht eine Reflexion über die Endlichkeit der Sprache gegenüber der Unendlichkeit innerer Erfahrung. Theologisch gesehen erinnert dies an die Tradition der ineffabilitas Gottes: wie Gott nicht adäquat in Sprache gefasst werden kann, so auch die innere Liebesflamme nicht in Schrift.

2. Liebeswunde als mystisches Motiv

Die Verwundung durch das Auge der Geliebten hat eine lange Tradition in der Mystik und der Liebesdichtung. Sie erinnert an den amor vulneratus des Hohenlieds oder auch an die mystische Wunde der Seele bei Bernhard von Clairvaux oder Johannes vom Kreuz. Die Wunde ist nicht nur Schmerz, sondern auch Offenbarung: in ihr zeigt sich die Wahrheit der Liebe.

3. Spiegelmetaphorik als Theologie des Bildes

Das Ende mit dem Spiegel weist auf eine erkenntnistheologische Tiefe: das Spiegelbild wird zur Analogie für menschliche Erkenntnis Gottes (speculum). In der scholastischen und mystischen Tradition war der Spiegel das Bild für die indirekte Gotteserkenntnis: wir sehen Gott nicht unmittelbar, sondern nur im Spiegel. Hier wird dieses Motiv auf die Liebeserkenntnis übertragen: das Eigentliche wird nicht durch direkte Sprache, sondern durch Spiegelung offenbar.

4. Schweigen als höchste Aussage

Theologisch ist das Schweigen oft die höchste Form des Redens über das Göttliche. So auch hier: das, was kein Papir zu melden weiß und meine Zunge muß verschweigen, wird gerade in diesem Schweigen zur höchsten Wahrheit. Es ist die negative Theologie der Liebe: das Unsagbare sagt am meisten.

Moralische Dimension

1. Das Gedicht stellt die Klage des lyrischen Ichs über sein Leiden in die Nähe einer moralischen Prüfung: nicht alles Leid kann durch Worte oder Schrift vermittelt werden, sondern die Wahrheit liegt im unmittelbaren Ausdruck des menschlichen Wesens. Dadurch entsteht eine Mahnung an Wahrhaftigkeit: wahres Empfinden soll nicht durch rhetorische Übertreibung, sondern durch innere Echtheit erkennbar sein.

2. Es zeigt eine moralische Haltung gegenüber der Liebe als Ernstfall des Lebens: das Herz ist verwundet, und die Verletzung wird nicht bagatellisiert, sondern als tiefgreifende Realität beschrieben. Der moralische Impuls besteht darin, die Liebe nicht als Spiel oder Oberfläche, sondern als existenzielle Verpflichtung zu begreifen.

3. Zugleich steckt im Gedicht ein moralischer Hinweis auf die Macht des Blickes des Geliebten: das Auge wird zur Instanz, die Wahrheit erkennen kann. Damit wird das Vertrauen in das moralische Vermögen des Anderen betont – die Möglichkeit, nicht nur das Gesagte, sondern das Verborgene und Verschwiegenen zu erfassen.

Anthroposophische Dimension

1. In anthroposophischer Lesart offenbart sich das Verhältnis zwischen innerem Seelenleben und äußerer Erscheinung: das brennende Herz ist ein Bild für das innere Geist-Erlebnis, das in der Begegnung mit dem Anderen offenbar wird. Der Spiegel und das Bildnis verweisen auf die Idee, dass im Sichtbaren das Unsichtbare zum Ausdruck kommt.

2. Die Diskrepanz zwischen dem, was Papier und Zunge nicht ausdrücken können, und dem, was das Auge erfasst, entspricht einem anthroposophischen Verständnis vom Wort hinter dem Wort. Das eigentliche Wesen des Menschen offenbart sich nicht in Sprache allein, sondern in einer geistigen Schwingung, die durch den Blick und durch das Bild (Spiegelbild, seelische Reflexion) erfasst wird.

3. Abschatz’ Dichtung deutet damit auf das Verhältnis zwischen Geist und Materie: Schrift bleibt äußerlich, während das Auge – als Tor zur Seele – eine unmittelbare Erkenntnis erlaubt. Im anthroposophischen Sinne wäre dies die Erfahrung des imaginativen Erkennens, das über das rein Intellektuelle hinausgeht.

