LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 41 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Die lange Nacht

Ihr faulen Stunden ihr/ wie währet ihr so lange!1
Der sonsten frühe Tag hält seinen Einzug auff/2
Der Sternen muntre Schaar steht still in vollem Lauff/3
Matuta lässet nach von ihrem schnellen Gange.4

O Himmel/ der mit sich die Himmels-Lichter ziehet,5
O Kreiß/ der sonst den Weg weist andern Kreißen an/6
Was hat mein Unschuld doch zuwider dir gethan/7
Daß man zur Plage mir dich also langsam siehet.8

Minuten sind mir Tag/ und Stunden sind mir Jahre/9
Der Zeit geschwinde Füß und Flügel sind von Bley.10
Ich glaube daß die Nacht der Zimber kürtzer sey/11
Und ich für meinem Tod ihr Ende nicht erfahre.12

Penelope beschwert von vieler Freyer Menge/13
Löst auff den Abend auff/ was sie den Tag gemacht:14
Ich schwere/ Phöbus geht zurücke bey der Nacht/15
Damit er seinen Weg und meine Pein verlänge.16

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 1

Ihr faulen Stunden ihr/ wie währet ihr so lange!1
Der sonsten frühe Tag hält seinen Einzug auff/2
Der Sternen muntre Schaar steht still in vollem Lauff/3
Matuta lässet nach von ihrem schnellen Gange.4

1 Ihr faulen Stunden ihr/ wie währet ihr so lange!

Analyse

Der beginnt mit einer direkten Anrede (Ihr … ihr): eine emphatische Apostrophe, die die Zeit personifiziert und als ansprechbares Gegenüber behandelt. Dadurch wird das subjektive Empfinden von Zeit zur Szene selbst.

Die Doppelformel Ihr … ihr erzeugt eine rhetorische Umklammerung und steigert den Vorwurfston; zugleich markiert die Binnenpause (durch den Schrägstrich angedeutet) eine starke Zäsur, die das stockende Vergehen der Stunden klanglich nachahmt.

Das Adjektiv faulen ist wertend: Es überträgt moralisch-körperliche Trägheit auf eine abstrakte Größe (Zeit), ein typischer barocker Anthropomorphismus.

Die Exklamation mit der rhetorischen Frage wie währet ihr so lange! verbindet Klage und Verwunderung; der Hyperbel-Charakter (Zeit währet so lange) spiegelt affektive Intensität wider.

Metrisch wirkt der barocke Alexandriner mit mittiger Zäsur plausibel; der Einschnitt vor wie dramatisiert das Empfinden der Dehnung.

Interpretation

Der Sprecher erlebt eine existenzielle Verzögerung: Zeit vergeht nicht an sich langsam, sondern für ihn. Damit tritt das barocke Thema der affektabhängigen Zeitwahrnehmung hervor (Leid dehnt, Freude verkürzt).

Faule Stunden lassen die Nacht zur psychischen Belastungsprobe werden. Ob Liebessehnsucht, Trennung oder Unruhe im Hintergrund steht, bleibt offen; die Klage bedient jedoch ein petrarkistisches Topos des tarda tempora im Liebesleid.

Die Personifikation erlaubt einen impliziten Vorwurf: Die Zeit handelt schlecht. So wird das Leiden des lyrischen Ichs externalisiert und in ein Konfliktverhältnis mit kosmischen Mächten gestellt.

Die Zäsur bildet das innere Stocken ab: Der stolpert an derselben Stelle, an der die Stunden stocken – Form und Inhalt korrespondieren.

2 Der sonsten frühe Tag hält seinen Einzug auff/

Analyse

Der sonsten frühe Tag etabliert eine Norm: Üblicherweise kommt der Tag früh – das Adverb sonsten kontrastiert das Gewohnte mit dem Jetzt.

Die feste barocke Formel Einzug halten (oft für feierliches Eintreten) wird hier negiert bzw. verzögert: hält … auf(f) meint hält auf, also verzögert. Die polyseme Nähe von Einzug (Zeremoniell) steigert die Erwartungshaltung.

Der erweitert die Personifikation der Zeit auf den kosmischen Tageslauf: Der Tag wird Akteur mit Willen, der seinen Auftritt verschiebt.

Syntax und gedehnte Phrase (hält seinen Einzug auf) verlängern semantisch das Eintreten; die Sprache vollzieht die Verzögerung performativ.

Interpretation

Das lyrische Ich verzeichnet einen Bruch im Weltlauf: Nicht nur die Stunden sind faul, sondern der Tag selbst versagt sein Kommen. Dadurch bekommt das subjektive Leiden den Anschein kosmischer Dimension.

Die Szene ist liminal: am Übergang Nacht–Morgen. Gerade dieser Übergang, der Hoffnung verheißen würde, bleibt verweigert; das intensiviert das Pathos der Erwartung.

Die höfisch-zeremonielle Metapher vom Einzug lässt den Morgen als ersehnten Herrscher erscheinen, dessen Ausbleiben politisch-rituellen Ernst gewinnt. Zeit wird zu Hofstaat, der die Bitte des Wartenden ignoriert.

In barocker Affektlogik steuert der auf die Steigerung zu: Nicht nur subjektives Empfinden, sondern der objektive Kosmos tritt gegen das Ich an.

3 Der Sternen muntre Schaar steht still in vollem Lauff/

Analyse

Schaar zeichnet ein Kollektivbild: Die Sterne als geordnete Truppe, militärisch-höfisch imaginiert. Muntre attribuiert Lebensfülle und Bewegung.

Der zentrale Ausdruck ist das Paradoxon: steht still in vollem Lauff. Die Verbindung unvereinbarer Bewegungszustände verdichtet den Eindruck des erstarrten Kosmos.

Klanglich häufen sich St-Laute (Sternen, Schaar, steht still), die eine schneidende, stoppende Phonetik erzeugen; der Binnenreim-Effekt steht/ still verstärkt die Zäsurwahrnehmung.

Der vergrößert die Skala: Von den Stunden (V. 1) über den Tag (V. 2) zum Sternenheer (V. 3) – eine barocke Gradatio, die die Weltordnung selbst in Stillstand zeigt.

Interpretation

Das Paradoxon visualisiert die Zeitdehnung radikal: Selbst dort, wo Lauf objektiv unaufhaltsam ist (Sphärenbewegung), steht für den Sprecher alles still.

Durch das Bild des Heeres entsteht eine subtile Kriegsmetaphorik: Der geordnete Marsch des Himmels wird aufgehalten, als stünde er unter Blockade. Zeit erscheint als belagerte Stadt.

Die Sterne, sonst Orientierung gebend, verlieren ihre teleologische Funktion; dadurch verschärft sich das Gefühl der Orientierungslosigkeit des Ichs.

Im Liebes- oder Leidenskontext verwandelt sich die Natur zur Mitspielerin des Affekts: Die gesamte Himmelsordnung solidarisiert sich mit der Nacht und gegen den Morgen.

4 Matuta lässet nach von ihrem schnellen Gange.

Analyse

Matuta (Mater Matuta) fungiert als mythologische Periphrase für die Morgen-/Frühe-Göttin; die barocke Diktion bevorzugt solche gelehrten Umwege statt der prosaischen Morgenröte.

Lässet nach ist eine Verlangsamungsformel; sie beschreibt einen Kontrollverlust der sonst schnellen Bewegung. Der schnelle Gang gehört zur etablierten Eigenschaft Matutas, die hier ausgesetzt wird.

Die mythologische Benennung verschiebt die Aussage auf eine kultisch-kosmische Ebene: Nicht nur Natur, sondern Göttin lässt nach. Das verschärft die Tragweite der Verzögerung.

Rhythmisch schließt der die Gradatio: Nach Stunden, Tag und Sternen gerät zuletzt die personifizierte Morgenmacht selbst ins Stocken – die höchste Stufe der Verzögerungssemantik.

