LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 37 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Ich rede nicht wie vor so frey/1
Mein Auge klebt der Erden an/2
Und findet sich mit Furcht herbey/3
Wo man dich/ Nimphe/ schauen kan;4
Verbrochne Seufftzer und gestohlne Blicke5
Sinds/ die ich dir/ mein Kind/ entgegen schicke.6

Der strengen Auffsicht scharffe Wacht/7
Die Neyd und Eyfer um uns stellt/8
Nimmt ein iedweders Wort in acht9
So uns von ungefähr entfällt/10
Heist unsre Unschuld stets in Sorgen stehen/11
Und zwischen Dorn und Eiß behutsam gehen.12

Die schlimme Welt denckt/ Ich und Du13
Müß ihr an Boßheit gleiche seyn/14
Dringt sich mit schälem Aug herzu/15
Greifft unsern keuschen Freuden ein/16
Und wolte gern/ was sie nicht kan genüssen/17
Auch andern ohne Schuld verboten wissen.18

Zwar wehe thut der schwere Zwang/19
Zu dem man uns verbinden will;20
Jedoch wird solcher Uberdrang21
Auch haben sein gestecktes Ziel.22
Der Tugend reines Kleid kan nichts beflecken;23
Die Zeit wird unser Recht der Welt entdecken.24

Der beste Rath ist hier Gedult:25
Bleib mir beständig/ wie du bist/26
Ich lebe dir in stillem hold/27
So brechen wir der Feinde List.28
Wenn Redligkeit sich kan zun Sternen heben/29
Muß der Verleumder Maul im Kothe kleben.30

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 1

Ich rede nicht wie vor so frey/1
Mein Auge klebt der Erden an/2
Und findet sich mit Furcht herbey/3
Wo man dich/ Nimphe/ schauen kan;4
Verbrochne Seufftzer und gestohlne Blicke5
Sinds/ die ich dir/ mein Kind/ entgegen schicke.6

1 Ich rede nicht wie vor so frey/

Analyse:

Der eröffnet mit einer Negation, die sofort eine Veränderung des Sprech-Ethos markiert: Das lyrische Ich konstatiert einen Verlust an Unbefangenheit gegenüber einem früheren Zustand.

Die adverbiale Vergleichsstruktur wie vor schafft eine zeitliche und psychische Diskrepanz zwischen damals und jetzt, wodurch ein innerer Bruch signalisiert wird.

Die Stellung des Wortes frey am Versende setzt eine semantische Pointe: Die Freiheit ist nicht nur reduziert, sondern als Zielpunkt der Zeile rhetorisch entzogen.

Stilistisch nähert sich der der barocken Demutsformel an: Nicht mangelnde Fähigkeit, sondern situative Hemmung wird behauptet (Abkehr von captatio benevolentiae hin zur Affekthemmung).

Die einfache Parataxe und der knappe Satzbau verstärken die Eindrücklichkeit des Bekenntnisses.

Interpretation:

Das Ich befindet sich in einer neuen affektiven Ordnung, in der direkte Rede als riskant oder anstößig empfunden wird; soziale oder moralische Normen scheinen die Kommunikation zu regulieren.

Der Verlust der Freiheit deutet auf Scham oder Ehrfurcht vor der Adressatin und bereitet die Verschiebung von Sprache auf nonverbale Zeichen in V. 5–6 vor.

Die Zeile lässt sich als Selbstdisziplinierung lesen: Affekt wird gezügelt, um ein bestimmtes Dekorum im Liebes- oder Hofkontext zu wahren.

Im Subtext steht ein Konflikt zwischen innerer Intensität und äußerer Zurückhaltung, ein Grundzug petrarkistischer Liebessprache in barocker Prägung.

2 Mein Auge klebt der Erden an/

Analyse:

Das Bild des klebenden Auges konkretisiert physisch die Hemmung: Der Blick ist nach unten gebunden, der Aufblick wird verwehrt.

Die archaisierende Flexion der Erden markiert stilistisch den frühneuzeitlichen Ton und weitet den Ausdruck in Richtung formaler Gravität.

Die Metaphorik materialisiert die Affektbindung: Scham, Furcht oder Ehrfurcht erscheinen als klebrige Substanz, die die Wahrnehmung fesselt.

Der verschiebt die Aufmerksamkeit vom Sprechen (V. 1) zum Sehen: Kommunikationsverzicht wird als Blicksenkung dargestellt.

Interpretation:

Die Blicksenkung folgt dem Topos der modestia: Wer liebt, meidet den direkten Blick, um nicht zu verletzen oder sich bloßzustellen.

Erde steht ikonisch für Niedrigkeit und Kreatürlichkeit; das Ich positioniert sich hierarchisch unter die Angesprochene.

Der Blick nach unten kann als Schutzmechanismus gegen überwältigende Schönheit gelesen werden, die den Blick verbrennt oder beschämt.

Zugleich wird ein religiös-ethischer Resonanzraum geöffnet: Die Richtung zur Erde erinnert an Demutsgesten auch jenseits der Liebessemantik.

3 Und findet sich mit Furcht herbey/

Analyse:

Die reflexive Fügung findet sich … herbey beschreibt ein vorsichtiges, beinahe unwillkürliches Annähern; Bewegung ersetzt die fehlende Rede.

Mit Furcht fungiert als Affektadverbiale und modifiziert die gesamte Annäherungsszene; das semantische Feld bleibt auf Hemmung eingestellt.

Der Anschluss mit Und bindet den eng an V. 2: Aus Blicksenkung resultiert eine schüchterne, tastende Präsenz.

Die Diktionsmischung aus Alltagsnähe (findet sich) und Pathos (Furcht) erzeugt barocke Affektspannung.

Interpretation:

Das Ich zwingt sich trotz Angst zur Nähe: Liebe wirkt hier als Kraft, die Scheu nicht aufhebt, aber in kontrollierte Annäherung überführt.

Furcht ist doppeldeutig: Sie meint sowohl Scheu vor Zurückweisung als auch Ehrfurcht vor der idealisierten Gestalt.

Die Szene hält die paradoxe Bewegung fest: Das Subjekt kommt näher, ohne die Grenze direkter Ansprache zu überschreiten.

So entsteht eine Ethik des Abstandes, in der das Begehren sich selbst reguliert und die Integrität der Angesprochenen achtet.

4 Wo man dich/ Nimphe/ schauen kan;

Analyse:

Der Relativsatz Wo man dich … schauen kan lokalisiert die Annäherung: Ziel der Bewegung ist der Sichtkontakt, nicht das Gespräch.

Die parenthetische Anrede Nimphe hebt die Geliebte in einen mythologischen, pastoralen Rahmen; der Alltagsraum wird ästhetisch überhöht.

Das unpersönliche man hält soziale Distanz und belegt, dass die Begegnung in einem beobachtbaren, möglicherweise öffentlichen Raum stattfindet.

Die Interpunktionspausen um Nimphe markieren eine feierliche Apposition und rhythmisieren den Blickakt als kultische Handlung.

Interpretation:

Die Bezeichnung Nimphe idealisiert und entindividualisiert zugleich: Die Geliebte wird zur Chiffre des Numinosen und Naturhaften erhoben.

Der Zweck der Annäherung ist reiner Anblick; der Blick gilt als legitime, weil indirekte Form der Zuwendung innerhalb strenger Sittenregeln.

Das unpersönliche man kann auch Schutzfunktion haben: Es verschleiert die Exklusivität des Begehrens und tarnt das Ich in der Menge.

Insgesamt verschiebt sich das Begehren ins Ästhetische: Anschauen wird zur sublimierten Form des Besitzverzichts.

5 Verbrochne Seufftzer und gestohlne Blicke

Analyse:

Die Reihung von Seufftzern und Blicken katalogisiert nicht-verbale Kommunikationsmittel, die Sprache ersetzen.

Verbrochne ist semantisch ambivalent: Es kann gebrochene (stockende) wie auch verbrochene im Sinne von verfehlte/schuldhafte Seufzer bedeuten; das Wortfeld oszilliert zwischen Schwäche und Schuld.

Gestohlne Blicke etablieren den Topos der heimlichen, unerlaubten Wahrnehmung; die Liebe bewegt sich im Halbdunkel des Dekorums.

Klanglich kontrastieren die weichen Sibilanten (Seufftzer) mit den harten Plosiven (Blicke), wodurch innerer Schmerz und zielende Intentionalität zusammenprallen.

Interpretation:

Das Ich ersetzt die verlorene Redefreiheit durch eine Ökonomie der Zeichen: Atem und Auge werden zu Trägern des unausgesprochenen Sinns.

Die mögliche Schuldsemantik in verbrochne deutet ein Selbstvorwurfsmoment an: Schon das Seufzen scheint gegen eine Norm zu verstoßen.

Gestohlne impliziert Grenzverletzung, aber in minimaler, flüchtiger Form; es ist ein Ethos der Diskretion, nicht der Aggression.

Die Zeile macht die Liebessituation als heimliche Praxis sichtbar, die im Zwischenraum von Verbot und Bedürfnis operiert.

6 Sinds/ die ich dir/ mein Kind/ entgegen schicke.

Analyse:

Sinds (‚sind es‘) baut eine emphatische Schlusskadenz: Nicht Worte, sondern Zeichen werden als Botschaft ausgewiesen.

Die Dislozierung durch Schrägstriche (die ich dir/ mein Kind/) schafft vokative Inseln; mein Kind fungiert als innige, paternal getönte Anrede.

Die Verbalkonstruktion entgegen schicke betont Richtung und Intentionalität; die Zeichen werden wie Boten ausgesandt.

Der schließt den kleinen Argumentationsgang: aus Redehemmung (V. 1) wird Blick- und Seufzerkommunikation, die nun explizit adressiert ist.