Ästhetische Dimension

1. Das Gedicht arbeitet mit einer kunstvollen Kontraststruktur: Sprache und Schrift werden dem Blick und Spiegel gegenübergestellt. Damit entsteht ein ästhetisches Spannungsfeld zwischen medialer Vermittlung (Papier, Zunge) und unmittelbarer Präsenz (Auge, Bildnis).

2. Es zeichnet sich durch den Reiz des Unaussprechlichen aus: der Dichter entfaltet Schönheit gerade im Scheitern der Sprache. Dies ist eine ästhetische Strategie, die auf das Schweigen verweist und den Leser in einen Raum der Andeutung führt.

3. Die Form ist streng gebaut: ein durchgehender Zwölfzeiler mit klarer Klangführung. Der Wechsel zwischen klagendem Ton (Verse 1–4) und affirmativem Ausdruck des Blickes (Verse 5–12) erzeugt eine dramaturgische Ästhetik, die an barocke Vanitas- und Liebesdichtung anschließt.

Rhetorische Dimension

1. Die erste rhetorische Bewegung ist die Hyperbel: Wenn sie mit Blutt von meinem Hertzen / Gleich würden zu Papir gebracht – das Leiden wird so stark überhöht, dass es in Blut geschrieben sein müsste. Diese Übertreibung ist typisch barock und zeigt das Pathos der Klage.

2. Ein weiterer rhetorischer Zug ist die Antithese: Schrift und Mund werden der Macht des Blickes entgegengestellt. Diese Gegenüberstellung verstärkt den Eindruck, dass das wahre Leiden nur jenseits von Sprache erfahrbar ist.

3. Auch die Metaphorik des Feuers ist zentral: die Flammen/ die mein Hertze brennen. Hier wird das klassische Bild der Liebe als brennendes Feuer verwendet, das körperlich wie seelisch verzehrt. Rhetorisch steigert sich diese Bildlichkeit, indem sie von der Unzulänglichkeit der Sprache in den Bereich der sichtbaren Zeichen übergeht.

4. Schließlich wirkt die rhetorische Konstruktion der Bedingungssätze (Wenn ich beklagte...) als Antrieb der gesamten Strophe. Die wiederholten Wenn-Formeln spannen einen Erwartungshorizont auf, der erst in der zweiten Hälfte durch das so wird doch... aufgelöst wird. Diese Periodik ist ein stilistisches Kernmerkmal der barocken Rhetorik.

Metaebene

1. Das Gedicht reflektiert die Grenzen sprachlicher Mitteilung und setzt eine alternative Ebene der Verständigung ins Zentrum. Der Sprecher konstatiert, dass Schmerz und innere Glut zwar in Schrift und Rede fassbar erscheinen könnten, aber letztlich in ihrer ganzen Tiefe nicht wiedergegeben werden können.

2. Damit wird eine Spannung zwischen innerem Erleben und äußerer Ausdrucksmöglichkeit aufgebaut: Die Menge meiner herben Schmertzen kann nicht adäquat in Sprache transformiert werden. Die eigentliche Kommunikation geschieht im Blickkontakt, in der unmittelbaren Begegnung zwischen Subjekt und geliebtem Objekt.

3. Der Text macht sich selbst reflexiv: Er ist ein Gedicht, das die Unzulänglichkeit von Gedichten ausspricht. Zugleich versucht er performativ, durch Bilder und Metaphern dennoch etwas von dem Unsagbaren mitzuteilen.

4. Auf der Metaebene entfaltet sich so ein poetisches Paradox: Sprache wird als unzureichend erklärt, während doch gerade Sprache den Versuch unternimmt, diese Unzulänglichkeit auszudrücken.

Poetologische Dimension

1. Der Text versteht sich implizit als ein Kommentar zur Funktion der Dichtung. Er markiert die Grenzen von Papir und Zunge und verschiebt den Ort der eigentlichen Evidenz in das Auge des Anderen.

2. Poetologisch geht es damit um eine Kritik an der bloßen Schriftlichkeit: Gedichte können Leid artikulieren, aber sie bleiben äußerlich. Erst der Blick des Gegenübers, das Erkennen durch das Auge, vermittelt die innere Wahrheit des Gefühls.

3. Zugleich rechtfertigt sich die Poesie paradoxerweise: Sie kann das Unsagbare nicht direkt sagen, aber sie kann Bilder (Feuer, Blut, Spiegel) anbieten, die eine Spur des Inneren sichtbar machen. Insofern markiert das Gedicht eine Grundspannung barocker Dichtungsreflexion: die gleichzeitige Skepsis gegenüber Sprache und das Vertrauen in die poetische Bildkraft.