Interpretation

Der Rückgriff auf Matuta macht das Ausbleiben des Morgens zur Sakralstörung: Der Ritus des Tagesanbruchs wird nicht vollzogen. Das Leid des Ichs erscheint metaphysisch verankert.

Die Formel schneller Gang erinnert an die gewöhnliche Raschheit der Morgenröte; ihr Nachlassen akzentuiert die Anomalie des Erlebten und spiegelt die Unmöglichkeit, das Warten willentlich zu beenden.

Mythopoetisch wird die psychische Erfahrung universalisiert: Ein privates Affektproblem (Sehnsucht, Schlaflosigkeit, Trennung) erhält mythische Bühne, wodurch es exemplarischen Charakter gewinnt.

Der bereitet thematisch die mögliche Fortsetzung vor: Wenn sogar Matuta schwächelt, kann nur ein ästhetisch-poetischer oder spiritueller Umschlag (Gebet, Bitte, Klage, Liebesappell) die Ordnung wieder in Gang setzen.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 2

O Himmel/ der mit sich die Himmels-Lichter ziehet,5
O Kreiß/ der sonst den Weg weist andern Kreißen an/6
Was hat mein Unschuld doch zuwider dir gethan/7
Daß man zur Plage mir dich also langsam siehet.8

5 O Himmel/ der mit sich die Himmels-Lichter ziehet,

Analyse

Der eröffnet mit einer Apostrophe (O Himmel), die den Kosmos als ansprechbares Gegenüber setzt; das schafft rhetorische Unmittelbarkeit und erlaubt, das Klage-Ich in eine dialogische Beziehung zur Weltordnung zu bringen.

Die Relativkonstruktion (der mit sich die Himmels-Lichter ziehet) präzisiert den angerufenen Adressaten funktional: gemeint ist nicht bloß die Himmelskuppel, sondern der bewegende, die Gestirne führende Himmel der vormodernen Kosmologie (Sphärenmodell).

Das Verb ziehen in der älteren Form ziehet konkretisiert Bewegung als Zug oder Mitnehmen; der Himmel ist der Motor, der die Lichter mit sich führt – eine Personifikation des Himmels als lenkender Akteur.

Die Alliteration Himmel / Himmels-Lichter bündelt Klang und Sinn und suggeriert eine innere Zugehörigkeit der Lichter zum Himmel, zugleich aber auch ihre Abhängigkeit.

Metrisch sehr wahrscheinlich ein barocker Alexandriner mit Zäsur nach der Anrufung, wodurch der Pathos-Impuls (O Himmel) spürbar vom erklärenden Relativsatz getrennt wird – eine typische barocke Balance von Affekt und Ordnung.

Interpretation

Das lyrische Ich richtet seine Erfahrung der langen Nacht an die höchste Instanz des Weltgefüges: Der Himmel wird als verantwortliche Ordnungskraft angesprochen, wodurch individuelles Leiden kosmisch aufgeladen wird.

Indem der Himmel die Lichter zieht, wird zeitliche Erfahrung an kosmische Bewegung gekoppelt: Die subjektiv gedehnte Nacht entspricht dem als zäh empfundenen Gang der Sterne.

Die Personifikation legt nahe, dass die Weltordnung nicht neutral, sondern intentional handlungsfähig erscheint; dies bereitet die spätere Beschwerde (Was hat mein Unschuld… getan) vor.

Durch die Anrufung entsteht eine Spannung zwischen majestätischer Ordnung (Himmel) und der Unruhe des Einzelnen; das barocke Grundthema von Kosmos und Pathos wird so bereits in einem angelegt.

6 O Kreiß/ der sonst den Weg weist andern Kreißen an/

Analyse

Wiederholte Anrufung (O …) als anaphorische Struktur intensiviert das Klageregister und steigert die rhetorische Dringlichkeit: vom Himmel (Gesamtheit) zum Kreiß (Einzelsphäre/Orbit).

Kreiß (Kreis) verweist auf die Sphären des ptolemäischen Weltbilds; andern Kreißen deutet ein hierarchisches System konzentrischer Bahnen an, in dem eine leitende Sphäre den übrigen den Weg weist.

Die Verbfügung den Weg weisen … an verbindet Navigation und Normativität: Der Kreis ordnet nicht nur Bewegung, er gebietet sie; sonst hebt die übliche, reguläre Funktionsweise hervor.

Die Polyptoton-Wirkung (Kreiß … Kreißen) erzeugt semantische Dichte: das Einzelne weist dem Vielen Richtung; die Ordnung ist zirkulär und selbstähnlich.

Semantisch wird Autorität in der Sphäre selbst lokalisiert: Nicht Gott direkt, sondern die kosmische Ordnung als sekundärer Vollzugsträger steuert Zeit und Dauer.

Interpretation

Das Gedicht präzisiert die Verantwortlichkeit: Nicht nur der Himmel allgemein, sondern die regulative Sphäre wird angeredet – die Klage zielt auf das scheinbar objektive Gesetz der Zeit-Kreise.

Sonst impliziert, dass gerade jetzt eine Abweichung von der Norm empfunden wird: Der Kreis, der üblicherweise zuverlässig lenkt, scheint im Erleben des Sprechers zu versagen oder sich zu verlangsamen.

Die kosmische Regie wird zur Folie für Liebes- oder Leidenszeit: Wenn die Sphäre den Weg weist, bestimmt sie auch, wie schnell die Nacht vergeht; das Subjekt erlebt damit sein Leiden als in den Himmel eingeschrieben.

Das Versprechen der Ordnung steht im Kontrast zur Erfahrung der Stockung: Daraus entsteht die barocke Erfahrung von Diskrepanz zwischen Weltordnung und innerem Zustand.

7 Was hat mein Unschuld doch zuwider dir gethan/

Analyse

Der Interrogativsatz mit Exklamationswert verlagert das Register von der Anrufung zur Anklagefrage; doch verstärkt Erstaunen und Empörung.

Unschuld fungiert als ethische Selbstmarkierung des lyrischen Ichs; sie setzt einen Kontrast zwischen persönlicher Integrität und kosmischer Gegnerschaft (zuwider + Dativ dir).

Die Dativkonstruktion zuwider dir ist syntaktisch prägnant: Sie markiert eine Relation der Widerläufigkeit, als habe die Unschuld des Ichs den Himmel provoziert.

Der nutzt die juristisch-theologische Semantik von Schuld/Unschuld, um das Leiden als unerklärte Strafe erscheinen zu lassen – ein typischer barocker Topos der fragenden Theodizee.

Klanglich stützt die Binnenhärtung (z-w-d) in zuwider den Widerstandsgedanken, während das weiche Un-schuld Verletzbarkeit und Reinheit codiert.

Interpretation

Das lyrische Ich sucht kausale Sinngebung: Wenn die Nacht sich quälend dehnt, muss eine Schuld vorliegen – doch da es Unschuld beansprucht, kippt die Frage in Anklage an die Ordnung.

In Liebespoesie der Epoche bedeutet Unschuld oft auch keusche Loyalität; die Beschwerde könnte implizieren: Für treue, reine Liebe wird der Liebende paradox bestraft.

Die Frage exponiert die Empfindung kosmischer Disproportion: Ein unschuldiges Subjekt erfährt Behandlung, als wäre es schuldig; damit wird das Leiden als metaphysisch skandalös markiert.

Die Wendung verschiebt Verantwortung vom Subjekt zur Instanz des Himmels: Nicht Was habe ich getan?, sondern Was hat meine Unschuld dir getan? – die Unschuld selbst erscheint als Stein des Anstoßes, was die Weltordnung paradoxalisiert.