Interpretation:

Das Diminutiv mein Kind verschiebt den Ton von mythologisch-erhabener Distanz (Nimphe) zu zärtlicher Familiarität; die Registermischung zeigt die innere Zerrissenheit des Ich.

Das Gegenüber bleibt passiv-empfangend; das Ich wahrt die Grenze, indem es nur Zeichen schickt, nicht den Körper.

Die Szene bekommt den Charakter einer rituellen Zueignung: Seufzer und Blicke sind Opfergaben, mit denen das Ich Nähe sucht, ohne das Dekorum zu brechen.

Damit etabliert der Schluss eine Poetik der indirekten Rede, in der Schweigen, Seufzen und Schauen die eigentlichen Träger der Liebessprache sind.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 2

Der strengen Auffsicht scharffe Wacht/7
Die Neyd und Eyfer um uns stellt/8
Nimmt ein iedweders Wort in acht9
So uns von ungefähr entfällt/10
Heist unsre Unschuld stets in Sorgen stehen/11
Und zwischen Dorn und Eiß behutsam gehen.12

7 Der strengen Auffsicht scharffe Wacht/

Analyse

1. Der eröffnet die Strophe mit einer personifizierten Instanz von Aufsicht und Wacht, welche als übergeordnete, beinahe militärische Kontrollmacht vorgestellt wird.

2. Die Verbindung von strengen und scharffe bildet eine semantische Dopplung, die die Unerbittlichkeit der Kontrolle akustisch wie inhaltlich verstärkt.

3. Die barocke Orthographie (Auffsicht, scharffe) hebt den normativen, regelsetzenden Charakter der Instanz hervor und trägt zum historischen Kolorit bei.

4. Der Genitivanschluss (Der … Wacht) lässt das Substantivgefüge wie eine Emblem-Inschrift wirken, wodurch der eine Maxime der Überwachung formuliert.

5. Die Wortwahl Wacht evoziert Wachposten, Patrouillen und Grenzschutz und weitet ein soziales Phänomen (Klatsch, Kontrolle) in den Bereich staatlich-militärischer Ordnung aus.

Interpretation

1. Der etabliert den Handlungsrahmen der Liebenden als einen Raum ständiger Beobachtung, in dem Privates prinzipiell öffentlich wird.

2. Die personifizierte Wacht ist ein poetischer Stellvertreter der höfischen Gesellschaft, die Liebesbeziehungen normativ reglementiert und sanktioniert.

3. Die doppelte Qualifizierung als streng und scharf deutet darauf, dass nicht nur Handlungen, sondern bereits Dispositionen und Stimmungen einer Zensur unterliegen.

4. Das Bild signalisiert, dass die Liebenden nicht in erster Linie Gefahr durch Natur oder Schicksal laufen, sondern durch soziale Instanzen, die misstrauisch Ordnung erzwingen.

5. Insgesamt bereitet der das Motiv der Defensive vor: Die Liebenden müssen im Modus des Verbergens und Vermeidens leben.

8 Die Neyd und Eyfer um uns stellt/

Analyse

1. Neyd und Eyfer erscheinen als abstrakte Affekte, die wie Wachen um uns aufgestellt werden; Affekte werden so zu externen Akteuren.

2. Die Kopplung der beiden Substantive folgt einem barocken Hendiadyoin, das zwei unterschiedliche, aber verwandte Kräfte zur einheitlichen Bedrohung bündelt.

3. Die Präposition um in Verbindung mit stellt erzeugt ein Ringmotiv, das räumliche Einschließung und Belagerung anzeigt.

4. Die Alliteration der Vokale und der auffällige Diphthongklang in Neyd/Eyfer markiert akustisch die Bissigkeit der sozialen Affekte.

5. Die Syntax bleibt parataktisch schlicht, wodurch der Satz den Charakter einer nüchternen Feststellung über eine gegebene, unverrückbare Lage erhält.

Interpretation

1. Neid personifiziert die Missgunst der Dritten, die den Liebenden ihr Glück nicht gönnen und es aktiv sabotieren möchten.

2. Eifer kann als moralischer Eifer (Zelotismus) gelesen werden, der die Liebenden nicht aus Rivalität, sondern aus vermeintlicher Tugend überwacht.

3. Das Um-uns-Stellen macht die Liebenden zu Belagerten, deren Bewegungsfreiheit sozial eingeschränkt und deren Kommunikation kontrolliert wird.

4. Der impliziert, dass äußere Gegner nicht individuell benennbar sind, sondern als diffuse Stimmung der Gruppe wirken, was die Bedrohung unberechenbar macht.

5. Die Koppelung von Rivalität (Neid) und Tugendrigorismus (Eifer) zeigt, dass soziale Kontrolle oft aus einer Mischung eigennütziger und vermeintlich tugendhafter Motive gespeist wird.

9 Nimmt ein iedweders Wort in acht

Analyse

1. Die Redewendung in Acht nehmen akzentuiert die akribische, juristisch anmutende Beobachtung selbst kleinster sprachlicher Äußerungen.

2. Jedweders verstärkt die Totalität des Anspruchs: Es gibt kein unverfängliches, vom Zugriff der Beobachter ausgenommenes Wort.

3. Der Fokus verengt sich von den äußeren Wachen auf das Medium der Sprache und steigert damit die Bedrängnis auf der Ebene alltäglicher Kommunikation.

4. Der bildet syntaktisch eine Präzisierung des Vorhergehenden: Von der Aufstellung der Wacht wird zur konkreten Praxis der Kontrolle übergegangen.

5. Klanglich arbeitet die Häufung kurzer, harter Silben (nimmt … Wort … acht) die Strenge des Vorgangs heraus.

Interpretation

1. Der macht Sprache zur gefährdeten Sphäre, in der bereits das geringste, scheinbar harmlose Wort kriminalisiert werden kann.

2. Er legt nahe, dass Liebesrede nicht nur sozial unerwünscht, sondern als potentielle Übertretung gelesen wird, die Spürhunde der Moral auf den Plan ruft.

3. Die Totalisierung (jedweders) beschreibt ein Klima, in dem spontane, authentische Äußerungen kaum möglich sind, ohne verdächtig zu werden.

4. Damit wird die Spannung zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit zentriert: Inneres Begehren muss an der Oberfläche der Sprache versteckt oder codiert werden.

5. Der weist auf die barocke Praxis der dissimulatio: Man muss so sprechen, dass die Wahrheit verdeckt und dennoch kommunizierbar bleibt.

10 So uns von ungefähr entfällt/

Analyse

1. Das Relativadverb so bindet den als konsekutive Bestimmung an das Vorhergehende: Eben das Wort, das uns zufällig entfällt, wird registriert.

2. Von ungefähr kennzeichnet Unwillkürlichkeit, Zufall oder Versprecher und kontrastiert die strenge Absichtlichkeit der Beobachter.

3. Die Wortstellung (uns … entfällt) erzeugt eine leichte Inversion, die die Passivität und Ausgeliefertheit des lyrischen Wir betont.

4. Semantisch liegt ein Gegensatz zwischen unabsichtlicher Rede und absichtsvoller Überwachung, der die Asymmetrie der Situation scharf konturiert.

5. Der Enjambement-Charakter zwischen V. 9 und V. 10 (semantische Einheit jedweders Wort … das uns … entfällt) bindet die Aussage rhythmisch zusammen.

Interpretation

1. Der zeigt, dass den Liebenden selbst die Zufälligkeit zum Verhängnis wird: Nicht Schuld, sondern menschliche Gebrechlichkeit bietet Angriffsflächen.

2. Er deutet an, dass die Überwacher gerade das Ungeplante bevorzugt auswerten, weil es authentisch und deshalb belastbar scheint.

3. Poetologisch fordert der eine kontrollierte Rhetorik der Liebenden heraus, die spontane Äußerungen vermeiden muss.

4. Psychologisch entsteht ein Klima innerer Selbstzensur, in dem spontane Rede als Risiko internalisiert wird.

5. Die Konstellation verlagert die Schuldzuweisung: Nicht die Handlung ist verwerflich, sondern das Umfeld macht das zufällig Gesagte zur vermeintlichen Tat.

11 Heist unsre Unschuld stets in Sorgen stehen/

Analyse

1. Das Verb heißen in kausativer Bedeutung (veranlassen, bewirken) markiert die zwingende Wirkung der Überwachung auf den Seelenzustand der Liebenden.

2. Unsere Unschuld wird grammatisch zum Subjekt der Betroffenheit, wodurch nicht Schuld, sondern Reinheit selbst unter Druck gerät.

3. Das Adverb stets betont die Permanenz: Die Sorge ist kein episodisches Gefühl, sondern ein Dauerzustand.

4. Die Metapher in Sorgen stehen vergegenständlicht Angst als Standort, als Lebensraum, in dem man sich befindet.

5. Der nimmt den affektiven Ertrag der sozialen Kontrolle in den Blick und bildet damit den psychischen Kulminationspunkt der Strophe.

Interpretation

1. Die Liebenden begreifen sich als unschuldig, werden aber durch Misstrauen zu dauerhaft Besorgten – das Umfeld produziert so die Angst, die es dann als Indiz der Schuld lesen könnte.

2. Moralisch verweist der auf ein barockes Paradox: Je reiner die Intention, desto mehr leidet sie unter dem Verdacht, weil sie keine Strategien der Tarnung aus Erfahrung besitzt.

3. Der Dauermodus der Sorge korrespondiert mit der christlich-barocken Anthropologie, in der Weltverkehr grundsätzlich gefährdet und daher vorsichtig zu handhaben ist.

4. Poetisch schlägt der eine Elegisierung der Liebeslage an: Unschuld ist nicht triumphal, sondern belagert und defensiv.

5. Der bereitet die Schlussmetapher (V. 12) vor, indem er die innere Disposition benennt, die äußerlich zur vorsichtigen Gangart zwingt.

