Die schwartz-braune Nigelline
Hylas mag nach seinem Sinn1
Andre Farben köstlich schätzen/2
Sich mit weiß und roth ergötzen;3
Schwartz ist meine Schäfferin.4
Schwartz vergnüget meine Seele/5
Schwartz soll meine Farbe seyn/6
Biß des schwartzen Grabes Höle7
Schleust den todten Cörper ein.8
Zwar der hellen Augen Licht/9
Welche Pallas blau gewiesen/10
Wird von Paris hoch gepriesen/11
Aber hebt den Apffel nicht:12
Der Zytheren süsses Blicken/13
Die aus ihrer Augen Nacht14
Kunte Sonnen-Strahlen schicken/15
Hat den Preiß darvon gebracht.16
Göldner Locken stoltze Pracht17
Mag den leichten Nero fangen:18
Bleibt das klügste Wild nicht hangen/19
Wo die Schlinge schwartz gemacht?20
Braunes Haar kan auch verdienen/21
Gleich dem gelben/ Zahl und Lied:22
Zeuge/ wer an Nigellinen23
Ein recht würdig Beyspiel sieht.24
Rühmt der rothen Schmincke Zier/25
Last die weiße Cloris prangen26
Mit dem Schnee der glatten Wangen;27
Schwartz allein beliebet mir.28
Noth muß von der Sonne bleichen/29
Weiß nimmt ihre Brandmahl an;30
Ists nicht schwartz/ der Treue Zeichen/31
Das sich nimmer ändern kan.32
Schwärzt der blaue Himmel nicht/33
Wenn ist Phöbus seinen Wagen34
Zu der Thetis lassen tragen/35
Sein gebräuntes Angesicht.36
Liebt man nicht den duncklen Schaten37
Und der schwartzen Nächte Rast/38
Wenn die heißen Glieder braten39
Für des Tages Uberlast?40
Wird nach schwartzer Kirschen Frucht41
Nicht der höchste Baum bestiegen/42
Andre/ die man siehet liegen/43
Kaum mit fauler Hand gesucht?44
Muß der Blumen Preiß nicht steigen/45
Muß nicht Ros' und Tulipan/46
Wenn sie sich zur Schwärtze neigen/47
Höher seyn gesehen an.48
Hylas mag nach seinem Sinn49
Andrer Farben Zier erheben:50
Will sich mir zu eigen geben51
Meine schwartze Schäfferin/52
So sag ich von Grund der Seele:53
Schwartz soll meine Farbe seyn/54
Biß des schwartzen Grabes-Höle55
Schleust den todten Cörper ein.56
Hylas mag nach seinem Sinn1
Andre Farben köstlich schätzen/2
Sich mit weiß und roth ergötzen;3
Schwartz ist meine Schäfferin.4
1 Hylas mag nach seinem Sinn
Sprachlich: Der Name Hylas evoziert unmittelbar die antike Mythologie – Hylas, der Geliebte des Herakles, der von den Nymphen entführt wurde. Schon im ersten wird also ein mythologischer Vergleichsrahmen aufgerufen. Die Formulierung nach seinem Sinn ist idiomatisch und zeigt eine subjektive Geschmacksperspektive.
Rhetorisch: Der eröffnet mit einer Anrufung bzw. Nennung einer fremden Gestalt (Hylas), was als Allusion funktioniert. Damit wird eine intertextuelle Autorität eingeführt. Der Satzbau ist elliptisch-parataktisch: Hylas mag…, ein Kontrast wird vorbereitet.
Inhaltlich: Der Sprecher positioniert sich gegen die Vorlieben des Hylas. Hylas wird als exemplarische Figur des Schönheitsempfindens präsentiert, aber nicht als gültige Norm. Der lyrische Sprecher kündigt eine Gegenperspektive an.
2 Andre Farben köstlich schätzen/
Sprachlich: Andre Farben verweist auf ein Plural von Schönheitsidealen. Das Adjektiv köstlich hat im Barock eine doppelte Valenz: sinnlich-ästhetisch (schön, reizvoll) und ökonomisch-materiell (wertvoll, kostbar).