8 Daß man zur Plage mir dich also langsam siehet.

Analyse

Der daß-Satz gibt die faktische Folge an, auf die die vorangehende Frage zielt: Das Resultat ist die als Plage empfundene Langsamkeit der Himmelsbewegung.

man … siehet als unpersönliche Konstruktion universalisiert die Wahrnehmung, doch der Dativ mir (Dativus incommodi) rückt das Ich als Leidtragenden ins Zentrum.

zur Plage setzt das Erleben der Zeit in den semantischen Rahmen von Strafe/Qual; es schließt an die juristisch-theologische Diktion des vorherigen Verses an.

Das Pronomen dich bezieht sich syntaktisch wahrscheinlich auf den zuvor angeredeten Kreiß (oder den Himmel als bewegende Instanz): Die kosmische Größe wird zum wahrnehmbaren, aber unerreichbaren Gegenüber.

Die Adverbpartikel also verstärkt den Grad der Langsamkeit; zusammen mit langsam wird ein subjektives Zeitdehnen markiert – ein zentrales Motiv barocker Liebesklage.

Interpretation

Die subjektive Erfahrung der langen Nacht wird als objektivierte kosmische Verlangsamung gedeutet: Nicht nur mein Empfinden, sondern der Himmel selbst bewegt sich zu langsam – so wird inneres Leiden in die Welt verlagert.

Zur Plage mir benennt deutlich die Funktion dieser Wahrnehmung: Die verlängerte Nacht ist nicht kontemplativ, sondern qualvoll; sie steht im Zeichen der Abwesenheit oder Unerfülltheit (erotisch, existenziell oder theologisch lesbar).

Die Logik der Strophe schließt sich: Eine Ordnung, die sonst zuverlässig lenkt, gerät für den Einzelnen in Stockung – diese Diskrepanz erzeugt die Anklage an den Himmel und begründet das Leiden.

Der verweist auf barocke Zeitsemantik: Leidenschaft dehnt die Zeit; Kosmos und Affekt bilden eine Korrespondenz, in der das Universum zum Spiegel der inneren Not wird – und gerade darin als Plage erscheint.

Zusammenbindender Hinweis zur Strophe (implizit in den vier Versen)

Die zweite Strophe entfaltet eine barocke Theodizeefrage im Medium der Liebesklage: Durch die doppelten Apostrophen und die semantische Kette Ordnung → Norm → Unschuld → Plage wird die erlebte Zeitqual kosmologisch gerahmt.

Rhetorisch führt die Anapher O … zu einer Steigerung vom majestätischen Ganzen zum lenkenden Teil (Himmel → Kreis), während die Frage- und Kausalkonstruktionen (Interrogativ, daß-Satz) das subjektive Leiden logisch motivieren, ohne es zu erlösen.

So entsteht das für die Epoche typische Spannungsfeld von hoher Ordnung und verletzlichem Ich, in dem das Individuum sein Leiden nur durch Anrede und Anklage des Kosmos artikulieren kann.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 3

Minuten sind mir Tag/ und Stunden sind mir Jahre/9
Der Zeit geschwinde Füß und Flügel sind von Bley.10
Ich glaube daß die Nacht der Zimber kürtzer sey/11
Und ich für meinem Tod ihr Ende nicht erfahre.12

9 Minuten sind mir Tag/ und Stunden sind mir Jahre/

Analyse

1. Dieser arbeitet mit einer konsequenten Hyperbel der Zeitdehnung: Kleinste Zeiteinheiten (Minuten) werden zu größten (Tag), größere (Stunden) gar zu Jahren; das erzeugt eine klare Klimax von Tag → Jahr.

2. Die antithetische Paarung von Minimal- und Maximaleinheit legt eine Erfahrungslogik des Wartens offen: je kleiner die reale Einheit, desto größer die subjektive Last – ein klassisches barockes Affektsignal für Liebessehnsucht.

3. Der Alexandriner mit seiner Zäsur nach Tag verschärft den Eindruck des gedehnten Zeitflusses: Der Einschnitt im teilt die beiden Bildhälften und lässt die semantische Dehnung hörbar werden.

4. Die Parataxe (… sind mir Tag / und … sind mir Jahre) und die Anapher der Kopula-Konstruktion erzeugen ein isokolisches Muster; diese Gleichförmigkeit im Satzbau imitiert zähes, repetitives Verstreichen.

5. Lexikalisch markiert mir die Subjektivität der Wahrnehmung: Es geht nicht um kosmische, sondern um affektiv gefärbte, phänomenologische Zeit.

6. Der bedient sich eines topischen Motivs der Liebeslyrik (nox longa, die lange Nacht): In der Abwesenheit der Geliebten verliert die Uhrzeit ihren Maßstab.

Interpretation

1. Das lyrische Ich erlebt die Nacht der Trennung als existenziell überdimensioniert: Seine innere Zeit löst sich vom objektiven Maß und wird zum Spiegel der Sehnsucht.

2. Die Hyperbel betont das Paradox des Wartens: Je intensiver das Begehren, desto schwerer lastet jede Minute, bis die Gegenwart als beinahe unendliche Dauer erscheint.

3. Im barocken Bezugsrahmen deutet sich eine Vanitas-Dimension an: Das Missverhältnis zwischen innerer und äußerer Zeit verweist auf die Fragilität menschlicher Maßstäbe.

4. Poetologisch reflektiert der Vers, dass Dichtung selbst Zeit umwertet: Sprache kann aus Minuten Jahre machen – ein Hinweis auf die Macht der Imagination im Affekt.

10 Der Zeit geschwinde Füß und Flügel sind von Bley.

Analyse

1. Die Personifikation der Zeit mit Füßen und Flügeln knüpft an das ikonographische Topos des geflügelten Tempus (Tempus fugit) an, widerspricht ihm aber augenblicklich.

2. Das Adjektiv geschwinde wird durch die Prädikation von Bley ironisch konterkariert: Es entsteht ein Oxymoron von Leichtigkeit und Schwere, Schnelligkeit und Trägheit.

3. Bley (Blei) evoziert den saturnischen Bedeutungsraum (Saturn/Kronos, Metall Blei, Melancholie): Der bindet Zeit an Schwere, Schwermut und Stillstand.

4. Klanglich fällt die Alliteration F (Füß und Flügel) auf; der weiche Fluss der F-Laute wird im Schlusswort Bley abrupt abgebremst, was den semantischen Bleischwere-Effekt phonetisch spiegelt.

5. Die Genitivfügung Der Zeit … Füß und Flügel bindet alle Bewegung an ein Subjekt, das hier bewegungsunfähig gesetzt wird: Bewegungsmetaphorik kippt in Immobilität.

6. Der Alexandriner trägt die Antithese über die Vershälfte hinweg, wodurch die Zäsur wie ein Scharnier zwischen traditionellen Topos (Schnelle) und barocker Negation (Blei) funktioniert.

Interpretation

1. Das übliche Motto Tempus fugit wird in Tempus tardat verwandelt: In der Liebesnot wird Zeit nicht flüchtig, sondern bleiern.

2. Der saturnische Unterton deutet das Warten als melancholische Grundstimmung: Liebesaffekt und Melancholie verschmelzen.

3. Philosophisch zeigt der Vers, wie Affekt Wahrnehmung formt: Zeit ist hier weniger physikalische Größe als affektive Qualität (leicht vs. schwer).

4. Poetologisch reklamiert der Text das Recht, kulturtradierte Topoi umzuschreiben: Barocke Dichtung erprobt Gegenbilder zum Gewohnten, um inneres Erleben präziser zu fassen.

11 Ich glaube daß die Nacht der Zimber kürtzer sey/

Analyse

1. Ich glaube markiert eine subjektive Evidenzformel: Nicht Wissen, sondern affektiv motivierter Glaube begründet die Aussage.