4. Die Anrufung von Papir und Zunge knüpft an die barocke Topik der Redekunst und Schreibkunst an, die stets zwischen Kunstfertigkeit und Wahrheit oszilliert.

Metaphorische Dimension

1. Das Gedicht lebt von drei zentralen Bildfeldern: Blut, Feuer und Spiegel.

Blut: Das Herz des Sprechers blutet, sein Schmerz ist so intensiv, dass er sich materialisieren könnte und zum Papir würde. Blut steht hier für Opfer, Leben, aber auch für Authentizität, da es unverfälscht aus dem Innersten stammt.

Feuer/Flamme: Das Herz wird von Flammen verzehrt. Feuer ist die klassische Metapher für Liebesleid, Leidenschaft und Vernichtung zugleich. Es ist ein Bild, das über Sprache hinausgeht, da es unmittelbare sinnliche Intensität evoziert.

Spiegel/Eis: Der Spiegel ist ein Medium der Wahrheit, das zeigt, was nicht gesagt werden kann. Interessant ist die Verbindung zum Eiß, womit vermutlich eine spiegelnde Eisfläche gemeint ist: kalt, klar, zugleich verletzlich. Dieses Bild verknüpft die heiße Leidenschaft mit der kühlen Klarheit der Spiegelung.

2. Zusammengenommen zeichnen diese Metaphern eine Polarität: heiße Innenglut versus kalte äußere Spiegelung. Die Spannung zwischen unaussprechlichem innerem Feuer und äußerer visueller Evidenz bildet das Herzstück der Bildlichkeit.

3. Die Metaphorik dient nicht nur als poetisches Ornament, sondern als Begründung der These: Was die Sprache nicht leisten kann, übernimmt das Bildhafte.

Literaturgeschichtliche Dimension

1. Das Gedicht steht in der Tradition der Barocklyrik, die stark von Antithetik, Emblematik und der Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen von Kunst geprägt ist. Die Topoi des brennenden Herzens und der unsagbaren Liebe gehören zu den Standardmotiven dieser Epoche.

2. Zugleich spürt man eine Nähe zur petrarkistischen Tradition: Die Leiden des lyrischen Ichs in der Liebe werden als unaussprechlich stilisiert, wobei Blick und Auge des Geliebten als Medium der Offenbarung betont werden.

3. Charakteristisch barock ist die Betonung der sinnlichen Wahrnehmung: Während die Schrift als unzulänglich gilt, wird dem Auge, dem unmittelbaren Bild, höchste Evidenz zugesprochen. Dies verweist auch auf das barocke Interesse am Emblem, das Bild und Wort verbindet.

4. Literaturgeschichtlich ist Abschatz Teil der Zweiten Schlesischen Schule. Diese ist geprägt von virtuoser Sprachkunst, elaborierter Metaphorik und einem hohen Bewusstsein für poetologische Fragestellungen. Das Gedicht zeigt die typische Selbstreflexivität dieser Strömung.

Literaturwissenschaftliche Dimension

1. Das Gedicht lässt sich als Reflexion über die Grenzen der Medialität lesen: Schrift (Papier) und Mündlichkeit (Zunge) werden explizit benannt, aber beide als unzureichend markiert. Der Text thematisiert so das Problem der medialen Unübersetzbarkeit von innerem Erleben in sprachliche Form.

2. Zugleich inszeniert das Gedicht eine Verschiebung von sprachlicher auf visuelle Kommunikation: Das Auge und der Spiegel treten als alternative Medien der Wahrheit auf. Dies erlaubt eine intermediale Lektüre, die die Differenz zwischen Text und Bild beleuchtet.

3. Innerhalb der Gattungstradition des barocken Liebesgedichts ist der Text ein Musterbeispiel für die Spannung zwischen Affekt und Rhetorik: Der Affekt wird als authentisch, unaussprechlich und unmittelbar stilisiert, während die Rhetorik in elaborierter Form dennoch darüber spricht.

4. Literaturwissenschaftlich interessant ist schließlich der performative Charakter: Der Sprecher behauptet, dass er nicht sprechen kann – und spricht gerade dadurch in höchst elaborierter Form. Dieses Paradox gehört zu den Grundmustern der barocken Affektpoetik und macht das Gedicht zu einem reflektierten Kunstwerk über seine eigenen Bedingungen.