12 Und zwischen Dorn und Eiß behutsam gehen.

Analyse

1. Das Bildfeld wechselt von militärisch-sozialer Überwachung zu Naturmetaphern: Dorn und Eis markieren Schmerz und Kälte als emblematische Gefährdungen.

2. Die Präposition zwischen erzeugt ein Engpass-Topos: Es gibt keinen freien Weg, sondern nur ein riskantes Durch-Zwischen.

3. Der Ausdruck behutsam setzt die affektive Lage (Sorge) als praktische Tugend der Vorsicht um und beendet die Strophe in einem Imperativ des Maßhaltens.

4. Dorn steht traditionell für die Verletzbarkeit des Erotischen (Rose/Thorn-Topos), Eis für Erstarrung, gesellschaftliche Kälte oder die frostige Jahreszeit, die Blühen verhindert.

5. Die Paarung der Gegensätze (spitz/heiß vs. kalt/glatt) weitet die Gefahr in zwei Richtungen, sodass der Weg der Liebenden als doppelt limitiert erscheint.

Interpretation

1. Das Naturbild allegorisiert die soziale Situation: Der Dorn entspricht der stechenden Verletzung durch scharfe Zungen, das Eis der lähmenden Kälte einer misstrauischen Öffentlichkeit.

2. Die Metapher fügt den Zyklus-Kontext (Anemons und Adonis Blumen) ein, indem sie das fragile Florale (Blüte) unter klimatische und topographische Bedrohungen stellt.

3. Existentiell beschreibt der eine Ethik der klugen Selbstbegrenzung: Zwischen Übermut und Verstummen gibt es nur den schmalen Pfad der behutsamen Bewegung.

4. Poetisch kündigt sich eine Rhetorik des Codierens an: Wer zwischen Dorn und Eis geht, spricht in Andeutungen, verschlüsselt, verschweigt und wählt Umwege.

5. In der Summe schließt der die Argumentationsfigur der Strophe: Von externer Wacht (V. 7–8) über sprachliche Gefährdung (V. 9–10) zur inneren Sorge (V. 11) führt der Weg in eine praktizierte Vorsicht (V. 12), die als einzige Überlebensstrategie der Liebe übrig bleibt.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 3

Die schlimme Welt denckt/ Ich und Du13
Müß ihr an Boßheit gleiche seyn/14
Dringt sich mit schälem Aug herzu/15
Greifft unsern keuschen Freuden ein/16
Und wolte gern/ was sie nicht kan genüssen/17
Auch andern ohne Schuld verboten wissen.18

13 Die schlimme Welt denckt/ Ich und Du

Analyse:

1. Die Strophe eröffnet mit einer Personifikation der Welt, die als sittlich korrumpierte Größe (schlimme Welt) auftritt und aktiv denkt. Das setzt sofort einen ethisch-moralischen Gegenspieler zum sprechenden Ich und dem angesprochenen Du.

2. Die syntaktische Zäsur nach denckt exponiert das Paar Ich und Du als in sich geschlossene, intime Wir-Konstellation. Der doppelte Personalpronomengebrauch hebt die Beziehung als Gegenraum zur Welt hervor.

3. Die semantische Antithese schlimme Welt vs. Ich und Du zeichnet eine barocke Konstellation von contemptus mundi: Außen steht die verdorbene Öffentlichkeit, innen die bewahrte Zweiheit.

4. Die Welt erhält kognitive Autorität (denckt), die sie aber missbraucht: Ihr Denken ist nicht Erkenntnis, sondern der Auftakt einer Fehlprojektion.

Interpretation:

1. Der markiert die Grundspannung der Strophe: Ein reines Paar steht einer verkommenen, misstrauischen Öffentlichkeit gegenüber. Das Liebes-Du wird so zum Ort moralischer Integrität.

2. Dass die Welt überhaupt denkt, deutet auf das Problem der öffentlichen Meinung: Sie produziert Deutungen über das Paar, ohne Zugang zu dessen Innerlichkeit.

3. Ich und Du setzt den Akzent auf Beziehung und Gegenseitigkeit; die Strophe entwickelt daraus eine Ethik der Intimität gegen das verallgemeinernde, wertende Außen.

4. Bereits hier wird eine Dynamik von Neid und Argwohn angetriggert: Was die Welt denkt, wird sich als Verdächtigung herausstellen.

14 Müß ihr an Boßheit gleiche seyn/

Analyse:

1. Grammatisch liegt eine Projektion vor: Die Welt setzt die Maßgabe, dass Ich und Du ihr an Bosheit gleichen müssen. Das Modalverb (Müß) zeigt Zwang und Notwendigkeitsfiktion.

2. Die Wendung an Boßheit gleiche seyn arbeitet mit einem Vergleichsmaßstab, der vom Laster der Welt definiert ist; Maß und Norm stammen aus der Korruption selbst.

3. Die Alltagslogik wird umgekehrt: Nicht die Welt muss sich rechtfertigen, sondern das Paar – eine rhetorische Verschiebung der Beweislast.

4. Klanglich verdichten die harten Konsonanten (b/ß/t, g/k) den Eindruck von Härte und Rigidität, passend zur normativen Aggression der Welt.

Interpretation:

1. Der entfaltet die psychologische Struktur der Verleumdung: Die Welt hält ihre eigene Bosheit für allgemein und zwingend und kann an Unschuld gar nicht glauben.

2. Darin liegt eine frühe Einsicht in Mechanismen sozialer Projektion: Das Laster setzt sich selbst als Norm und erklärt die Abweichung (hier: Keuschheit) für verlogen.

3. Für die Liebenden bedeutet das: Sie geraten in einen Verdacht, der prinzipiell nicht widerlegbar ist, weil er aus der Logik der Verdorbenheit gespeist wird.

4. Der motiviert den späteren Schutzgestus: Wo die Welt Bosheit unterstellt, muss die Intimität sich abgrenzen.

15 Dringt sich mit schälem Aug herzu/

Analyse:

1. Das Verbgefüge dringt sich … herzu benennt ein aggressives, grenzüberschreitendes Nähern. Es ist ein körperliches, aufdringliches Bild für soziale Indiskretion.

2. mit schälem Aug (ältere Form von scheelem, d. h. schief, neidisch, missgünstig blickend) färbt den Blick der Welt ausdrücklich als Argwohn und Neid.

3. Die Kinetik des Verses steigert die zuvor gedankliche Projektion zur physischen Invasion des Privatraums: aus Denken wird Eindringen.

4. Die Verkürzung Aug (statt Auge) und die asyndetische Bauweise verdichten den Zug ins Aggressive und Voyeuristische.

Interpretation:

1. Der entlarvt den moralischen Argwohn als Blickregime: Die Welt begehrt zu sehen, was ihr nicht zusteht, und sieht zugleich immer schon das, was sie sehen will – das Laster.

2. schäles/scheeles Sehen ist traditionell mit Neid konnotiert; der Blick will nicht verstehen, sondern entwerten. Argwohn wird zur Lust an Entblößung.

3. Die intime Sphäre der Liebenden wird zur Bühne wider Willen; der Schutz der Innerlichkeit muss sich gegen das bloße Angestarrt-Werden behaupten.

4. Damit bereitet der die nächste Eskalation vor: Auf das neugierige Schauen folgt das tätige Eingreifen.

16 Greifft unsern keuschen Freuden ein/

Analyse:

1. Greifft … ein bezeichnet eine aktive Störung. Die Welt überschreitet die Schwelle vom Blick zur Handlung.

2. Das Objekt unsere keuschen Freuden bringt eine paradoxe, aber barock vertraute Verbindung: Freuden sind real, doch keusch. Die Formel beansprucht legitime, maßvolle Lust.

3. Die Possessivform unsere verankert das Recht auf diese Freuden im Paar; es handelt sich um ein legitimes Eigentum an der eigenen Intimität.

4. Die Stellung des Adjektivs keuschen vor Freuden markiert das moralische Prädikat als Schutzschild gegen die Weltunterstellung.

Interpretation:

1. Der verteidigt eine Ethik der intimen Freude: Lust ist hier nicht Laster, sondern sittlich geordnete Zuneigung, die der profanen Welt unverständlich bleibt.

2. Das Eingreifen der Welt wirkt als Gewalt an der Integrität der Liebenden; es ist eine moralische Usurpation, die fremde Maßstäbe aufzwingt.

3. In barocker Perspektive erscheint die Störung der keuschen Freuden als Sünde der Welt am Guten, nicht umgekehrt – eine Umwertung gängiger Moralregime.

4. Theologisch lässt sich das als Bewahrung der Keuschheit deuten, die nicht Askese gegen die Liebe ist, sondern Reinheit der Intention und der Ordnung.

17 Und wolte gern/ was sie nicht kan genüssen/

Analyse:

1. Die Konstruktion wollte gern markiert ein Begehren; es ist konditional und begehrlich, zugleich ohnmächtig. Der enjambierende Schnitt nach gern/ betont das Drängen.

2. Der Relativsatz was sie nicht kann genießen setzt das Unvermögen der Welt fest: ihr fehlt die Fähigkeit, die Güte der keuschen Freuden überhaupt zu erfahren.

3. Semantisch erscheint hier der klassische Neidmechanismus: Begehrtes, das unerreichbar bleibt, kippt in Missgunst.

4. Der Rhythmus bricht die Attacke kurz, als stocke das Begehren an der eigenen Unfähigkeit; diese Zäsur bereitet das folgende verboten wissen vor.

Interpretation:

1. Der entwirft das psychologische Profil der Welt als neidisch-begehrende Instanz: Was sie nicht zu genießen vermag, will sie dennoch an sich ziehen – oder, scheiternd, unzugänglich machen.

2. Der Genussunfähigkeit wohnt ein moralischer Kurzschluss inne: Aus Unvermögen entsteht der Impuls, das Gute umzudefinieren als Böses.

3. Auf die Liebenden bezogen bedeutet das: Ihr Gutsein bleibt für die Welt hermetisch; darum wandelt sie es in den Verdacht des Lasters um.