Rhetorisch: Die Alliteration Farben … köstlich … schätzen wirkt klanglich verbindend. Zudem wird das Prinzip der Variation eingeführt: der Geschmack des Anderen (Hylas) besteht darin, unterschiedliche, bunte Farben zu würdigen.
Inhaltlich: Es wird ein breites Schönheitsideal (andre Farben) als gängige Norm etabliert. Damit entsteht der Kontrast zum Ich-Sprecher, der eine andere, exklusive Präferenz gleich darlegen wird.
3 Sich mit weiß und roth ergötzen;
Sprachlich: Die Farbkombination weiß und roth ist ein feststehendes Schönheitsideal der europäischen Liebesdichtung seit dem Mittelalter: Weiß steht für Haut, Reinheit, Unschuld; Rot für Lippen, Blut, Vitalität. Es evoziert den klassischen Schönheitsstandard. Das Verb ergötzen verstärkt die Dimension sinnlichen Genusses.
Rhetorisch: Ein Parallelismus zur Farbnennung (weiß und roth) wirkt als typische Formel. Gleichzeitig ist es eine Toposformel barocker Liebesdichtung.
Inhaltlich: Hier wird die Tradition beschworen: Hylas und die anderen schätzen die konventionelle Schönheit von Weiß-Rot (eine Art archetypische Venus-Schönheit). Dadurch wird die Erwartungshaltung des Publikums bewusst in den Vordergrund gestellt, bevor sie gebrochen wird.
4 Schwartz ist meine Schäfferin.
Sprachlich: Der Kontrast zu 3 wird abrupt eingeführt: Schwartz anstelle von weiß und roth. Das Subjekt des Begehrens ist die Schäfferin – ein pastorales Motiv, das in barocker Dichtung häufig vorkommt (Schäferidyllen, Arkadien). Meine markiert den Besitzanspruch bzw. die subjektive Bindung.
Rhetorisch: Der kulminiert in einer Antithese: weiß und roth versus Schwartz. Durch den abrupten Gegensatz entsteht eine Pointe. Gleichzeitig liegt eine Ironisierung des Schönheitsideals vor: was die anderen ergötzt, interessiert den Sprecher nicht. Er erhebt die ungewöhnliche Farbe zum Ideal.
Inhaltlich: Der Sprecher bekennt sich zu einer geliebten Schäferin, deren Merkmal die dunkle Haut- oder Haarfarbe ist. Damit wird nicht nur ein Gegenideal gesetzt, sondern auch ein Spiel mit Exotik und Abweichung betrieben. Im Kontext barocker Liebeslyrik ist das eine paradoxe Umkehrung des gängigen Schönheitskanons: Schönheit liegt nicht im weißen und roten Gesicht, sondern im Dunklen.
Schwartz vergnüget meine Seele/5
Schwartz soll meine Farbe seyn/6
Biß des schwartzen Grabes Höle7
Schleust den todten Cörper ein.8
5 Schwartz vergnüget meine Seele/
Sprachlich: Das Adjektiv Schwartz fungiert als Schlagwort und trägt eine programmatische Bedeutung. Es erscheint ohne nähere Substantivbindung und wirkt dadurch fast emblematisch. Der ungewöhnliche Zusammenhang von schwartz mit vergnüget erzeugt einen paradoxalen Effekt, da Schwarz gewöhnlich mit Trauer, Tod und Melancholie assoziiert wird.
Rhetorisch: Hier wird eine Antithese impliziert – die schwarze Farbe, die traditionell als düster gilt, wird zum Auslöser von Freude und Seelenlust. Es entsteht eine Art oxymoronic delight, wie es barocke Dichtung oft kultiviert (ähnlich dem süßen Tod, schönen Schmerz). Das Alliterationspaar Schwartz – Seele verstärkt die Klangwirkung.
Inhaltlich: Der Sprecher bekennt sich zur Freude an der Schwärze, wobei die Farbe nicht nur ästhetisch, sondern auch emotional besetzt ist. Sie wird zur Quelle innerer Befriedigung und könnte zugleich auf die geliebte Nigelline verweisen, deren dunkle Schönheit den Sprecher vergnügt. Die Seele selbst ist in barocker Konzeption Zentrum der Affekte – also keine abstrakte, sondern eine empfindsame Instanz.