2. der Zimber ist eine frühneuhochdeutsche Form für Dezember; gemeint sind die traditionell längsten Nächte des Jahres.

3. Im logischen Gehalt behauptet der paradoxerweise, die Dezembernacht sei kürzer – implizit als diese Nacht: Das ist eine bewusste Überbietung der Hyperbel.

4. Die Setzung kürtzer arbeitet mit komparativer Ellipse: Der Vergleichsmaßstab (als diese Nacht) bleibt ungesagt, ist aber aus dem Kontext zwingend mitzudenken.

5. Thematisch verschiebt sich das Feld von innere Zeit zu Jahreszeit: Subjektives Leiden relativiert sogar den Kosmos der Natur.

6. Der schließt an die Traditionslinie der nox hyemalis (Winter-/Dezembernacht) an, um die Singularität dieser erlebten Nacht hervorzuheben.

Interpretation

1. Der Vergleich mit der Dezembernacht soll das Ungeheure des Wartens skalieren: Selbst das Maximum natürlicher Dunkelheit erscheint geringer als die innere Finsternis der Trennung.

2. Das Bekenntnis Ich glaube macht das Gedicht zur Affektdiagnose: Die Wahrheit liegt im Erleben, nicht im Kalender.

3. Theologisch-existentiell lässt sich die Nacht als Erprobungsraum lesen, in dem die Zeit zur Qual der Seele wird – ein barockes Motiv der Prüfung und Beständigkeit.

4. Poetisch fungiert der als Steigerungsstufe: Nach der bleiernen Zeit wird nun selbst die kosmische Ordnung semantisch unterlaufen.

12 Und ich für meinem Tod ihr Ende nicht erfahre.

Analyse

1. für meinem Tod steht frühneuhochdeutsch für vor meinem Tod; syntaktisch wird so ein eschatologischer Horizont eröffnet.

2. Die Formulierung ihr Ende nicht erfahre personifiziert die Nacht als etwas, dessen Ende man erlebt/erfährt – das Erfahrungsmoment wird verneint.

3. Der bildet den Kulminationspunkt der Hyperbel: Die Nacht scheint unendlich, weil ihr Ende erst jenseits des Lebens denkbar wird.

4. Der Paradox-Effekt entsteht durch das Zusammenziehen von temporaler Qual und finaler Grenze (Tod); Zeit wird qualitativ zur Ewigkeit des Leidens aufgebläht.

5. Prosodisch fällt die Kadenz auf: Das gewichtige Schlusswort erfahre trägt den Widersinn, dass Erfahrung versagt bleibt.

6. Semantisch bindet der die vorangehenden Motive (Zeitdehnung, Bleischwere, Dezembervergleich) in einer eschatologischen Überbietung zusammen.

Interpretation

1. Das Ich imaginiert eine Nacht, deren Ende es nicht mehr miterlebt: Die Liebesqual erhält den Ernst einer Todesdrohung – rhetorisch überhöht, emotional jedoch stimmig.

2. Barocke Vanitas-Poetik schimmert durch: Liebe konfrontiert den Menschen mit seiner Endlichkeit, indem sie Zeit in Existenzzeit verwandelt.

3. Zugleich klingt eine poetische Selbstaussage an: Nur die Dichtung vermag eine Erfahrung zu artikulieren, die per definitionem nicht erfahren wird – das Ende der endlosen Nacht.

4. In der inneren Logik des Gedichts wird die Nacht zur negativen Ewigkeit, einem Gegenbild zur heilsgeschichtlichen Ewigkeit; das setzt die erfahrene Finsternis in einen metaphysischen Kontrast.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 4

Penelope beschwert von vieler Freyer Menge/13
Löst auff den Abend auff/ was sie den Tag gemacht:14
Ich schwere/ Phöbus geht zurücke bey der Nacht/15
Damit er seinen Weg und meine Pein verlänge.16

13 Penelope beschwert von vieler Freyer Menge,

Analyse

1. Der eröffnet mit der mythischen Exemplum-Figur Penelope, die in der frühneuzeitlichen Literatur als Inbild ehelicher Treue und constantia gilt; der Name fungiert als kulturelles Kürzel, das sofort einen ganzen Wertehorizont (Keuschheit, Geduld, Taktik des Aufschubs) aktiviert.

2. Die Fügung beschwert von vieler Freyer Menge arbeitet mit einem doppelten Quantifizierer (vieler … Menge), der die Last nicht nur benennt, sondern semantisch verdichtet. Dadurch wird Penelopes Situation nicht neutral beschrieben, sondern als physisch-moralische Zumutung gewichtet.

3. Syntaktisch liegt eine participiale Konstruktion vor, die Penelope attributiv charakterisiert; sie ist nicht handelndes Subjekt, sondern Objekt der Zumutungen. Das unterstützt das Bild der passiven Belagerten.

4. Lexikalisch verweist Freyer (orthographisch frühneuzeitlich für Freier) auf die Werber; klanglich liegt ein leichter Binnenklang zwischen Freyer und Menge vor, der den Druck der Masse akustisch spürbar macht.

5. Rhetorisch ist der ein klassisches exemplum: Der historische Mythos wird als paradigmatischer Fall eingeführt, der gleich als Folie für die Gegenwart des lyrischen Ichs dienen wird.

Interpretation

1. Der Rekurs auf Penelope hebt das Thema der Geduld im Leiden hervor: Wer wartet, hält stand, ohne nachzugeben. Das bereitet den Übergang zur Klage des Ichs über die ausgedehnte Nacht vor.

2. Zugleich verlagert der ein privat-affektives Leiden (Liebespein) in einen quasi epischen Bezugsrahmen. Die eigene Nacht erscheint nicht banal, sondern von mythischer Gravität beschwert.

3. Der Ausdruck beschwert deutet nicht nur äußeren Druck, sondern auch moralische Bewährung an: Die Last wird getragen, nicht abgestreift. Das antizipiert eine Haltung, die auch das Ich beanspruchen möchte.

4. In der barocken Emblematik steht Penelope für constantia gegen die Menge als Bild der Kontingenz und Versuchung. Der kodiert so früh ein Werturteil: die Einzelne als Form, die Masse als formloses Drängen.

14 Löst auff den Abend auff, was sie den Tag gemacht:

Analyse

1. Der paraphrasiert die bekannte Odyssee-Episode: Penelope trennt abends (heimlich) wieder auf, was sie tags gewebt hat, um die Entscheidung über die Wahl eines Freiers hinauszuzögern.

2. Die gedoppelte Präposition/Partikel auff … auff (frühneuzeitliche Schreibung) erzeugt eine klangliche Iteration, die das motivische Auflösen ikonisch nachahmt: Die Sprache verfährt auflöslich, wie die Handlung.

3. Die Antithese Abend vs. Tag gliedert den Tageslauf und bildet ein temporales Pendel. Das syntaktische Parallelismus-Gefüge (Abend ↔ Tag; lösen ↔ machen) betont zyklisches Tun und rückläufige Bewegung.

4. Semantisch liegt eine Umkehrfigur vor: Produktion wird durch Destruktion neutralisiert. Das entspricht einem barocken Nullsummenspiel der Zeit, in dem Arbeit nichts fortschreibt, sondern verschwindet.

5. Das Satzgefüge ist performativ: Der Präsens-Erzählduktus bringt die listige Technik in die Gegenwart des Textes und macht sie als Modell verfügbar.

Interpretation

1. Penelopes Strategie wird zur Metapher der Zeitaussetzung: Indem sie Fortschritt rückgängig macht, konserviert sie die Gegenwart des Wartens. Das spiegelt die Erfahrung des lyrischen Ichs, für das die Nacht nicht vergeht.

2. Der zeigt ein anthropologisches Grundmotiv barocker Liebesklage: Zeit ist nicht linearer Trost, sondern ein Kreisel, der an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Das erklärt emotional, warum Leiden als verlängert erlebt wird.