4. Das Motiv erinnert an die Logik sour grapes: Wer nicht genießen kann, spricht dem Objekt den Wert ab oder nimmt es anderen.

18 Auch andern ohne Schuld verboten wissen.

Analyse:

1. verboten wissen ist eine juristisch-administrative Wendung: nicht bloß wünschen, sondern wissen wollen, dass es als Verbot gilt. Die Welt strebt nach normativer Setzung.

2. Auch andern weitet den Zugriff: Nicht nur das Paar soll entmachtet werden; die Welt will allgemeine Regeln errichten, die Dritten den Zugang versperren.

3. ohne Schuld hebt das Unrecht hervor: Das Verbot trifft die Unschuldigen; es fehlt jede legitime Grundlage.

4. Die Stufenfolge der Strophe kulminiert hier: Denken → Eindringen → Eingreifen → Begehren → Normieren. Aus Blick und Neid wird Gesetzeswille.

Interpretation:

1. Der demonstriert, wie privater Neid in öffentliche Moral umschlägt: Missgunst kodiert sich als Sitte oder Gesetz und sanktioniert unschuldige Freude.

2. Damit wird die Welt zur Instanz der Heuchelei: Sie kriminalisiert das, was sie selbst aus Unfähigkeit nicht genießen kann, und kleidet Neid in Tugendrhetorik.

3. Für das Paar bedeutet das eine doppelte Aufgabe: die innere Keuschheit zu bewahren und die äußere Normativität kritisch zu durchschauen.

4. Barock gelesen, wird hier eine tiefe Skepsis gegenüber der vox populi artikuliert: Weltliche Öffentlichkeit ist nicht Maß der Moral; vielmehr bedarf das Gute des Schutzes vor der Weltmeinung.

Fazit Strophe 3

Die sechs Verse zeichnen eine klare Eskalationskurve der Welt von Projektion über Voyeurismus und Eingriff bis zur normativen Verbotslust. Dem setzt das Gedicht die Würde keuscher Freuden einer Ich-Du-Beziehung entgegen. In barocker Manier entlarvt es den Neid als Ursprung falscher Moral und verteidigt die Integrität der Intimität gegen die Übergriffigkeit einer verkommenen Öffentlichkeit.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 4

Zwar wehe thut der schwere Zwang/19
Zu dem man uns verbinden will;20
Jedoch wird solcher Uberdrang21
Auch haben sein gestecktes Ziel.22
Der Tugend reines Kleid kan nichts beflecken;23
Die Zeit wird unser Recht der Welt entdecken.24

19 Zwar wehe thut der schwere Zwang/

Analyse

Der eröffnet mit der konzessiven Partikel Zwar, die eine antithetische Fortführung vorbereitet; syntaktisch signalisiert sie, dass ein jedoch folgen wird und der Schmerz nicht die letzte Aussage bleibt.

Die Verbindung wehe thut arbeitet mit einer barocken, affektgeladenen Diktion; durch die Stellung von wehe vor thut wird der unmittelbare Affekt der Verletzung vor die Handlung gezogen.

Der schwere Zwang verdichtet ein semantisches Feld der Last und Unfreiheit; die Alliteration/Assonanz in schwere Zwang und die gedehnten Vokale verstärken das Empfinden von Gewicht und Druck.

Metrisch und rhythmisch wird durch die Häufung betonter Silben (Zwar / we-he / thut / der / schwe-re / Zwang) ein stockender, belasteter Sprechgestus erzeugt, der den Inhalt klanglich spiegelt.

Interpretation

Der anerkennt ausdrücklich die Realität des Leidens unter äußerem Druck; das lyrische Wir beginnt nicht mit Trost, sondern mit Wahrhaftigkeit gegenüber der erfahrenen Not.

Zwang kann jurisch-politische, soziale oder auch konfessionelle Zwänge meinen; barock-zeittypisch klingt obrigkeitlicher Druck mit, dessen Eingriff bis in das Gewissen reicht.

Die Konzessivität (Zwar) deutet an, dass der Schmerz zwar ernst genommen, aber argumentativ überwunden werden soll: Es handelt sich um die Exposition einer stoisch-christlichen Bewährungsprobe.

Psychologisch markiert die Formulierung eine Ethos-Position: Das sprechende Kollektiv benennt Leid, ohne sich als Opfer zu definieren; es bereitet eine rationale, auf Prinzipien gegründete Gegenrede vor.

20 Zu dem man uns verbinden will;

Analyse

Der Relativanschluss Zu dem bindet den an den zuvor genannten Zwang und präzisiert ihn als Ziel intentionaler Fremdverfügung.

Das unpersönliche man verschiebt die Verantwortlichkeit auf eine generische, gesellschaftlich mächtige Instanz; es erzeugt zugleich den Eindruck struktureller, nicht bloß individueller Nötigung.

Uns verbinden greift juristisch-moralische Semantik auf (Verbindlichkeit, Obligation, Gelöbnis); der Zwang richtet sich nicht nur körperlich, sondern auf Bindung des Willens.

Das schließende Semikolon markiert eine starke Zäsur: Die Periode des Klagens ist abgeschlossen, und der argumentative Umschlag steht bevor.

Interpretation

Der macht deutlich, dass das Ziel der Zwangsausübung die verpflichtende Festlegung des Subjekts ist—ein Angriff auf innere Freiheit, Gewissen und Urteil.

Die kollektive Form uns erweitert das Individuelle zum Gemeinwesen; es geht um solidarische Resistenz gegen eine unrechtmäßige Normierung.

In barock-moralischer Perspektive wird hier die Differenz von äußerer Unterwerfung und innerer Integrität vorbereitet: Man kann jemanden zu einem Akt verbinden, aber nicht notwendig die Tugend binden.

Die Formulierung legt nahe, dass das kommende Argument nicht auf Revolte, sondern auf Grenzen der Macht setzt: Das Innere bleibt der letzte Ort der Freiheit.

21 Jedoch wird solcher Uberdrang

Analyse

Das adversative Jedoch löst die durch Zwar eröffnete Konzessivstruktur ein; die Perspektive kippt von erlittenem Schmerz zu normativer Begrenzung.

Solcher demonstrativisiert den zuvor beschriebenen Zwang und qualifiziert ihn nun als Überdrang, also als maßlose Überschreitung legitimer Grenzen.

Überdrang ist semantisch verdichtet: Es vereint Drang/Trieb mit der Präfixsteigerung Über-, wodurch eine Mischung aus Hybris, Eifer und Gewaltlust markiert wird.

Die Futurform wird signalisiert Prognose/Verheißung: Die Aussage zielt nicht auf Gegenwehr im Augenblick, sondern auf einen sicheren Verlauf.

Interpretation

Der reframed die Situation: Aus bloßer Ohnmacht wird ein moralisches Urteil über die Gegenseite—was hier geschieht, ist nicht Autorität, sondern Übergriff.

Die Diagnose Überdrang eröffnet den Weg zu einer teleologisch gedachten Weltordnung, in der Maßlosigkeit sich selbst begrenzt.

Es kündigt sich eine Theodizee im Kleinen an: Unrecht besitzt keine unbegrenzte Dauer, weil es seinem Wesen nach das Maß verfehlt.

Das Sprechen wird performativ tröstend: Es bietet dem Leidenden eine Perspektive jenseits der Momentmächtigkeit des Zwangs.

22 Auch haben sein gestecktes Ziel.

Analyse

Das Auch verstärkt und bestätigt die vorangehende Behauptung; es fungiert als bekräftigendes Bindeglied.

Haben … sein gestecktes Ziel verbindet Besitzmetaphorik mit Finalität: Dem Überdrang ist ein Ziel gesteckt, d. h. vorgängig abgesteckt, begrenzt, markiert.

Die Wortfügung evoziert ein juristisch-politisches wie auch theologisches Register: Grenzen sind gesetzt—durch Gesetz, Vernunft oder Vorsehung.

Grammatisch bezieht sich sein zurück auf Überdrang; die Pointierung liegt auf der Objektivierung der Grenze: Sie ist nicht subjektiv verhandelt, sondern konstitutiv.

Interpretation

Die Aussage entwirft ein Weltbild der Grenze: Selbst die maßloseste Gewalt bleibt eingeschlossen in ein größeres Ordnungsgefüge.

Philosophisch klingt stoische Maßlehre und christliche Providenz an: Das Böse waltet, aber nicht unbegrenzt; es ist teleologisch überholt.

Für die Sprechenden bedeutet das: Widerstand kann geduldig sein, weil Zeit und Ordnung als Verbündete erscheinen; es ist eine Ethik der standhaften Mäßigung.

Politisch-moralisch wird Hoffnung rationalisiert: Nicht bloß Wunsch, sondern Struktur—die Grenze ist gesetzt, nicht erst zu setzen.

23 Der Tugend reines Kleid kan nichts beflecken;

Analyse

Der metaphorische Kern ist das Kleid der Tugend: ein traditionelles Bild für moralische Integrität; rein konkretisiert die Unsullierbarkeit.

Der absolute Anspruch der Negation (nichts) radikalisiert die Aussage: Nicht nur selten, sondern prinzipiell ist Befleckung ausgeschlossen.

Die Bildlogik etabliert eine Außen-Innen-Differenz: Schmutz ist äußerlich, das Kleid der Tugend bleibt unberührt, weil es wesensrein ist.

Der Semikolon-Schluss bereitet die gnomische Pointe im nächsten vor; syntaktisch enden Klage und Diagnose in einer Maxime.

Interpretation

Der formuliert ein zentrales barock-ethisches Axiom: Äußere Gewalt kann die innere Tugend nicht beschmutzen, sofern sie nicht freiwillig zustimmt.

Im Hintergrund stehen biblisch-asketische Topoi (das weiße Gewand/Unbeflecktheit) und die sokratische Maxime, dass Unrecht erleiden besser sei als Unrecht tun.