6 Schwartz soll meine Farbe seyn/
Sprachlich: Wieder tritt Schwartz an den Versanfang, was die Emphase steigert. Das Verb soll markiert einen Willensentschluss und hebt die programmatische Setzung hervor. Meine Farbe deutet auf Identifikation hin: nicht nur ästhetisches Gefallen, sondern existenzielle Zueignung.
Rhetorisch: Die Wiederholung (Schwartz ... Schwartz) erzeugt eine anaphorische Struktur, die das Motiv der Schwärze rhetorisch einhämmert. Damit entwickelt sich ein starkes Bekenntnischarakter, fast wie ein Gelübde.
Inhaltlich: Der Sprecher erklärt Schwarz zu seiner Lebensfarbe – eine Selbstverpflichtung zur Treue gegenüber der dunklen Schönheit. Im Kontext der barocken Mode und Symbolik kann dies sowohl auf Trauerfarbe als auch auf Eleganz und Noblesse verweisen. Es schwingt eine metaphysische Dimension mit: Schwarz wird zu einem Lebenssymbol, das über das Äußere hinaus das Sein bestimmt.
7 Biß des schwartzen Grabes Höle
Sprachlich: Biß als temporales Adverb markiert eine Grenze: die Bindung an Schwarz währt bis zum Tod. Das Bild vom schwartzen Grab intensiviert das Motiv der Schwärze, indem es die Farbe mit Endgültigkeit und Vergänglichkeit verbindet. Höle (Höhle) verstärkt die Bildlichkeit: das Grab ist nicht bloß ein Ort, sondern ein verschlingender Raum.
Rhetorisch: Das Enjambement von V. 6 zu V. 7 (kein Punkt nach seyn/) verschränkt die Entscheidung (Schwartz soll meine Farbe seyn) mit der finalen Bedingung (Biß des schwartzen Grabes Höle). Damit entsteht eine rhetorische Klammer, die den Willensakt mit der Todesgrenze verklammert. Auch hier ist eine Chiasmusstruktur latent: Schwartz – Farbe – Grab – Höle, wo Anfang und Ende in einer Kreisbewegung zusammentreten.
Inhaltlich: Schwarz wird hier mit der letzten Grenze menschlicher Existenz verknüpft. Die Entscheidung für Schwarz hat also nicht nur ästhetisch-erotische, sondern auch eschatologische Tragweite: Das Bekenntnis reicht bis in den Tod, die Schwärze des Grabes wird zur Endstation und zugleich zum Siegel der Treue.
8 Schleust den todten Cörper ein.
Sprachlich: Das Verb schleust ist ungewöhnlich gewählt – es evoziert das Bild eines Verschlusses, ähnlich einem Tor oder Schott. Es verstärkt die Vorstellung des Grabes als eine verschlossene Kammer. Orthographisch fällt die Schreibung Cörper auf, die das Körperliche in barocker Orthographie noch schwer und materiell erscheinen lässt.
Rhetorisch: Der bringt eine kräftige Finalisierung: Das Grab ist nicht nur Höhle, sondern eine verschließende, einschließende Instanz. Der Rhythmus endet auf ein, wodurch ein starker Schlussklang entsteht, der die Endgültigkeit unterstreicht.
Inhaltlich: Der Tod erscheint nicht abstrakt, sondern konkret im physischen Einschluss des Körpers. Das Seelenbekenntnis aus V. 5 kontrastiert hier mit der Körperlichkeit – Seele und Körper werden getrennt, der Körper geht ins Grab, die Seele bleibt beim Schwarz als ihrer Lust. Dadurch schwingt ein barock-typisches memento mori mit: auch die Treue zur Schwärze endet nicht vor der physischen Grenze, sondern begleitet den Sprecher bis in den Tod.