Assoziative Dimensionen

1. Schmerz und Sprachlosigkeit

Das lyrische Ich beschreibt seine Leiden als so groß, dass selbst das Papier und die Sprache nicht ausreichen, sie zu fassen. Der Gedanke evoziert eine Assoziation von existenzieller Überfülle des Gefühls: das Leiden überschreitet das Medium der Schrift. Hier verbindet sich ein Bild körperlicher Wunde (mit Blutt von meinem Hertzen) mit dem geistigen Ausdrucksversuch, wodurch Schmerz und Sprache ineinander verwoben sind.

2. Liebe als Verwundung

Der Text knüpft an die lange Tradition der Amor-vulnus-Metaphorik an: der Blick der Geliebten verwundet die Seele. Dieses Bild lässt sich assoziativ mit antiker Liebesdichtung, höfischer Minnelyrik und barocken Petrarkismus in Beziehung setzen. Das Auge des Geliebten ist die Quelle einer unheilbaren Wunde, zugleich der Spiegel, in dem sich die Seele erkennt.

3. Feuer und Flamme als Liebesmetapher

Die Flammen, die das Herz verzehren, gehören zum klassischen Bildinventar der Liebeslyrik. Das Assoziationsfeld reicht von biblischen Bildern (Hoheslied: Liebe ist stärker als der Tod, ihre Glut ist Feuerglut) bis hin zu petrarkistischer Konvention, in der Feuer als leidenschaftliches und verzehrendes Element fungiert.

4. Spiegelbild und Erkennen

Die Schlusspointe des Gedichts: Was weder Zunge noch Papier ausdrücken kann, wird durch das Spiegelbild offenbart. Assoziativ knüpft dies an barocke Vanitas-Symbolik (Spiegel als Erkenntnismedium, Wahrheit und Täuschung zugleich) und an die Tradition der Liebesaugen an: im Auge des Geliebten erkennt man die eigene Empfindung gespiegelt wieder.

Formale Dimensionen

1. Strophenform und Länge

Die Strophe umfasst 12 Verse, ohne durch Zwischenreime in klassische Terzinen oder Sonettformen aufgeteilt zu sein. Diese Länge ermöglicht einen gedanklichen Bogen: von der hypothetischen Klage über die Insuffizienz der Sprache bis zur Schlusspointe mit dem Spiegelbild.

2. Reimstruktur

Das Gedicht weist eine konsequente Paarreimstruktur auf (aa bb cc dd …), was typisch für barocke Liebesgedichte ist. Diese klare Form bindet den leidenschaftlichen Inhalt in eine strenge Ordnung, wodurch sich eine Spannung zwischen eruptivem Gefühl und kunstvoller Form ergibt.

3. Hypotaxe und Periodenbau

Die erste Hälfte des Gedichts (Verse 1–4) ist durch ein hypothetisches Konstrukt geprägt: Wenn … so …. Diese grammatikalische Verschachtelung spiegelt die Rhetorizität der barocken Dichtung wider und verleiht dem Text den Charakter einer argumentativen Steigerung.

4. Antithetische Dynamik

Immer wieder tritt ein Gegensatz auf: Papier/Zunge versus Auge, Schrift versus unmittelbare sinnliche Erfahrung, Schweigen versus Erkennen. Form und Inhalt bilden eine Einheit, indem das Gedicht selbst die Unzulänglichkeit des Gedichts (als Schrift) thematisiert.

Topoi

1. Liebeswunde (Vulnus amoris)

Ein seit der Antike tradiertes Motiv: das Auge des Geliebten als Waffe der Liebe, die das Herz verwundet.

2. Feuer der Leidenschaft

Die Vorstellung der Liebe als brennendes Feuer, das verzehrt und quält, aber auch die Intensität der Leidenschaft sichtbar macht.

3. Unzulänglichkeit der Sprache

Barocker Topos: Das Gefühl übersteigt die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache und des Mediums Schrift. Nur das unmittelbare sinnliche Zeichen (das Auge, das Spiegelbild) kann die Wahrheit sichtbar machen.

4. Spiegelmotiv

Spiegel als Erkenntnis- und Enthüllungsmedium: das Bild des anderen reflektiert die innere Wahrheit. Im Kontext barocker Symbolik wird der Spiegel oft mit Wahrheit und zugleich mit Illusion assoziiert.