Psychologisch wirkt die Metapher identitätsstiftend: Sie gibt dem Wir ein unantastbares Selbstbild, das die Wirkung von Demütigung und Schande neutralisiert.

Praktisch bedeutet dies eine Handlungsnorm: Nicht der Zwang entscheidet über Schuld, sondern die Antwort des Gewissens; Integrität ist nicht delegierbar.

24 Die Zeit wird unser Recht der Welt entdecken.

Analyse

Die Zeit wird personifiziert und als forensische Instanz eingesetzt, die entdeckt—also aufdeckt, enthüllt, ans Licht bringt.

Unser Recht schwingt doppeldeutig: sowohl normative Gerechtigkeit als auch ein konkretes Anspruchsrecht; die Spannweite reicht vom Moralischen bis zum Justiziablen.

Der Welt im Dativ markiert die Öffentlichkeit als Adressatin des Offenbarwerdens; nicht nur Gott weiß, sondern die Welt wird sehen.

Das Futur stützt die Struktur von Verheißung und Geduldethik: Die Gerechtigkeit ist nicht negiert, sondern temporär verdeckt.

Interpretation

Der schließt mit einer eschatologisch-weltlichen Synthese: Zeit fungiert als Medium der Providenz, das verborgene Gerechtigkeit in Sichtbarkeit verwandelt.

Für das lyrische Wir bedeutet das eine Ethik der Ausdauer: Statt unmittelbarer Vergeltung setzt es auf Bewährung, Dokumentation und den langen Atem der Wahrheit.

Öffentlichkeitsbezug (der Welt) transformiert privates Leiden in exemplarische Rechtfertigung; das eigene Schicksal erhält paradigmatischen Charakter.

Der Trost ist nicht sentimental, sondern epistemologisch: Was heute verdeckt ist, wird erkennbar; die Ordnung der Dinge ist erkenntnis- und offenbarungsfähig.

Fazit Strophe 4

Die Strophe entfaltet eine klare rhetorische Bewegung: von konzessiver Leidenserkenntnis (V. 19–20) über die Norm der Begrenzung des Unrechts (V. 21–22) zur doppelten Garantie innerer Integrität und zeitlicher Offenbarung (V. 23–24).

Theologisch-philosophisch stehen Maß, Grenze und Zeit im Zentrum: Das Böse ist real, aber maßlos und darum begrenzt; die Tugend ist innerlich unbefleckbar; die Zeit ist das Medium, in dem Recht sichtbar wird.

Poetisch verbindet der Text juristische, ethische und religiöse Register zu einer konzisen Trost- und Standhaftigkeitslehre barocker Prägung.

Vers-für-Vers-Kommentar
Strophe 5

Der beste Rath ist hier Gedult:25
Bleib mir beständig/ wie du bist/26
Ich lebe dir in stillem hold/27
So brechen wir der Feinde List.28
Wenn Redligkeit sich kan zun Sternen heben/29
Muß der Verleumder Maul im Kothe kleben.30

25 Der beste Rath ist hier Gedult:

Analyse:

Der eröffnet mit einer sentenzhaften Maxime (Der beste Rath…), die den Ton einer moralischen Lehrregel anschlägt; solche gnomen sind barock typisch, um eine Situation zu autoritativem Abschluss zu bringen.

Das deiktische hier bindet die Sentenz an die konkrete Konfliktlage des Gedichts (Verleumdung/Feinde), nicht an eine abstrakte Allgemeinheit; die Tugend wird situativ begründet.

Die Orthographie (Rath, Gedult) signalisiert frühneuhochdeutsche Schreibweise; semantisch meint Gedult die christlich-stoische Tugend der Leidens- und Wartefähigkeit, nicht bloß passives Ertragen.

Metrisch legt der einen deutlichen Einschnitt nahe (Der beste Rath | ist hier Gedult), wie in barocken Alexandrinern üblich: eine Binnenzäsur, die Behauptung und Begründung trennt.

Interpretation:

Der Sprecher positioniert Geduld als strategisches Mittel, nicht als resignative Haltung: Der Rat ist taktisch, weil er auf eine Wirkung im Konflikt zielt.

Die Maxime rahmt die Schlussstrophe: Was folgt (Beständigkeit, stille Huld, Überwindung der Feinde, Nemesis der Verleumder) entfaltet die praktische Konsequenz dieser Tugend.

Die Wahl gerade dieser Tugend antwortet auf die Dynamik der Vorwürfe: gegen Hast und Gegengewalt wird die Zeit als Bundesgenossin der Wahrhaftigkeit mobilisiert.

26 Bleib mir beständig/ wie du bist/

Analyse:

Imperativ und Direktansprache (Bleib… mir… wie du bist) markieren eine intime Kommunikationssituation; das Personalpronomen mir setzt Loyalität in ein Ich-Du-Verhältnis.

Beständig ist ein Leitwort barocker Ethik (Konstanz gegen Fortuna und Affekte); es knüpft an aristotelisch-stoische und christliche Diskurse über Standhaftigkeit an.

Die Wiederaufnahme des Status quo (wie du bist) deutet an, dass keine Verwandlung gefordert wird, sondern Beharrung — ein Gegenbild zu der Unruhe, die Verleumdung stiftet.

Klanglich stützt die Alliteration Bleib… beständig die semantische Ruhe durch lautliche Bindung.

Interpretation:

Der verschiebt das Gewicht von der Einzeltugend Geduld (V. 25) zur dialogischen Tugend Treue: Beständigkeit wird als Beziehungspraxis gefasst.

Das mir zeigt, dass die Integrität des Du dem Sprecher Halt gibt; Beständigkeit ist nicht bloß Selbstdisziplin, sondern ein solidarischer Pakt.

In der Logik der Strophe fungiert Konstanz als Schild gegen externe Störungen: Wer ist, wie er ist, entzieht den Anwürfen die Angriffsfläche der Volatilität.

27 Ich lebe dir in stillem hold/

Analyse:

Die Formulierung verbindet Existenz (Ich lebe dir) mit Adressatenorientierung: Leben wird als Hingabe (dir) definiert.

in stillem hold (nahe bei in stiller Huld) beschreibt die Qualität dieser Hingabe: still, nicht prahlerisch; Huld/Hold- konnotiert Gnade, Gunst, zarte Neigung.

Rhythmisch steckt eine weiche Senkung nach der Zäsur (Ich lebe dir | in stillem hold), was die leise, kontemplative Haltung spiegelt.

Stilistisch bildet der das leise Gegenregister zur lauten Polemik der Verleumder: Innentugend statt Außenlärm.

Interpretation:

Der Sprecher entwirft ein Ethos der diskreten Treue: Nicht öffentlicher Verteidigungseifer, sondern stille, beständige Zuwendung konstituiert Wahrheit.

Die Präposition in macht die Huld zum Lebensraum des Ich; Treue ist kein Akt, sondern ein Milieu, das Handeln und Urteil färbt.

In der Dramaturgie der Strophe liefert dieser die affektive Energie, aus der Geduld und Beständigkeit gespeist werden: Liebe als Kraftquelle der Widerstandsfähigkeit.

28 So brechen wir der Feinde List.

Analyse:

Das Folgewort So markiert eine logische Konsequenz: Aus Geduld (V. 25), Beständigkeit (V. 26) und stiller Huld (V. 27) erwächst Wirkung nach außen.

Der Wechsel vom Ich/du zum wir performt Eintracht; die überwundene List ist das Intrigen-Werkzeug der Gegner, typisch für barocke Konfliktszenarien.

brechen ist hart und aktiv: Die zuvor stille Innenhaltung schlägt nicht in Aggression, aber in standhafte, erfolgreiche Abwehr um.

Grammatisch nimmt der Feinde List die Genitivkonstruktion als Verdichtung; der Gegner ist pluralisch und damit diffus — Klatsch, Hofintrige, Öffentlichkeit.

Interpretation:

Der entzaubert die Macht der Verleumdung: Ohne Gegenverleumdung wird ihre List durch die Zeit und die Konsistenz der Handelnden funktionslos.

Das wir ist programmatisch: Nur in reziproker Loyalität kann der Rufschaden repariert werden; Vereinzelung macht verwundbar, Verbundenheit macht unzerbrechlich.

Der semantische Bogen zeigt eine Ethik der sanften Stärke: Innere Ordnung produziert äußere Entschiedenheit, nicht umgekehrt.

29 Wenn Redligkeit sich kan zun Sternen heben

Analyse:

Die Konditionalsyntax (Wenn…) eröffnet einen antithetischen Periodenbau, der in V. 30 aufgelöst wird; klassisches barockes Protasis–Apodosis-Gefüge.

Redligkeit (Redlichkeit) verdichtet Wahrhaftigkeit, Recht-Sinn und moralische Lauterkeit; das Bild der Erhebung zu[n] Sternen kosmisiert die Tugend.

Das Himmelsmotiv schafft eine bildmächtige Vertikalachse (oben/unten), die in V. 30 gegen das Schlamm-Bild kontrastiert wird.

Sprachlich wirkt kan/zun als zeittypische Graphie; die Bewegung (heben) ist aktiv, Redlichkeit hat aufsteigende Tendenz, als trüge sie eigenes Gewicht nach oben.

Interpretation:

Der verankert die moralische Ordnung in einer quasi-kosmischen Architektur: Redlichkeit findet natürliche Affinität zum Erhabenen, nicht durch Zufall, sondern aufgrund ihres Wesens.

Das Wenn ist weniger hypothetisch als exemplarisch: Es ruft eine erfahrungsnahe Wahrheit auf, die das Publikum teilen soll — Tugend leuchtet, wie Sterne leuchten.

Damit bereitet der eine Theodizee des Alltags vor: In der Ordnung des Himmels kündigt sich das Gericht über irdische Zungen an.