Zwar der hellen Augen Licht/9
Welche Pallas blau gewiesen/10
Wird von Paris hoch gepriesen/11
Aber hebt den Apffel nicht:12
9 Zwar der hellen Augen Licht
Sprachlich: Die Formulierung hellen Augen Licht arbeitet mit einer typisch barocken Lichtmetaphorik. Licht fungiert hier als pars pro toto für die Ausstrahlung, Klarheit und Schönheit des Blickes. Der Adjektivgebrauch hellen verstärkt den Eindruck von Reinheit und geistiger Erhellung, die aus den Augen einer Gestalt strahlt.
Rhetorisch: Das Zwar markiert einen concessiven Eingang, eine Einschränkung, die rhetorisch vorbereitet, dass ein Einwand oder eine Gegenwertung folgen wird. Der eröffnet damit ein Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Relativierung.
Inhaltlich: Angespielt wird auf die Schönheit einer Figur mit hellen Augen, die mythologisch verortet ist – es handelt sich um eine Anspielung auf Pallas Athene, die in der Folge genannt wird. Die Augen sind Spiegel der inneren Weisheit, zugleich aber auch Gegenstand sinnlicher Bewunderung. Der Sprecher erkennt diese Schönheit an, aber deutet schon an, dass sie nicht ausschlaggebend sein wird.
10 Welche Pallas blau gewiesen
Sprachlich: gewiesen bedeutet hier gegeben, zugesprochen. Die Farbe blau knüpft an das traditionelle Attribut der Göttin Athene (Pallas), die in der antiken Literatur oft als glaukopis – eulenäugig oder blauäugig – bezeichnet wird. Die deutsche Übertragung dieses Attributs ins Barockdeutsche ist auffällig.
Rhetorisch: Die Verknüpfung welche Pallas blau gewiesen ist eine kunstvolle Relativkonstruktion, die mythologische Bildung und poetische Autorität ausstellt. Sie funktioniert auch als epitheton ornans, ein schmückendes Beiwort, das die Figur charakterisiert und zugleich ihre Herkunft in der antiken Tradition legitimiert.
Inhaltlich: Die Rede ist von den blauen Augen der Pallas Athene, Göttin der Weisheit, der Strategie, aber auch der künstlerischen Fertigkeiten. Der Sprecher rückt die Schönheit ihrer Augen in den Vordergrund, doch wird im Kontext deutlich, dass diese Schönheit nicht die höchste Anerkennung finden wird.
11 Wird von Paris hoch gepriesen
Sprachlich: Die Wendung hoch gepriesen gehört zum barocken Duktus des Lobs, wirkt formelhaft, betont aber durch die Kombination von Superlativsteigerung und Pathos den Rang der Schönheit.
Rhetorisch: Durch die Nennung des Namens Paris wird das mythologische Szenario des Urteils des Paris aufgerufen. Dieses Verfahren ist Allusion – eine bewusste, kulturell kodierte Anspielung, die die Kenntnis des Lesers voraussetzt. Gleichzeitig liegt hier eine kleine Ironie: der Preisende (Paris) ist die entscheidende Figur im mythischen Schönheitswettstreit, und doch wird gleich verneint, dass das höchste Urteil erteilt wird.
Inhaltlich: Paris, der trojanische Königssohn, ist die mythische Instanz, die im Schönheitswettstreit zwischen Hera, Athene (Pallas) und Aphrodite entscheiden soll. Dass er Athenes Augenlob anerkennt, zeigt seine Wahrnehmung von Weisheit und Schönheit, aber wir wissen aus dem Mythos: er wird Aphrodite den Apfel zusprechen. Dieser hält also die Spannung zwischen Würdigung und Abweisung.
12 Aber hebt den Apffel nicht:
Sprachlich: Die Schreibung Apffel zeigt die barocke Orthographie. Der Apfel ist hier der berühmte goldene Apfel der Eris, der als Preis für die Schönste ausgesetzt war. heben bedeutet zuteilen, erheben – also, das Urteil fällen und die Auszeichnung überreichen.
Rhetorisch: Das Aber ist die klare Konjunktion, die den concessiven Aufbau (eingeleitet durch Zwar) nun zur Auflösung bringt. Die Pointe liegt in der Negation: Trotz Schönheit, trotz Lob wird der Apfel nicht an Athene gegeben. Der wirkt als Antiklimax und als Brechung des zuvor aufgebauten Lobs.