3. In der poetologischen Selbstspiegelung lässt sich das Weben/Auflösen auch als Metapher des Dichtens lesen: Der Text produziert und tilgt, um Affekt zu halten, nicht um Handlung zu beschleunigen.

4. Moralisch rahmt der die List als legitime Tugendtechnik: Das Auflösen ist kein Verrat, sondern ein Schutz der Treue. So entsteht eine leise Apologie des Aufschubs als Tugend des Maßes.

15 Ich schwere, Phöbus geht zurücke bey der Nacht,

Analyse

1. Die Form Ich schwere ist eine frühneuzeitliche Schreibweise für Ich schwöre; sie inszeniert den emphatischen Einsatz des Ich-Sprechers und markiert einen Eid als Wahrheitsversicherung.

2. Phöbus (Apollo als Sonnengott) fungiert als kosmisches Deus-ex-machina-Bild. Durch den mythologischen Namen wird das Naturphänomen der Nacht allegorisiert und personalisiert.

3. Die Aussage ist paradox: Der Sonnengott geht zurücke – die Sonne kann in der Nacht nicht rückwärts gehen. Die Figur ist hyperbolische Personifikation und paradoxon zugleich, eine typische barocke Schärfung.

4. Bey der Nacht bestimmt den Rahmen, in dem die vermeintliche Rückläufigkeit geschieht: In der Dunkelheit werden Maß und Richtung ungewiss. Das semantische Feld von Orientierungslosigkeit färbt auf den Affekt ab.

5. Rhetorisch wird die Naturordnung als parteiisch vorgestellt; der Kosmos selbst scheint am Affekt des Ichs mitzuwirken. Das ist pathetic fallacy avant la lettre und verstärkt die Subjektzentrierung.

Interpretation

1. Der Schwur verwandelt subjektives Empfinden in vermeinte Kosmologie: Weil das Leiden so intensiv ist, muss sich sogar die Sonne widernatürlich verhalten. Die Hyperbel beglaubigt, anstatt zu täuschen.

2. Das Bild der Rückläufigkeit artikuliert den Stillstand der Zeit im Schmerz. Wenn Phöbus nicht voranschreitet, rückt der Morgen nicht näher; die Nacht dehnt sich aus wie ein elastischer Stoff.

3. Mythopoetisch nimmt das Ich sich die Autorität, den Himmelskörper zu deuten – ein barockes Machtspiel der Sprache, in dem Metapher zur Weltordnung wird. Damit wird das Gedicht selbst zur Sphäre der Gesetzgebung.

4. Der verknüpft den zuvor eingeführten Penelope-Topos mit dem Kosmos: Wie Penelope die Zeit aufhält, hält auch Phöbus inne. Das erzeugt ein konzertiertes Bild der Verzögerung auf menschlicher und kosmischer Ebene.

16 Damit er seinen Weg und meine Pein verlänge.

Analyse

1. Damit setzt einen Finalsatz: Der Satz unterstellt eine Absicht des Phöbus. Die Personifikation schlägt in Teleologie um; der Kosmos erhält Zielgerichtetheit – allerdings zugunsten des Leidens.

2. Die Kopplung seinen Weg und meine Pein bildet eine koordinierende Doppelung, die Naturbewegung und subjektive Affektbewegung parallel schaltet. Der Gleichlauf wirkt wie eine synkrisis: Lauf der Sonne = Lauf der Qual.

3. Das Verb verlänge fungiert als semantischer Schlussstein des gesamten Quartettes: Es benennt offen, was die Penelope-List implizit tat und was die Rückläufigkeit Phöbus’ suggerierte – eine Ausdehnung der Zeit.

4. Klanglich rahmt der jambische Zug des Verses (im barocken Alexandrinerfeld) den gedehnten Vokal von verlänge, wodurch der Ausdruck die Bedeutung ikonisch stützt: Auch der Ton dehnt sich.

5. Grammatisch steht das Ich nicht mehr schwörend im Vordergrund, sondern als Objekt des Effekts (meine Pein). Dadurch schließt der mit einem Affekt-Fokus, der die Mythen- und Kosmosbilder auf das Leiden bündelt.

Interpretation

1. Der Finalsatz verleiht dem Leiden eine kosmische Kausalität: Nicht nur kommt der Morgen nicht, vielmehr will der Kosmos das Warten verlängern. Das intensiviert die existentielle Ohnmachtserfahrung.

2. Die enge Verbindung von Weg und Pein deutet Zeit als medium doloris: Zeit ist nicht neutraler Träger, sondern Mit-Akteur der Qual. Das Gedicht zeichnet so eine barocke Ontologie der Zeit als Affektverstärker.

3. Im Rückblick auf Penelope verschiebt sich die Moralfigur: Bei ihr verlängert die List die Zeit, um Treue zu schützen; beim Ich verlängert die kosmische List die Zeit, um Treue auf die Probe zu stellen. In beiden Fällen regiert Aufschub – einmal als Tugend, einmal als Prüfung.

4. Poetologisch erklärt der Schlussvers die Funktion des Gedichts selbst: Indem es das Verlängern ausspricht, verlängert es die Nacht imaginär. Die Dichtung wird zum Gefäß, das das Vergehen der Zeit hemmt, damit Gefühl nicht verflacht.

Fazit Strophe 4

1. Strophe 4 verknüpft drei Ebenen der Verzögerung: das mythisch-ethische Modell (Penelope), die alltägliche Zeitstruktur (Tag/Abend) und die kosmische Allegorie (Phöbus). Alle drei werden so choreographiert, dass Verlängerung zur gemeinsamen Signatur wird.

2. Der Übergang vom narrativen Exemplum (V. 13–14) zur emphatischen, schwurunterlegten Ich-Rede (V. 15–16) markiert die Transformation von fremder List in eigene Pein. Das Gedicht bewegt sich damit von moralischer Anschauung zu affektiver Evidenz.

3. Formal arbeiten Antithesen, Wiederholungen und Personifikationen zusammen, um Zeit nicht als Linie, sondern als elastisches Band zu zeichnen. Daraus gewinnt die Klage ihre barocke Größe: Das Individuum erfährt sein Leiden als kosmisches Ereignis.

Gesamtschau
Organischer Aufbau und Verlauf

1. Eröffnung durch die Klage über die Stunden (Verse 1–4):

Das Gedicht setzt unmittelbar mit einem Aufschrei ein: die faulen Stunden dauern endlos, der Tag, der sonst früh anbricht, verzögert sich, die Sterne halten still, und selbst die Morgenröte (Matuta) tritt zurück. Schon in dieser Exposition wird der ganze Kosmos in die subjektive Empfindung des lyrischen Ichs hineingezogen – die Zeit vergeht nicht, das Weltgefüge scheint stillzustehen.

2. Anrufung von Himmel und Kreis (Verse 5–8):

Im zweiten Teil steigert sich die Klage in eine Art rhetorisches Gebet: der Himmel mit seinen Gestirnen und der Himmelskreis, der sonst die Ordnung der Bewegungen lenkt, scheinen sich gegen das Ich verschworen zu haben. Hier erscheint der Zeitstillstand nicht mehr bloß als subjektive Empfindung, sondern als objektive kosmische Verweigerung.

3. Subjektive Zuspitzung (Verse 9–12):

Nun wendet sich das Gedicht der psychologischen Erfahrung zu: Minuten werden zu Tagen, Stunden zu Jahren, die Zeit ist schwer wie Blei. Daraus ergibt sich die paradoxe Klage, dass die Nacht der Zimber (Waldvölker im Norden) kürzer sei als diese endlose Nacht, die für das Ich vielleicht nie zu Ende geht – ein Bild des Todes ohne Erlösung.