30 Muß der Verleumder Maul im Kothe kleben.

Analyse:

Die Apodosis (Muß…) formuliert Notwendigkeit: keine bloße Hoffnung, sondern Gesetzmäßigkeit; die Modalität verstärkt den Effekt der Nemesis.

Verleumder benennt den Gegner präzise; Maul (statt Mund) ist derb-abwertend und animalisiert den Täter.

Das Bild im Kothe kleben ist drastisch plastisch: tiefer Gegenpol zum Sternenaufstieg; die Vertikalantithese wird handgreiflich.

Klanglich bindet die Konsonantenfolge …l…m…l… und die K-Plosive die Viskosität des Bildes lautmalerisch; das Finale auf -eben schließt mit dem Paarreim zu V. 29.

Interpretation:

Der inszeniert eine poetische Vergeltungslogik: Wo Redlichkeit emporsteigt, wird die verleumderische Rede am eigenen Schmutz kleben — sie bleibt an der Materie hängen, die sie ausstreut.

Das derbe Bild bricht jede höfische Zier: Moral ist nicht nur erhaben, sie ist auch handfest; das Urteil erfolgt nicht allein transzendent, sondern sozial-irdisch (Schande, Bloßstellung).

In der Ethik der Strophe wird Wahrheit nicht verteidigt durch Gegenrede, sondern durch die Selbst-Desavouierung der Lüge: Der Schmutz, den sie wirft, haftet am Werfer.

Fazit Strophe 5

In den ersten vier Versen zeichnet sich ein kreuzreimartiges Gefüge ab (V. 26 mit V. 28; V. 25 und V. 27 zeigen einen unsauberen Gleichklang bzw. textgeschichtlich mögliche Varianz), das in ein pointierendes Paarreim-Distichon (V. 29–30) mündet — ein barock typisches Verfahren, um eine moralische Pointe zu setzen.

Der Strophenbogen verläuft von Tugendmaxime (Geduld) über Beziehungsethos (Beständigkeit, stille Huld) zur gemeinschaftlichen Handlung (wir… brechen) und schließt mit einer kosmisch-derben Antithese (Sterne vs. Kot): Ordnung, Praxis, Wirkung, Gericht.

Die semantische Vertikalachse ist das zentrale Ordnungsprinzip: Aufstieg der Redlichkeit – Abstieg/Verklebung der Verleumdung; so dramatisiert die Dichtung die Einsicht, dass Zeit und Wahrhaftigkeit die wirksamsten Gegenspieler der Intrige sind.

Gesamtschau
Organischer Aufbau und Verlauf

1. Einleitende Klage über veränderte Ausdrucksmöglichkeiten (V. 1–6)

Das Gedicht beginnt mit dem Bekenntnis des lyrischen Ichs, nicht mehr frei reden zu können. Statt offener Rede treten heimliche Gesten: gebrochene Seufzer, gestohlene Blicke. Schon hier wird der Grundton von Beklommenheit, Zwang und Beobachtung etabliert.

2. Beschreibung der äußeren Bedrohung (V. 7–12)

In der zweiten Strophe tritt die strenge Aufsicht auf den Plan: Wachen von Neid und Eifersucht umstellen das Paar, jedes Wort wird kontrolliert. Die unschuldige Liebe muss sich wie zwischen Dorn und Eis vorsichtig bewegen. So verschiebt sich die Perspektive vom inneren Erleben zur äußeren sozialen Situation.

3. Anklage gegen die Welt (V. 13–18)

Die dritte Strophe entfaltet das Motiv der feindseligen Umwelt. Diese projiziert ihre eigene Bosheit auf die Liebenden und will ihnen selbst das versagen, was sie nicht genießen kann. Hier wächst der Gegensatz zwischen innerer Reinheit und äußerer Verleumdung.

4. Wendung zum Vertrauen in die Zeit (V. 19–24)

In der vierten Strophe verschiebt sich der Ton: Der Zwang ist zwar schmerzlich, aber er ist zeitlich begrenzt. Die Tugend bleibt unbefleckt; die Zeit wird schließlich das Recht und die Wahrheit offenbaren. Ein Übergang vom Leiden zum Vertrauen wird sichtbar.

5. Abschließende Ermutigung und ethischer Ausblick (V. 25–30)

Die letzte Strophe formuliert die Haltung, die das Paar wahren soll: Geduld und Beständigkeit. Durch Treue und Redlichkeit wird die List der Feinde gebrochen. Am Ende wird der Triumph des Guten über die Lüge in ein kosmisches Bild gefasst: Die Redlichkeit erhebt sich zu den Sternen, während der Verleumder im Schmutz verstummt.

Psychologische Dimension

1. Gefühl der Beklemmung und des Eingeschränktseins

Das lyrische Ich leidet darunter, nicht frei sprechen und handeln zu dürfen. Jede Geste ist kontrolliert; aus Offenheit wird Heimlichkeit.

2. Innere Zerrissenheit zwischen Zuneigung und Angst

Die Liebe zum Kind (wohl eine Geliebte) wird überschattet von ständiger Furcht. Das emotionale Verhältnis bleibt aufrichtig, aber psychologisch belastet.

3. Belastung durch die Beobachtung von außen

Das Empfinden, stets unter den Augen anderer zu stehen, erzeugt einen Zustand permanenter Anspannung und Unsicherheit. Die Umgebung wird als feindlich erlebt.

4. Projektion des Bösen durch die Welt

Psychologisch interessant ist die Vorstellung, dass die böse Welt die Reinheit des Paares nicht anerkennen kann, sondern sie in ihre eigenen Maßstäbe hineinzwingt.

5. Strategie der Bewältigung durch Geduld und Hoffnung

Anstatt in offene Rebellion zu gehen, verlegt sich das Ich auf Geduld, Treue und Hoffnung auf eine höhere Instanz (Zeit, Wahrheit, göttliche Ordnung). Dies stellt eine psychische Selbstberuhigung und Stabilisierung dar.

Ethische Dimension

1. Konflikt zwischen Tugend und Verdacht

Obwohl die Liebe rein und unschuldig ist, wird sie von der Welt verdächtigt. Damit reflektiert das Gedicht das ethische Problem der Diskrepanz zwischen subjektiver Lauterkeit und öffentlichem Urteil.

2. Bewahrung der Unschuld gegen Anfeindung

Der Sprecher betont, dass die Tugend nichts beflecken kann, auch wenn sie angefeindet wird. Hier wird ein ethisches Ideal von innerer Reinheit und moralischer Unerschütterlichkeit aufgestellt.

3. Geduld als moralische Tugend

Statt Widerstand oder Trotz wird Geduld als höchste Tugend empfohlen. Sie wird zum ethischen Prinzip, das die Last der Verleumdung erträglich macht.

4. Beständigkeit in der Liebe als ethischer Wert

Das Gedicht hebt Treue und Beständigkeit hervor. Dies gilt nicht nur als persönliches, sondern als moralisch richtiges Verhalten, das der List und Bosheit standhält.

5. Gegensatz von Redlichkeit und Verleumdung

Die Schlusspointe bringt eine klare ethische Wertung: Redlichkeit steigt zu den Sternen, Verleumdung versinkt im Schmutz. Wahrheit und Falschheit sind unvereinbar, und ihre moralischen Konsequenzen werden unübersehbar.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Dualität von Welt und Tugend

Philosophisch liegt dem Gedicht ein Dualismus zugrunde: Die Welt steht für Bosheit, Neid, Eifersucht und falsches Urteil; die Tugend hingegen für Reinheit, Wahrheit und göttlich gestützte Unerschütterlichkeit.

2. Zeit als eschatologisches Prinzip

Die Aussage Die Zeit wird unser Recht der Welt entdecken enthält einen theologischen Zug: Zeit ist hier nicht nur Chronologie, sondern eine höhere, heilsgeschichtliche Instanz, die das Verborgene ans Licht bringt. Dies erinnert an das Jüngste Gericht, wo Wahrheit offenbar wird.

3. Kosmologische Symbolik der letzten Strophe

Das Bild, dass Redlichkeit sich zu den Sternen erhebt, deutet auf eine metaphysische Ordnung: Wahrheit und Reinheit haben Anteil am Ewigen, Transzendenten. Der Verleumder dagegen bleibt irdisch, schmutzig, gebunden an die Vergänglichkeit.

4. Theologie der Bewährung im Leiden

Das Gedicht impliziert eine theologische Anthropologie: Wahre Tugend wird nicht im Glück, sondern in der Bedrängnis bewährt. Leiden und Zwang sind Prüfungen, die die Echtheit des Guten erst sichtbar machen.

5. Ethisch-religiöse Pädagogik der Geduld

Geduld wird nicht nur psychologisch als Bewältigungsstrategie, sondern auch theologisch als Nachfolge Christi verstanden: das stille Ertragen, die Demut, das Vertrauen auf göttliche Gerechtigkeit. Hier klingt eine Spiritualität der Standhaftigkeit an.

6. Anthropologische Grundspannung zwischen Innen und Außen

Der Mensch lebt in einer Spannung: innerlich redlich und unschuldig, äußerlich aber unter Verdacht und Zwang. Diese Polarität verweist auf die conditio humana in einer gefallenen Welt, in der das Böse die Reinheit nicht dulden kann.

Moralische Dimension

1. Das Gedicht thematisiert die Spannung zwischen innerer Reinheit und äußerem Misstrauen: Die Liebenden wissen sich unschuldig, doch die Gesellschaft unterstellt ihnen Bosheit und Sünde. Moralisch tritt hier der Gegensatz von Tugend und Verleumdung hervor.

2. Abschatz betont die Kraft der Geduld: Trotz Drangsal und Beobachtung durch neidische Dritte soll das Paar standhaft bleiben. Geduld wird hier nicht als passive Haltung verstanden, sondern als aktives Durchhalten, das List und Zwang überwindet.