Inhaltlich: Paris lobt Athene, doch letztlich entscheidet er sich gegen sie. Der Apfel als Symbol des höchsten Preises, der Judgment of Paris, wird nicht an sie vergeben. Damit deutet sich an, dass Weisheit (Athene) zwar respektiert, aber nicht bevorzugt wird. Im barocken Kontext schwingt hier auch die Wertung mit: nicht die Weisheit, sondern die Schönheit oder Liebe (verkörpert durch Aphrodite) obsiegt.
Der Zytheren süsses Blicken/13
Die aus ihrer Augen Nacht14
Kunte Sonnen-Strahlen schicken/15
Hat den Preiß darvon gebracht.16
13 Der Zytheren süsses Blicken
Sprachlich: Zytheren ist eine Bezeichnung für die Insel Kythera, die in der antiken Mythologie eng mit der Göttin Venus (Aphrodite) verbunden ist. Der Genitiv zeigt hier eine Zuschreibung: es geht um den süßen Blick der Venus von Kythera. Das Wort süsses verweist auf Anmut, Anziehungskraft, sinnliche Qualität.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine mythische Referenz (Mythologem), die Nigelline in einen hohen, mythopoetischen Horizont stellt. Ihre Augen und ihr Blick werden mit Venus selbst verglichen, wodurch eine Topik der hypérbole sichtbar wird – eine Übersteigerung, die das Loblied steigert.
Inhaltlich: Nigelline wird hier durch den Vergleich mit Venus zur Verkörperung idealer Schönheit erhoben. Das lyrische Ich sieht in ihr nicht nur eine irdische Frau, sondern die Manifestation einer göttlichen Liebeskraft.
14 Die aus ihrer Augen Nacht
Sprachlich: Auffällig ist die Metapher Augen Nacht – die Dunkelheit der Augen, vermutlich ihre schwarzbraune Färbung, die schon im Titel des Gedichts zentral ist. Nacht ist hier nicht negativ konnotiert, sondern verweist auf das Geheimnisvolle, Anziehende.
Rhetorisch: Metaphorische Verdichtung: das Dunkel der Augen wird poetisch zur Nacht stilisiert. Gleichzeitig steckt eine paradoxale Spannung darin – aus Nacht entspringt Licht.
Inhaltlich: Damit knüpft der Text an barocke Ambivalenzmuster an: Dunkelheit (gewöhnlich negativ) ist hier Quelle von Schönheit und Strahlung. Nigellines Eigenart (ihre dunkle Haut und Augen) wird nicht nur akzeptiert, sondern in den Rang einer besonderen Schönheit erhoben.
15 Kunte Sonnen-Strahlen schicken
Sprachlich: Kunte (eine ältere Form von kühne oder kräftige) betont die Intensität der Strahlen. Die Metapher der Sonnen-Strahlen verbindet die Augen mit Licht, Glanz, Lebensspende. Orthographisch markant ist die barocke Schreibweise Sonnen-Strahlen, die die Bildhaftigkeit unterstreicht.
Rhetorisch: Antithese zur vorangegangenen Nacht: aus Dunkelheit (den Augen) entspringt Licht (Sonnenstrahlen). Dies steigert die paradoxale Figur und arbeitet mit der barocken Kunst des concetto, der pointierten Verbindung von Gegensätzen.
Inhaltlich: Die Augen der Nigelline sind so mächtig, dass sie aus ihrer Dunkelheit heraus selbst Licht spenden können. Dies ist nicht nur eine ästhetische Zuschreibung, sondern auch eine erotische: das Licht symbolisiert Anziehung, Wärme, Vitalität, die den Betrachter ergreift.
16 Hat den Preiß darvon gebracht.
Sprachlich: Preiß (Preis) verweist auf den Ruhm, die höchste Auszeichnung. Grammatikalisch haben wir eine kausale Struktur: der vorher beschriebene Blick hat diesen Preis eingebracht.