4. Mythologische Konkretion und Schlusswendung (Verse 13–16):

Schließlich wird die Empfindung mit mythischen und literarischen Beispielen unterfüttert: wie Penelope bei Homer ihr Gewebe nachts wieder auflöst, so scheint auch der Lauf der Zeit rückgängig gemacht zu werden. Phöbus (die Sonne) geht zurück und verlängert dadurch die Pein. Das Gedicht endet mit einer ironisch-tragischen Zuspitzung: selbst das Weltgestirn kehrt um, um das Leiden des lyrischen Ichs zu verlängern.

Psychologische Dimension

1. Zeitdehnung durch Leiden:

Das Grundmotiv des Gedichts ist die subjektive Wahrnehmung der Zeit im Zustand der Sehnsucht oder des Schmerzes. Psychologisch gesehen zeigt sich eine Projektion: das Leiden dehnt die Sekunden zur Ewigkeit.

2. Gefühl der Verschwörung der Weltordnung:

Die seelische Last wird so intensiv empfunden, dass das Ich glaubt, die gesamte Natur und der kosmische Rhythmus hätten sich gegen es verschworen. Das deutet auf eine gesteigerte Affektlage hin, die den Einzelnen ins Zentrum des Universums stellt.

3. Verlust von Hoffnung und Erlösung:

Die Nacht wird als so endlos empfunden, dass das Ich sogar zweifelt, ihr Ende noch vor dem Tod zu erleben. Diese psychologische Dimension ist zutiefst existentiell: es geht nicht nur um Liebes- oder Sehnsuchtsqual, sondern um die Ausweglosigkeit der Situation.

4. Flucht in Mythen und Analogien:

Um das eigene Leiden auszudrücken, greift das Ich auf bekannte Figuren und Bilder zurück: Penelope und Phöbus. Das ist psychologisch gesehen ein Versuch, das persönliche Leiden in einen größeren Deutungsrahmen einzubetten – die mythischen Gestalten dienen als Spiegel und Bestätigung.

Ethische Dimension

1. Unschuld als Ausgangspunkt (7):

Das Ich betont seine Unschuld und wirft der Weltordnung vor, es dennoch zu strafen. Ethisch steht hier der Gedanke der Unverhältnismäßigkeit im Vordergrund: ein Unschuldiger wird von Leiden heimgesucht.

2. Klage gegen die Ordnung des Himmels:

Die rhetorische Anrufung des Himmels kann als ein ethisches Infragestellen der göttlich-kosmischen Ordnung gelesen werden. Der Vorwurf: warum muss ein Unschuldiger leiden, warum diese unnötige Verlängerung der Qual?

3. Vergleich mit Penelope als moralische Lehre:

Penelopes Täuschung der Freier durch ihr Auflösen des Gewebes hat eine moralische Ambivalenz: List und Geduld zugleich. Indem das lyrische Ich sich auf sie bezieht, wird auch die eigene Geduld als moralische Tugend, aber auch als qualvolle Belastung sichtbar.

4. Leid als ethische Prüfung:

Die Nacht ist nicht nur psychologisch, sondern auch ethisch eine Prüfung der Standhaftigkeit. Das Ich wird auf die Probe gestellt: Geduld, Klage, Unschuld – alles wird in der Langsamkeit der Zeit gewogen.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Zeit und Ewigkeit:

Das Gedicht inszeniert die Relativität der Zeitwahrnehmung. Minuten dehnen sich zu Tagen, Stunden zu Jahren – ein klassisches Motiv der existentiellen Zeitphilosophie, das schon bei Augustinus (Confessiones XI) anklingt: Zeit existiert nur in der Seele, als distentio animi.

2. Kosmische Ordnung und Theodizee-Frage:

Der Himmel und der Himmelskreis, eigentlich Symbole der göttlichen Ordnung, erscheinen hier als quälend. Daraus ergibt sich die theologische Frage: warum lässt die göttliche Ordnung das Leiden des Unschuldigen zu? Damit steht das Gedicht im Spannungsfeld der Theodizee.

3. Nacht als Bild des Todes und der Gottesferne:

Die Nacht wird zum Symbol der Todesnähe und der Erfahrung der Gottesferne. In mystisch-theologischer Tradition ist die lange Nacht oft das Bild der dunklen Nacht der Seele (Johannes vom Kreuz), hier jedoch nicht als Weg zur Reinigung, sondern als Ausweglosigkeit dargestellt.

4. Mythologie als säkularisierte Theologie:

Der Rückgriff auf Matuta, Penelope und Phöbus zeigt, wie das barocke Bewusstsein biblische und antike Mythologien verschränkt. Theologisch gesehen deutet dies auf eine Welt, in der die metaphysische Ordnung nicht mehr allein durch das Christentum gesichert ist, sondern durch synkretistische Deutungssysteme.

5. Ironie der göttlichen Ordnung:

Dass Phöbus zurückgeht und die Qual verlängert, wirkt fast wie eine parodierte Schöpfungsordnung. Der Kosmos erscheint nicht als Garant von Trost, sondern als aktiver Teil der Pein. Philosophisch gesehen wird damit die Verlässlichkeit der Schöpfungsordnung infrage gestellt.

Moralische Dimension

1. Das Gedicht legt eine moralische Grundhaltung frei, die Geduld und Standhaftigkeit im Leiden einfordert. Der Sprecher erlebt die Nacht als unerträglich lang, was auf eine Prüfung verweist, die er moralisch bestehen muss.

2. Die Erfahrung der zerdehnten Zeit wird als Prüfung des Charakters gedeutet. Die faulen Stunden erscheinen wie ein Hindernis, das die seelische Widerstandskraft des Menschen fordert.

3. Moralisch betrachtet schwingt ein Appell mit, Leid nicht nur passiv zu erdulden, sondern in ihm einen Sinn zu suchen. Die Klage über die Verzögerung der Nacht zeigt zugleich das Ringen mit göttlicher Ordnung.

4. Die Anspielung auf Penelope verdeutlicht ein moralisches Beispiel: Sie wählt Standhaftigkeit und Treue trotz der endlosen Belastung durch Freier. Darin liegt eine Aufforderung an den Leser, in Treue, Geduld und Beständigkeit die eigene Last zu tragen.

Anthroposophische Dimension

1. In anthroposophischer Sicht erscheint die Nacht als ein Bild für die Verdichtung und Verlangsamung der seelischen Kräfte. Die faulen Stunden symbolisieren eine Zeit, in der die geistige Entwicklung ins Stocken gerät und die Seele sich schwer anfühlt.

2. Der Gegensatz zwischen der üblichen Schnelligkeit der Gestirne und ihrer Langsamkeit in der Wahrnehmung des Dichters verweist auf die Diskrepanz zwischen objektiver kosmischer Ordnung und subjektiver Seelenerfahrung. Die anthroposophische Deutung könnte darin erkennen, wie stark das individuelle Empfinden den Gang der Weltbilder verfärbt.

3. Die Rede vom Blei der Zeitfüße deutet auf eine Metamorphose: das geistig-lebendige Bild der Zeit mit Flügeln wird zu einem schweren, materiell belasteten Organismus. In anthroposophischem Verständnis zeigt sich darin der Sturz von Leichtigkeit zu Schwere, von Inspiration zu Materialität.

4. Penelopes Weben und Auflösen lässt sich anthroposophisch als Bild des menschlichen Bewusstseins deuten, das am Tage formt und in der Nacht auflöst, und so im Wechselspiel von Schaffen und Vernichten die seelische Entwicklung vorbereitet.

Ästhetische Dimension

1. Das Gedicht entfaltet eine stark kontrastive Bildsprache: schnelle Sterne, langsame Stunden; leichte Flügel, schwere Bleifüße; die Bewegung des Kosmos, die scheinbar stillsteht. Diese Kontraste erzeugen ein ästhetisches Spannungsverhältnis, das die Erfahrung der Dauer sinnlich nachvollziehbar macht.