3. Tugend erscheint als unzerstörbare Qualität: Sie gleicht einem reinen Kleid, das durch keinen äußeren Angriff befleckt werden kann. Damit wird die moralische Integrität als innerlich gesichert und unverlierbar dargestellt.

4. Verleumdung und Missgunst werden zwar als bedrängende Realität beschrieben, verlieren jedoch ihre Macht, sobald die Zeit – und damit die höhere Instanz der Gerechtigkeit – das wahre Wesen der Liebenden aufdeckt. Moralisch wird also auf die Macht der Wahrheit gesetzt, die sich im Verlauf der Zeit von selbst offenbart.

5. Die letzte Strophe formuliert eine Art moralisches Endgericht: Wer Redlichkeit bewahrt, wird sich zu den Sternen erheben; wer verleumdet, wird im Schmutz verstummen. Die Gegensätze von Himmelsaufstieg und Erdverhaftung unterstreichen die moralische Konsequenz menschlichen Handelns.

Anthroposophische Dimension

1. Das Gedicht verweist auf eine seelische Entwicklung vom Erdgebundenen zum Sternenhaft-Erhöhten: Anfangs klebt das Auge an der Erde, am Ende hebt sich die Redlichkeit zu den Sternen. Anthroposophisch gelesen spiegelt dies den Weg des Ichs von der Verstrickung in die äußere Welt zur geistigen Erhöhung.

2. Die Nymphe, als angesprochene Gestalt, kann symbolisch für die höhere Seelenkraft oder das inspirierende Geistwesen stehen, das dem Sprecher in seiner Läuterung gegenübertritt. Das dialogische Moment weist über das bloß Menschlich-Sinnliche hinaus in eine metaphysische Beziehung.

3. Die Gesellschaft, die mit Neid und Eifer wacht, verkörpert in anthroposophischer Sicht die Kräfte der Widersacher – Ahriman und Luzifer –, die durch Misstrauen, Verleumdung und Zwang versuchen, den Weg des freien Ichs zu stören.

4. Geduld und Treue werden als Mittel vorgestellt, um den Widersachern standzuhalten. Diese Tugenden entsprechen in der anthroposophischen Entwicklung dem ruhigen inneren Gleichgewicht, das die Seele im Aufstieg zum Geistigen stabilisiert.

5. Das Endbild der Sterne verweist auf die kosmische Dimension des Menschen: Redlichkeit erhebt sich nicht nur moralisch, sondern auch kosmisch-spirituell. Der Mensch, der sich der Wahrheit hingibt, verbindet sich mit dem Sternenwesenhaften, das in der anthroposophischen Kosmologie den höheren Daseinsstufen entspricht.

Ästhetische Dimension

1. Das Gedicht entfaltet seine Schönheit aus der Spannung von Nähe und Distanz: die Rede von verbrochnen Seufzern und gestohlenen Blicken evoziert eine zarte, beinahe ephemere Erotik, die jedoch von äußeren Fesseln umstellt ist. Die Ästhetik lebt vom Gegensatz zwischen Sehnsucht und Behinderung.

2. Der Natur- und Bildwortschatz (Dorn und Eis, Sternen, Koth) schafft eine klare Symbolsprache, die das Schöne und Reine gegen das Hässliche und Erniedrigte kontrastiert. Diese Antithetik erzeugt eine poetische Spannung, die die moralische Botschaft ästhetisch verstärkt.

3. Das Gedicht weist eine geschlossene Strophenstruktur mit sechs Versen pro Strophe auf, die eine ruhige rhythmische Ordnung gibt. Dieses formale Gleichmaß hebt die innere Unruhe der Situation hervor, indem es einen Rahmen der Harmonie setzt, in den das Leid eingespannt wird.

4. Der Wechsel von intimer Ansprache (mein Kind) zu gesellschaftlicher Anklage (die schlimme Welt) gestaltet eine ästhetische Polarität: das Gedicht bewegt sich zwischen lyrischer Innigkeit und sozialer Kritik.

5. Besonders die letzte Strophe steigert die Bildlichkeit ins Metaphysische: der Sternenaufstieg der Tugend und das Schmutz-Schweigen des Verleumders bilden eine ästhetische Klimax, die den Leser mit einem starken Kontrast entlässt. Schönheit wird hier aus moralisch-bildlicher Klarheit gewonnen.

Rhetorische Dimension

1. Das Gedicht arbeitet stark mit Antithesen: Erde vs. Sterne, Tugend vs. Verleumdung, Reinheit vs. Schmutz. Diese Gegensätze geben der Rede Schärfe und verdeutlichen die moralische Haltung.

2. Es nutzt den rhetorischen Topos der captatio benevolentiae durch die intime, direkte Anrede der Geliebten (mein Kind), die das Gedicht zunächst in ein vertrauliches Gespräch einbindet.

3. Metaphern und Allegorien (reines Kleid, zwischen Dorn und Eis gehen) tragen zur rhetorischen Veranschaulichung bei und lassen abstrakte Inhalte konkret werden.

4. Die wiederholte Thematisierung der Welt und ihrer scharffen Wacht führt rhetorisch eine Personifikation ein: die Gesellschaft erscheint wie ein überwachendes, neidisches Wesen, gegen das man sich verteidigen muss.

5. Die Schlusswendung mit dem Bild des Maul[s] im Kothe ist eine rhetorische Pointe: eine grob-dramatische Metapher, die die vorherigen edlen Bilder konterkariert und die Gegner durch drastische Bildlichkeit herabsetzt. Diese scharfe Wendung verstärkt die argumentative Kraft des Gedichts.

Metaebene

1. Das Gedicht entfaltet sich als poetische Reflexion über das Spannungsfeld von Liebe und gesellschaftlicher Kontrolle. Die Sprecherfigur ist gefangen zwischen der Intensität ihrer Empfindungen und dem Druck einer feindseligen Außenwelt.

2. Zentral ist die Erfahrung der ständigen Überwachung: Die Rede wird eingeschränkt, Gesten und Blicke müssen verborgen bleiben. Dadurch entsteht ein Gegensatz von innerer Freiheit des Gefühls und äußerer Gängelung durch soziale Normen.

3. Die Welt erscheint als Instanz der Missgunst und Verleumdung. Das lyrische Ich sieht sich in einer Art moralischem Tribunal, in dem die Unschuld durch Verdacht verdunkelt wird.

4. Auf der Metaebene thematisiert das Gedicht somit nicht nur die persönliche Liebeserfahrung, sondern auch die Anthropologie der Zeit: ein Misstrauen gegenüber der Gesellschaft, ein Ideal der Unschuld, das durch die schlimme Welt bedroht wird.

5. Es findet sich ein dialektisches Moment: Je größer die äußere Einschränkung, desto stärker der innere Schwur der Treue und Reinheit.

Poetologische Dimension

1. Das Gedicht folgt einer klassischen barocken Rhetorik, in der das lyrische Ich seine Rede bewusst zügelt: Der Sprecher hebt an, betont aber sofort, dass er nicht mehr so frey sprechen kann wie zuvor. Schon der Anfang reflektiert die eigene poetische Stimme.

2. Poetologisch wird hier also die Bedingung der Rede selbst thematisiert: Liebe kann nicht offen ausgesprochen, sondern nur chiffriert vermittelt werden, etwa in verbrochnen Seufftzern oder gestohlnen Blicken.

3. Die Sprache fungiert als Medium der Verschleierung und gleichzeitigen Offenbarung. Dadurch wird das Gedicht selbst zum Beispiel jener gestohlenen Mitteilung, die in poetischer Form noch an die Geliebte herangetragen werden kann.

4. Die poetische Struktur ist zudem als Widerstand gedacht: Wo die äußere Welt die offene Kommunikation verhindert, übernimmt die Dichtung die Funktion, heimlich, verschlüsselt und dennoch treu zu sprechen.

5. Poetologisch gesehen macht das Gedicht deutlich, dass Poesie im Barock auch eine Schutzform ist – ein Raum, in dem das Unschuldige vor dem Zugriff der neidischen Welt gerettet wird.

Metaphorische Dimension

1. Immer wieder erscheinen Bilder von Fessel, Zwang und Überwachung, die die Erfahrung des Liebenden im sozialen Raum versinnbildlichen. Die Liebe wird nicht frei, sondern wie in einem Gefängnis erlebt.

2. Besonders stark ist das Bild des zwischen Dorn und Eiß behutsam gehen: Die Liebenden wandeln auf einem gefährlichen Pfad, wo jederzeit Verletzung droht. Die Naturmetaphern (Dorn, Eis) steigern die Empfindung von Bedrohung.

3. Auch die Metapher der verbrochnen Seufftzer macht deutlich, dass Kommunikation nicht ganz, sondern nur in Fragmenten möglich ist. Gefühle erscheinen als gebrochene Zeichen, deren Zerbrochenheit ihre Wahrheit unterstreicht.

4. Das Kleid der Tugend wird als Symbol reiner Integrität eingeführt: Es kann von äußeren Angriffen nicht beschmutzt werden. Hier erscheint das Bild einer unzerstörbaren inneren Wahrheit.

5. Schließlich wird das Ende durch eine kosmische Metapher gekrönt: Die Redlichkeit hebt sich zum Sternen. Gegenbild dazu ist das Maul des Verleumders, das im Kothe kleben muss. Himmel und Erde, Glanz und Schmutz, Redlichkeit und Niedertracht stehen in kontrastiver Symbolik einander gegenüber.

Literaturgeschichtliche Dimension

1. Das Gedicht steht fest im Kontext barocker Liebeslyrik. Zentrale Themen wie Verstellung, Überwachung, gesellschaftlicher Argwohn und der Gegensatz von äußerer Zwanghaftigkeit und innerer Freiheit sind typisch für die Epoche.

2. Hans Aßmann von Abschatz gehört zum literarischen Umfeld des schlesischen Barocks, das stark von Martin Opitz’ Regelpoetik und von der rhetorischen Kunstform des Petrarkismus geprägt ist.