Rhetorisch: Abschluss der kleinen Sinn-Einheit mit einer Art epiphonema (pointierter Schlusssatz), der das zuvor Geschilderte in eine Bilanz überführt. Es entsteht eine Steigerungsfigur: nicht nur Schönheit und Strahlen – sondern diese sind so stark, dass sie preiswürdig sind.
Inhaltlich: Nigellines Augen haben ihr selbst oder vielleicht der Schönheit insgesamt den höchsten Preis eingetragen. In barockem Kontext könnte man an Schönheitswettstreite (z. B. das Paris-Urteil) denken, in denen Aphrodite/Venus den Preis erhält. Der setzt Nigelline in diesen mythischen Kontext: sie wird zur Venus, die den Preis der Schönheit beansprucht.
Göldner Locken stoltze Pracht17
Mag den leichten Nero fangen:18
Bleibt das klügste Wild nicht hangen/19
Wo die Schlinge schwartz gemacht?20
17 Göldner Locken stoltze Pracht
Sprachlich: Das Adjektiv Göldner (goldener) verweist auf eine konventionelle Schönheitsmetapher: goldenes Haar gilt seit der Antike bis in die Barockzeit als Zeichen höchster Attraktivität. Orthographisch barocke Schreibweise (Göldner) betont die Sinnlichkeit des Ausdrucks. Stoltze Pracht verstärkt durch Hendiadyoin die Überfülle und das glänzende Erscheinungsbild.
Rhetorisch: Wir haben eine klassische Topik des locus amoenus bzw. der höfischen Schönheitsbeschreibung: Haar = Gold = Glanz. Die Alliteration (Locken – stoltze) unterstreicht klanglich den Reiz.
Inhaltlich: Gemeint ist das Haar der Nigelline, das als Schmuck und Fangmittel verstanden wird. Schon im Barock war die Vorstellung verbreitet, dass das Haar einer Frau eine Falle für den Mann darstelle (vgl. petrarkistische Tradition). Das Haar wird hier als verführerische Waffe dargestellt, die ihre Macht aus Schönheit und Stolz zieht.
18 Mag den leichten Nero fangen:
Sprachlich: Leicht bezeichnet einerseits leichtsinnig oder leicht verführbar. Nero ist eine historische Figur, hier nicht als Kaiser in seiner ganzen Tyrannei, sondern als Chiffre für einen von Leidenschaft getriebenen, unsteten, vielleicht lasterhaften Mann.
Rhetorisch: Die Anrufung einer konkreten historischen Gestalt (Nero) ist eine exemplum-Technik, ein Verweis auf ein bekanntes Bild aus der Antike. Das fangen setzt das Lockenbild in die Jagdmetaphorik um: die Locken sind nicht nur Schmuck, sondern Schlinge.
Inhaltlich: Die Pracht der Locken genügt, um einen leichten Nero einzufangen, also einen schwachen Charakter, der den Sinnen erliegt. Abschatz verbindet so Schönheitsbeschreibung mit moralischem Kommentar: nicht jeder ist gleichermaßen verführbar, doch die Schwachen sind anfällig.
19 Bleibt das klügste Wild nicht hangen/
Sprachlich: Die Wendung das klügste Wild setzt die Jagdmetaphorik fort. Wild ist hier übertragen auf den Mann, der der Schönheit begegnet. Bleibt … nicht hangen ist idiomatisch für: geht nicht in die Falle, entgeht der Schlinge.
Rhetorisch: Eine rhetorische Antithese wird vorbereitet: der Unterschied zwischen dem leichten (18) und dem klügsten (19) Mann. Die kontrastive Struktur (leicht vs. klug) formt das Argument.
Inhaltlich: Nicht jeder Mann wird Opfer der Lockenfalle. Wer klug ist, durchschaut die List der Schönheit und bleibt nicht hängen. Das Spiel von Jagd, Falle und Beute wird so zu einer Reflexion über männliche Tugend und Selbstbeherrschung. Es schwingt aber Ironie mit: der Vergleich degradiert den Mann zum Wild.