2. Die Anrufungen von Himmel und Kreis geben der Darstellung eine erhabene, fast kosmologische Bildwelt. Der Dichter steigert die persönliche Klage zu einem universalen Maßstab, wodurch das Private ins Allgemeine erhoben wird.

3. Besonders wirkungsvoll ist die Metapher der Zeit, die sonst mit geschwinden Füßen und Flügeln dargestellt wird, nun aber in Blei gebunden erscheint. Der ästhetische Reiz entsteht hier aus der Umkehrung vertrauter Topoi.

4. Durch die mythologische Referenz an Penelope fügt Abschatz dem Gedicht eine ästhetische Dimension der Intertextualität hinzu. Das Alltägliche der langen Nacht gewinnt einen epischen, beinahe homerischen Rahmen, wodurch das Gedicht eine kunstvolle Verbindung zwischen persönlicher Empfindung und literarischer Tradition herstellt.

Rhetorische Dimension

1. Rhetorisch arbeitet das Gedicht stark mit Apostrophen: die Stunden, der Himmel, der Kreis werden direkt angeredet. Diese Technik verstärkt den Eindruck einer unmittelbaren Klage und zieht die Naturmächte als Gesprächspartner heran.

2. Ein weiteres wichtiges rhetorisches Mittel ist die Hyperbel. Minuten dehnen sich zu Tagen, Stunden zu Jahren. Diese Übersteigerung dient nicht nur der Ausdruckskraft, sondern spiegelt auch das psychologische Erleben von Schmerz und Sehnsucht.

3. Der Aufbau ist klar durch antithetische Strukturen geprägt: Bewegung versus Stillstand, Leichtigkeit versus Schwere, Beginn des Tages versus unendliche Nacht. Diese rhetorischen Gegensätze schärfen die Aussage und prägen den Klang der Verse.

4. Schließlich ist die Schlusswendung auf Penelope und Phöbus ein rhetorischer Kunstgriff, da sie mythologische Exempel zur Stützung der eigenen Erfahrung heranzieht. Das Einbinden von Autoritätsträgern der antiken Tradition gibt der persönlichen Klage eine gesteigerte Überzeugungskraft.

Metaebene

1. Das Gedicht kreist um die subjektive Erfahrung der Zeitdehnung während einer Nacht des Wartens oder der inneren Qual. Es thematisiert, wie sich die Dauer der Stunden ins Unerträgliche verlängert, wenn das Herz von Sehnsucht oder Leid erfüllt ist.

2. Die Zeit wird nicht als neutrales, gleichförmiges Maß verstanden, sondern als durch Empfindungen bestimmt: Minuten werden zu Tagen, Stunden zu Jahren.

3. In der poetischen Selbstrede wird ein existentieller Zustand formuliert: das Bewusstsein ist von der schmerzlichen Empfindung einer stockenden Zeit erfüllt, so dass die Naturordnung selbst als feindlich oder gleichgültig erscheint.

4. Auf der Metaebene zeigt sich der Widerspruch zwischen kosmischer Ordnung (Sterne, Himmel, Kreise, Phöbus) und menschlichem Erleben (Sehnsucht, Pein, Ungeduld). Das Gedicht macht diesen Gegensatz sichtbar und steigert ihn durch den Eindruck einer gestörten Harmonie.

Poetologische Dimension

1. Die Struktur des Gedichts – vier Strophen mit je vier Versen – entspricht einer klaren, kunstvollen Ordnung, die der Unordnung der inneren Erfahrung gegenübersteht.

2. Die barocke Technik des Toposgebrauchs ist erkennbar: mythologische Figuren (Matuta, Phöbus, Penelope) und kosmologische Bilder (Sterne, Himmel, Kreise) verleihen der persönlichen Klage einen universellen Rahmen.

3. Das Gedicht nutzt die rhetorische Strategie der Übersteigerung (Hyperbel), um das subjektive Empfinden der Zeitdehnung zu verdeutlichen: aus Minuten werden Tage, aus Stunden Jahre.

4. Poetologisch reflektiert das Gedicht auch den Zusammenhang von Dichtung und Zeitbewusstsein: die poetische Rede fixiert das, was im Erleben als unendlich, als stockend empfunden wird. Der Dichter schafft Ordnung im Chaos der Empfindung, indem er sie in metrische, geregelte Form bringt.

Metaphorische Dimension

1. Die Metaphern der Zeit als Füße und Flügel aus Blei inszenieren ein paradoxes Bild: was eigentlich schnell voranschreiten sollte, ist schwer und unbeweglich.

2. Die kosmologischen Metaphern (Himmel, Sterne, Kreise) übertragen die subjektive Erfahrung auf eine universale Ordnung, die plötzlich nicht mehr verlässlich, sondern feindlich erscheint.

3. Die mythologischen Anspielungen auf Matuta (Morgenröte) und Phöbus (Sonnengott) verdeutlichen die Personifikation der Zeitmächte: nicht Naturabläufe bestimmen den Rhythmus, sondern sie erscheinen als handelnde, ja widerstrebende Akteure.

4. Der Bezug auf Penelope ist metaphorisch für die Endlosigkeit des Wartens: wie sie jede Nacht ihr Gewebe auflöst, so löst auch die Nacht im Gedicht die Hoffnung auf ein Ende auf.

5. Die Metaphorik zeigt den Menschen als Opfer einer mächtigen, unkontrollierbaren Zeitdynamik: das Warten verwandelt die Nacht in eine Ewigkeit, in eine Art Vorgriff auf den Tod.

Literaturgeschichtliche Dimension

1. Das Gedicht steht klar im Kontext der Barocklyrik: Themen wie Vanitas, Zeitbewusstsein, Leiden und Kosmologie sind zentrale Motive dieser Epoche.

2. Es greift die barocke Tradition der mythologischen Exempla auf: der Bezug auf Penelope stellt die subjektive Erfahrung in eine antike, literarische Tradition.

3. Die Verbindung von kosmischer Ordnung und menschlicher Pein verweist auf das barocke Weltbild, in dem Mikrokosmos (individuelles Erleben) und Makrokosmos (kosmische Ordnung) in ständiger Beziehung stehen.

4. Zugleich lässt sich eine Nähe zu Petrarca und zur petrarkistischen Tradition feststellen, die ebenfalls das Motiv der langen, qualvollen Nacht im Kontext der Liebessehnsucht thematisiert.

5. Innerhalb der deutschen Barockdichtung knüpft Abschatz an die rhetorische Schule von Gryphius oder Fleming an, wo Zeitdehnung, Todesnähe und mythologische Vergleiche wiederholt erscheinen.

Literaturwissenschaftliche Dimension

1. Das Gedicht kann aus zeittheoretischer Perspektive als Beispiel für das subjektive Empfinden von Chronos vs. Kairos gelesen werden: die objektive Zeit vergeht, doch die innere Zeit (Kairos) bleibt stehen.

2. Es lässt sich hermeneutisch deuten als Ausdruck einer existentiellen Krise: die Nacht wird zur Metapher für Todesnähe, für Endlosigkeit und für die Verweigerung des erlösenden Morgens.

3. Strukturalistisch betrachtet zeigt das Gedicht den Gegensatz zwischen Stillstand und Bewegung: kosmische Ordnung (normalerweise Bewegung, Kreislauf, Tagesablauf) wird im Text als Stillstand inszeniert, während das subjektive Empfinden in rastloser Unruhe verharrt.

4. Intertextuell verweist die Anspielung auf Penelope auf die große Tradition des Wartemotivs (Odyssee), wodurch die private Empfindung in ein mythisches, universales Muster überführt wird.