3. Die Verbindung von Liebesempfindung mit einer Reflexion auf Moral, Tugend und Gesellschaft weist auf die Verflechtung von Privatem und Öffentlichem in der Barockzeit hin. Liebe ist nie nur Gefühl, sondern immer auch sozialer Diskursraum.

4. Charakteristisch für die Epoche ist auch die Spannung zwischen Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit: Die Verleumdung mag mächtig erscheinen, doch die Zeit wird am Ende die Wahrheit ans Licht bringen – ein barockes Vertrauen in die Offenbarung durch den Lauf der Welt.

5. Abschatz’ Dichtung steht zugleich in der Tradition des höfischen Milieus, wo Liebe und soziale Kontrolle eng miteinander verflochten waren: Intrige, Eifersucht und gesellschaftliche Beobachtung bestimmten den Rahmen, in dem sich die Dichtung bewegte.

Literaturwissenschaftliche Dimension

1. Die enge Verzahnung von Redehemmung und poetischem Ausdruck macht das Gedicht interessant für Diskurse über Selbstzensur und Kommunikationsstrategien im Barock. Es thematisiert zugleich die Bedingtheit und den Akt des Dichtens selbst.

2. Das Motiv der Welt als feindliche Instanz verweist auf die Topik der Barockzeit, in der die Welt oft als verkehrter, sündiger oder neidischer Raum erscheint. Literaturwissenschaftlich lässt sich dies mit der barocken Vanitas-Erfahrung verbinden: Die Welt ist unsicher, instabil und von Täuschung geprägt.

3. Rhetorisch ist das Gedicht durch Antithesen geprägt: unschuldige Liebe vs. böse Welt, Reinheit vs. Verdacht, Sternenglanz vs. Kot. Diese Struktur erzeugt eine permanente Spannung, die das Gedicht formal wie inhaltlich durchzieht.

4. Texttheoretisch lässt sich das Gedicht als Beispiel einer Kommunikation unter Zensur lesen, in der die Lyrik selbst als Medium verschlüsselter Botschaften fungiert. Die Gedichtform ersetzt das offene Gespräch und zeigt, wie Poesie im Barock zwischen Gesellschaft und Subjekt vermittelt.

5. Aus gattungstheoretischer Sicht gehört es in den Bereich der Schäferdichtung, wobei die Figuren Nimphe und Kind einen pastoralischen Ton tragen, während gleichzeitig die Intrusion der realen, gesellschaftlich feindseligen Welt das bukolische Ideal stört.

Assoziative Dimensionen

1. Das Gedicht evoziert das Bild einer geheimen, durch äußere Zwänge und Beobachtung bedrohten Liebesbeziehung. Man denkt an den klassischen Topos des verbotenen Gesprächs zwischen zwei Liebenden, das durch Wächter, Neid und Argwohn ständig gefährdet ist.

2. Das Auge, das an der Erde klebt und die gestohlenen Blicke rufen eine Atmosphäre der Scham, der Zurückhaltung und zugleich des inneren Verlangens hervor. Assoziativ verbinden sich Bilder von Fesselung, Erdenschwere, heimlicher Seufzer mit einem fast sakralen Ernst.

3. Die Welt erscheint als feindliche Macht, die nicht nur beobachtet, sondern aktiv die unschuldige Liebe diffamiert und unterdrücken möchte. Assoziationen gehen hier zu sozialen Konventionen, zum sozialen Auge, das alles sieht und normiert.

4. Gleichzeitig tritt der Gedanke der Tugend als Schutz auf. Reinheit, Keuschheit und Beständigkeit sind wie ein unsichtbarer Schild, der allen Verleumdungen standhält. Dies weckt Assoziationen zur Märtyrerfigur, die schweigend Unrecht erträgt, aber auf höhere Rechtfertigung vertraut.

5. Geduld erscheint als zentrales Leitmotiv. Die Geduld wird assoziiert mit einer Haltung, die Leid erträgt, aber auf die Macht der Zeit und auf die Enthüllung der Wahrheit vertraut.

6. Schließlich tritt eine fast kosmische Dimension auf: wenn Redlichkeit sich zu den Sternen heben kann, dann ist das Vertrauen auf eine übermenschliche, göttliche oder kosmische Gerechtigkeit gemeint, die alle irdischen Verleumder im Kot zurücklässt.

Formale Dimension

1. Das Gedicht umfasst fünf Strophen zu je sechs Versen. Es zeigt damit eine symmetrische, liedhafte Struktur, die von Klarheit und Geschlossenheit geprägt ist.

2. Der Reim folgt dem Paarreimschema (aabbcc), wodurch jede Strophe eine geschlossene Einheit bildet. Dies verstärkt das Gefühl einer abgeriegelten Welt, in der die Rede der Liebenden sich trotz der äußeren Bedrängnis in sich selbst vollendet.

3. Die Sprache weist den typischen barocken Duktus auf: häufige Antithesen (Unschuld ↔ Verdacht, Reinheit ↔ Verleumdung, Tugend ↔ Boßheit), die durch die syntaktische Parallelität hervorgehoben werden.

4. Rhetorisch treten besonders Metaphern hervor: zwischen Dorn und Eiß gehen (für mühsam, vorsichtig leben), Redligkeit zu den Sternen heben (kosmische Erhöhung der Tugend), Maul im Kothe kleben (herabwürdigende Metapher für den Verleumder).

5. Der Duktus ist zugleich empfindsam und moralisch-didaktisch: das Gedicht verbindet ein persönliches Sprechen (mein Kind) mit einer reflektierenden, fast predigthaften Haltung, die den Liebenden einen Weg weist.

Topoi

1. Verbotene oder bedrängte Liebe – der Topos der geheimen Zuneigung, die durch äußere Kontrolle und Argwohn bedroht wird, findet sich in der Liebeslyrik seit der Antike.

2. Die feindliche Welt – das Umfeld als böswillige Macht, die eigene Reinheit nicht anerkennt, sondern verzerrt.

3. Verleumdung und falscher Schein – die Diskrepanz zwischen innerer Unschuld und äußerer Verdächtigung ist ein barocker Gemeinplatz.

4. Tugend und Reinheit – das Motiv, dass wahre Tugend nicht befleckt werden kann, erinnert an stoische wie christliche Vorstellungen der Integrität.

5. Geduld als Heilmittel – barockes Leiden und Erdulden, das in höherer, transzendenter Rechtfertigung mündet, gehört zu den zentralen Tugendtopoi.

6. Kosmische Gerechtigkeit – die Sterne als Ort der Rechtfertigung, der Kot als Bild für die Erniedrigung der Verleumder: hier wird ein starkes Oben–Unten-Schema aufgerufen.

Literaturepochentypische Kontextualisierung

1. Das Gedicht ist typisch barock in seiner Verbindung von persönlicher Leidenschaft und moralisch-religiöser Reflexion. Der barocke Dualismus von Schein und Sein, von Welt und Innerlichkeit, von Tugend und Boßheit tritt hier exemplarisch hervor.

2. Auch die formale Strenge, die geschlossene Strophik und das konsequente Reimschema sind barocke Merkmale, die der Rede Ordnung und Symmetrie verleihen – gerade in einem von Unordnung bedrohten inhaltlichen Feld (Liebe unter Überwachung).

3. Typisch barock ist die starke Metaphorik mit Kontrastbildern: Dornen und Eis für Bedrängnis, Sterne und Kot für die Endgültigkeit der kosmischen Gerechtigkeit.

4. Der moralisch-didaktische Gestus verweist auf den barocken Grundzug, dass Liebesgedichte häufig nicht nur Ausdruck individueller Gefühle sind, sondern zugleich in eine sittliche, weltanschauliche Ordnung eingebunden bleiben.

5. Die Spannung zwischen privatem Gefühl und gesellschaftlicher Norm spiegelt die barocke Grundproblematik von Individuum und Öffentlichkeit, Innerlichkeit und äußerer Kontrolle.

Strophenübergreifende Gesamtschau

1. Das Gedicht entfaltet das Bild einer Liebe, die von außen bedrängt, misstrauisch beäugt und moralisch verdächtigt wird, und zeigt die psychische Lage der Liebenden: heimliches Seufzen, verstohlene Blicke, Reden unter ständiger Furcht.

2. Die Wacht von Neid und Eifersucht steht sinnbildlich für die gesellschaftlichen Normen und Zwänge, die alles kontrollieren und selbst die unschuldige Zuneigung verdächtigen. Das lyrische Ich und sein Gegenüber müssen daher wie auf einem gefährlichen Pfad zwischen Dorn und Eis vorsichtig voranschreiten.

3. Die Welt erscheint als feindliche Macht, die eigene Schuldlosigkeit nicht anerkennt, sondern in ihrer Bosheit andere ihrer Reinheit berauben möchte. In diesem Spiegel erscheint die Liebe umso reiner und wehrloser.

4. Gegen die Last des Zwanges setzt das lyrische Ich den Glauben an die Dauer der Tugend: die Zeit wird enthüllen, was recht ist, und die falschen Anschuldigungen zunichtemachen. Reinheit bleibt unbefleckt.

5. Der Rat der Geduld fasst die Grundhaltung zusammen: nicht mit Trotz oder Rebellion soll den Anfeindungen begegnet werden, sondern mit stiller Beständigkeit, in der Gewissheit, dass Redlichkeit schließlich kosmische Rechtfertigung erfährt.

6. Am Ende steht eine klare Hierarchie: die Redlichkeit wird erhöht und den Sternen gleich, während die Verleumder im Kot verstummen müssen. Das Gedicht schließt also mit einem Triumph der inneren Tugend über die äußere Bosheit, in einem Bild, das zugleich der individuellen Liebeserfahrung wie der barocken Weltsicht eine moralische Deutung gibt.

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