20 Wo die Schlinge schwartz gemacht?
Sprachlich: Schlinge ist das zentrale Wort: die Falle, in der das Wild hängenbleibt. Schwartz gemacht greift zurück auf den Titel der Protagonistin: die schwartz-braune Nigelline. Durch die Farbangabe wird das Bild koloristisch pointiert. Die syntaktische Verkürzung (wo die Schlinge schwartz gemacht?) ist ein rhetorisch zugespitzter Fragesatz, der weniger als echte Frage, mehr als Exklamation fungiert.
Rhetorisch: Pointe und Schluss der Strophe. Die rhetorische Frage ist ein Stilmittel, das dem Sprecher die Autorität der Antwort verleiht, ohne sie aussprechen zu müssen. Gleichzeitig verschränkt sich Farbe mit Funktion: Schwarz als Symbol für Gefahr, Rätsel, aber auch exotische Schönheit.
Inhaltlich: Die Aussage ist klar: wenn die Schlinge schwarz ist – also wenn die Locken dunkel sind wie bei Nigelline – dann bleibt auch der Klügste hängen. Hier kehrt die Logik der Verse um: vorhin entkommt der Kluge der Falle, doch Nigellines dunkle Locken sind noch mächtiger, verführerischer, gefährlicher als die goldenen. Damit steigert Abschatz die Macht der Protagonistin über jede männliche Resistenz.
Braunes Haar kan auch verdienen/21
Gleich dem gelben/ Zahl und Lied:22
Zeuge/ wer an Nigellinen23
Ein recht würdig Beyspiel sieht.24
21 Braunes Haar kan auch verdienen/
Sprachlich: Das Wort Braunes Haar steht hier als thematische Leitfigur, zugleich Kontrast und Variation zu den zuvor im Gedicht mehrfach hervorgehobenen gelben Haaren (Blondheit als Schönheitsideal der barocken Liebeslyrik). Der Gebrauch von auch markiert eine argumentative Erweiterung: Die braune Haarfarbe wird gleichberechtigt ins Feld geführt.
Rhetorisch: Der setzt eine Gegenbehauptung ein, eine Art correctio gegen konventionelle Ideale. Das auch ist eine kleine, aber bedeutungsvolle Partikel, die den Topos der Schönheit relativiert.
Inhaltlich: Abschatz verweist darauf, dass die Schönheit nicht ausschließlich dem blonden Haar zugesprochen werden darf; auch braunes Haar kann Anspruch auf Lob und Würdigung erheben. Damit eröffnet sich eine poetische Verteidigung der Geliebten Nigelline, deren Schönheit an gängigen Mustern gemessen und dennoch über sie hinausgelobt wird.
22 Gleich dem gelben/ Zahl und Lied:
Sprachlich: Gleich dem gelben setzt den Vergleich zum Blondton (gelb = blond), der traditionell in der Dichtung als Inbegriff von Schönheit und Sonnenhaftigkeit galt. Zahl und Lied ist eine hendiadysartige Doppelformel: Zahl verweist auf Maß, Ordnung, vielleicht auch auf die musica mundana oder die Zahlensymbolik der Harmonie; Lied auf poetischen Gesang und Ruhm.
Rhetorisch: Der entfaltet ein Gleichnis: Braunes Haar wird in denselben Rang gehoben wie blondes, und zwar im Bereich sowohl der ästhetischen Maßordnung (Zahl) als auch des poetischen Ausdrucks (Lied). Die Paarung wirkt wie eine figura etymologica im übertragenen Sinn, da Zahl und Lied beide auf Kunstfertigkeit verweisen.
Inhaltlich: Abschatz sagt: braunes Haar verdient dieselbe Wertschätzung und denselben poetischen Ruhm, wie sie dem blonden Haar traditionell vorbehalten ist. Damit durchbricht er subtil die Hierarchie der Schönheitsfarben.
23 Zeuge/ wer an Nigellinen
Sprachlich: Zeuge im Imperativ bzw. als Anrede (sei Zeuge!) fordert den Leser oder Hörer zur Bestätigung auf. Es handelt sich um einen performativen Akt: das Publikum wird in die Beweisführung einbezogen. Nigellinen (Diminutivform von Nigelline) klingt zärtlich, liebevoll, zugleich barock verspielt.