5. Rezeptionsästhetisch offenbart das Gedicht eine Spannung zwischen der formalen Regelmäßigkeit seiner Strophen und der inhaltlichen Erfahrung des stockenden Zeitflusses: der Leser wird in die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt hineingezogen.

6. In einem kulturhistorischen Horizont lässt sich das Gedicht auch als Spiegel einer barocken Welterfahrung lesen: die Unsicherheit und Bedrängung der Zeit (politisch, religiös, existentiell) wird in poetische Bilder übersetzt.

Assoziative Dimensionen

1. Zeiterfahrung als Qual

Das Gedicht entfaltet das subjektive Empfinden von Zeit, die sich schmerzhaft verlangsamt. Die Nacht wird als endlos empfunden, die Stunden faul und langsam. Hier öffnet sich ein Feld der Assoziation zur Erfahrung existentieller Qual: Zeit verliert ihren gleichmäßigen Lauf und verwandelt sich in Last und Dehnung.

2. Kosmische Ordnung und subjektives Leiden

Die Verse sprechen von Sternen, Himmel, Kreisbewegungen und göttlichen Gestirnen, die ihren Lauf hemmen. Die Assoziation ist, dass der persönliche Schmerz des lyrischen Ichs die kosmische Harmonie selbst stört oder zumindest deren Sinn in Frage stellt. Die Erfahrung wird zur Verzerrung des Himmelslaufs.

3. Vergleichende Vergrößerung des Leidens

Assoziationen verbinden sich mit mythologischen und historischen Beispielen: Penelope, die durch List die Zeit verlängert, und der Tageslauf des Phöbus, der sich rückwärts bewegt. Diese Bilder öffnen einen Resonanzraum, in dem individuelles Leid durch mythische Narrative veranschaulicht und gesteigert wird.

4. Existenzielle Ausweglosigkeit

Die Nacht wird so unerträglich lang, dass das Ich die eigene Sterblichkeit heranzieht: Es glaubt, das Ende der Nacht nicht mehr zu erleben. Die Assoziation führt zu einer Grenzsituation zwischen Leben und Tod, zwischen körperlicher Ermüdung und geistiger Qual.

Formale Dimension

1. Strophischer Aufbau

Das Gedicht besteht aus vier Quartetten, also 16 Versen in regelmäßig gegliederten Strophen. Diese formale Ordnung kontrastiert mit der thematisierten Unordnung der Zeitwahrnehmung: die Form wahrt Struktur, während der Inhalt Auflösung und Dehnung erfährt.

2. Reim und Klangstruktur

Es liegt eine regelmäßige Reimordnung vor (abwechselnd männlich und weiblich, durchlaufende Paare), die den musikalischen Charakter stärkt. Der Gleichklang wirkt wie ein Versuch, die quälende Zerdehnung der Zeit in eine kunstvolle Ordnung zu bannen.

3. Sprachliche Bilder

Zentral sind personifizierte Figuren: Stunden als faul, Sterne als muntre Schaar, Matuta (Morgengöttin) als träge, die Zeit selbst mit Füß und Flügel von Bley. Diese allegorisch-mythologische Bildlichkeit ist typisch für den Barock, sie visualisiert abstrakte Konzepte.

4. Kontraste und Antithesen

Der Gegensatz von Kürze und Länge (Minuten als Tage, Stunden als Jahre), von Bewegung und Stillstand (muntre Schar vs. Stillstand), von mythologisch großem Bild und subjektivem Leid, zieht sich durch die gesamte Textstruktur.

Topoi

1. Topos der langen Nacht / verschleppten Zeit

Die Vorstellung, dass Zeit sich im Leid verlangsamt und dehnt, ist ein klassischer Topos der Liebes- und Klagepoesie.

2. Topos der kosmischen Störung

Die Idee, dass das persönliche Leiden die Ordnung von Himmel und Gestirn ins Wanken bringt, knüpft an antike und barocke Traditionen an: das Leiden des Liebenden ist so groß, dass selbst kosmische Größen ihre Bahn ändern.

3. Topos des Todesnahen Erlebens

Ich glaube daß die Nacht der Zimber kürtzer sey / Und ich für meinem Tod ihr Ende nicht erfahre bringt die Nähe von Liebesqual und Todeswunsch zum Ausdruck – ein barockes Vanitas- und Memento-Mori-Motiv.

4. Topos der mythischen Exempla

Penelope und Phöbus dienen als Vergleichsfiguren, die das subjektive Leiden in einen mythologisch-literarischen Resonanzraum stellen. Typisch barock ist das Aufrufen antiker Gestalten, um die eigene Situation zu überhöhen.

Literaturepochentypische Kontextualisierung

1. Barocke Zeit- und Vergänglichkeitswahrnehmung

Das Gedicht gehört in die barocke Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit. Die subjektive Empfindung der Zeit wird hier auf den Punkt gebracht: Zeit wird dehnbar, unberechenbar, schmerzhaft. Dies steht im Kontext der barocken Obsession mit Vanitas, der Vergänglichkeit und dem subjektiv erfahrenen Leid.

2. Mythologische Allegorik

Charakteristisch barock ist die Durchdringung von Alltags- und Gefühlswelt mit mythologischen Figuren. Matuta, Penelope, Phöbus und kosmische Sphären werden herangezogen, um subjektives Empfinden allegorisch zu illustrieren.

3. Rhetorische Übersteigerung

Barockdichtung arbeitet mit Hyperbeln und Antithesen: Minuten sind Tage, Stunden Jahre; Zeitflügel aus Blei; der Tageslauf rückwärts. Diese rhetorische Figurierung ist Ausdruck barocker Affektpoetik.

4. Existenzielles Pathos

Die Rede von Tod und unerträglicher Dauer entspricht der barocken Verbindung von Liebesklage und Todessehnsucht. Leidenschaft ist stets am Rande des Untergangs angesiedelt.

Abschließende strophenübergreifende gesamtheitliche Zusammenfassung

1. Das Gedicht als Ausdruck subjektiver Zeitqual

In allen vier Strophen wiederholt sich die zentrale Erfahrung: Zeit, sonst flüchtig und schnell, ist im Zustand des Leids unerträglich lang. Das lyrische Ich erlebt eine radikale Verlangsamung, die sich bis ins Kosmische hinein auswirkt.

2. Die Nacht als Bühne existentieller Klage

Die Nacht ist nicht nur eine äußere Zeitspanne, sondern ein Symbol des Dunkels, der Einsamkeit und der inneren Qual. Ihr scheinbar endloses Verharren bringt das Ich an den Rand des Todesgedankens.

3. Mythologische Rahmung als Intensivierung

Durch die Einbeziehung von Gestalten wie Penelope und Phöbus erhält das subjektive Empfinden eine universale Dimension. Das persönliche Leiden wird in den großen Kontext von Mythen und kosmischen Bewegungen gestellt, wodurch es zugleich überhöht und verallgemeinert wird.

4. Barocke Spannung von Ordnung und Auflösung

Formal bleibt das Gedicht streng gebaut – gleichmäßige Strophen, Reim, Metrum. Inhaltlich dagegen wird die Erfahrung der Auflösung und Zerdehnung entfaltet. Diese Spannung spiegelt die barocke Dialektik: Ordnung als poetisches Formprinzip, Unordnung als Erfahrung des Menschen.

5. Philosophisch-existentieller Tiefensinn

Abschatz gestaltet eine Grunderfahrung menschlicher Existenz: Die Zeit ist nicht nur ein neutrales Kontinuum, sondern wird durch Leid und Leidenschaft radikal verzerrt. Damit berührt das Gedicht Fragen nach der Subjektivität der Zeit, nach der Endlichkeit des Lebens und nach der existentiellen Ohnmacht des Menschen gegenüber dem kosmischen Lauf.

◀◀◀ 41 ▶▶▶
Home
chresmos@gmail.com