Literaturgeschichtliche Kontextualisierung

1. Barocke Liebeslyrik

Das Gedicht steht ganz in der Tradition der petrarkistischen Liebesdichtung, wie sie im deutschen Barock durch Dichter wie Martin Opitz, Paul Fleming oder Catharina Regina von Greiffenberg weitergeführt wurde. Die Verwendung klassischer Motive (Wunde, Feuer, Blick) zeigt den Rückgriff auf die Topik der Liebesklage.

2. Rhetorische Kunstfertigkeit

Charakteristisch für den Barock ist die Verschränkung von intensiver Gefühlssprache mit kunstvoller Rhetorik. Die Hypotaxe, die Paarreime und der argumentative Aufbau spiegeln das Ideal einer kunstvollen Ordnung wider, die das chaotische Gefühl bändigt.

3. Spiel mit Medialität

Barockdichtung reflektiert oft ihre eigene Medialität: hier die Frage nach dem Verhältnis von Schrift, Sprache, Schweigen und Blick. Diese Selbstreflexivität ist typisch für die Epoche, in der Kunst und Leben, Bild und Realität, Schein und Sein als zentrale Gegensätze verhandelt werden.

4. Abschatz im Kontext

Hans Aßmann von Abschatz gehört zu den sogenannten Zweiten Schlesischen Dichtern nach Opitz und Gryphius. Sein Werk zeigt die Fortführung des petrarkistischen Erbes, jedoch mit stärkerer Betonung der galanten Liebesdichtung, die in höfischen Kontexten gepflegt wurde.

Gesamtheitliche Zusammenfassung

1. Thematische Klammer

Das Gedicht entfaltet die Unmöglichkeit, die inneren Leiden und das Liebesfeuer vollständig in Sprache und Schrift zu bannen. Es führt so die Spannung zwischen innerem Gefühl und äußerem Ausdruck vor, wobei die Pointe im Spiegelmotiv liegt: nur der Blick und sein Abbild verraten die Wahrheit.

2. Symbolische Verdichtung

Die wichtigsten barocken Topoi – Liebeswunde, Feuer, Unzulänglichkeit der Sprache, Spiegel – verdichten sich in der kurzen Strophe zu einem konzentrierten Ausdruck barocker Liebesklage. Dabei zeigt sich eine fast emblematische Struktur: ein Bild (Feuer, Wunde, Spiegel) wird emblematisch für die Unsagbarkeit der Liebe.

3. Form und Inhalt

Der strenge formale Rahmen (Paarreim, Hypotaxe) kontrastiert mit der thematischen Erfahrung von Überfülle, Sprachlosigkeit und Leiden. Die barocke Kunst bringt so eine paradoxe Einheit hervor: Ordnung im Ausdruck von Unordnung.

4. Epochencharakter

Im Gedicht manifestiert sich das barocke Grundgefühl: die Erfahrung von Leidenschaft als übermächtiger Gewalt, die nicht rational zu kontrollieren ist, jedoch in kunstvolle sprachliche Form gebändigt wird. Zugleich spiegelt sich die Selbstreflexivität der Epoche in der Frage nach der Medialität der Empfindung.

5. Gesamteinschätzung

Abschatz gelingt es, mit knapper Form eine Fülle von Affekten und Symbolen zu bündeln. Das Gedicht ist exemplarisch für die barocke Liebeslyrik: kunstvoll, rhetorisch ausgefeilt, zugleich von einer Grundspannung zwischen Gefühl und Ausdruck geprägt. Es vereint antike und petrarkistische Tradition mit barocker Symbolsprache und verweist auf die höfisch-galante Kultur, in der es verortet ist.

Das Gedicht entfaltet in nur zwölf Versen eine kunstvolle Bewegung: vom Drang nach unendlicher Klage über die Einsicht in die Grenzen der Sprache hin zur Überbietung durch Blick, Wunde und Spiegel. Psychologisch zeigt es den inneren Konflikt des lyrischen Ichs, das zwischen Ausdruck und Sprachlosigkeit schwankt und sich der Macht des Blickes der Geliebten ausliefert. Ethisch reflektiert es die Fragen von Wahrhaftigkeit, Passivität und Selbsthingabe. Philosophisch-theologisch schließlich öffnet es eine Tiefe, in der Liebeserfahrung und mystische Gotteserfahrung ineinander gespiegelt werden: die Wunde als Offenbarung, das Schweigen als Wahrheit, das Spiegelbild als Symbol für indirekte Erkenntnis.

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