Rhetorisch: Der wirkt als Appell- und Beweisstruktur, eine Art apostrophe an die Gemeinschaft der Rezipienten: Zeuge! Man soll das Beispiel anerkennen. Gleichzeitig wird durch das Diminutiv eine Mischung aus Verkleinerung und Affekt erzeugt: die Geliebte wird sprachlich zärtlich verkleinert, aber im Kontext erhöht.
Inhaltlich: Der Dichter verweist auf Nigelline selbst als lebendiges Beispiel und Beweis seiner Behauptung: ihr braunes Haar zeigt, dass Schönheit nicht allein im Blondsein gründet. Der Appellcharakter stärkt die argumentative Linie: das Gedicht verteidigt nicht abstrakt, sondern konkret.
24 Ein recht würdig Beyspiel sieht.
Sprachlich: Die Wendung recht würdig intensiviert das Lob. Beyspiel verweist auf das paradigmatische Exempel: Nigelline gilt als mustergültiges Gegenbeispiel zu konventionellen Normen.
Rhetorisch: Das Ende der Strophe löst die Beweisführung: die rhetorische Figur ist ein exemplum, Nigelline als Inbegriff einer Schönheit, die dem vermeintlich höheren Ideal des blonden Haares mindestens ebenbürtig ist. Die Alliteration Beyspiel – sieht (weiche Binnenklänge) verstärkt die Geschlossenheit.
Inhaltlich: Nigelline wird zur autoritativen Bestätigung erhoben: sie selbst verkörpert den Gegenbeweis. Ihre Schönheit ist würdig genug, als paradigmatisches Beispiel für die Gültigkeit des braunen Haars als Schönheitsideal zu dienen.
Rühmt der rothen Schmincke Zier/25
Last die weiße Cloris prangen26
Mit dem Schnee der glatten Wangen;27
Schwartz allein beliebet mir.28
25 Rühmt der rothen Schmincke Zier/
Sprachlich: Das Verb rühmen setzt einen imperativen, beinahe performativen Ton – es ruft auf zur Anerkennung oder öffentlichen Hervorhebung. Schmincke verweist auf künstliche Schminke, konkret die rote Färbung der Wangen oder Lippen. Zier ist hier im barocken Doppelsinn zu verstehen: als äußerer Schmuck, aber auch als Zierde im moralischen Sinn. Die Alliteration Schmincke – Zier verleiht dem einen lautlichen Zusammenhalt.
Rhetorisch: Der eröffnet die Strophe mit einer Art concessio, einem Gestus der Gewährung: Man darf und soll das Rote, die Schminke, preisen. Diese Eröffnung ist dialektisch strukturiert, da sie das Terrain bereitet für eine Gegenüberstellung (die im letzten in die Präferenz für Schwarz mündet).
Inhaltlich: Inhaltlich liegt eine ironische oder distanzierte Haltung zur gängigen Schönheitskultur des 17. Jahrhunderts nahe, die rote Schminke als Ideal der Schönheit kannte. Der Sprecher scheint die modischen Schönheitsattribute anderer Frauen zwar anzuerkennen, aber sie dienen ihm eher als Folie für die eigentliche Präferenz.
26 Last die weiße Cloris prangen
Sprachlich: Last ist Imperativ Plural – eine Aufforderung an eine anonyme Allgemeinheit (vielleicht die Gesellschaft, die Dichter, die Zuschauer), Cloris prangen zu lassen. Cloris ist eine mythologische Figur, Göttin der Blumen und des Frühlings, in der Barockdichtung oft Synonym für eine schöne Frau. Prangen hat sowohl die Bedeutung in Schönheit glänzen als auch sich selbst darstellen, zur Schau stellen.
Rhetorisch: Der Einsatz von Cloris als mythologische Topik ist Teil der barocken Emblematik. Es tritt eine Personifikation der Schönheit auf, die im rhetorischen Sinne als exemplum dient. Der Imperativ schafft Parallelismus zum vorigen (Rühmt … / Last …), wodurch eine klare Reihung der Argumente aufgebaut wird.
Inhaltlich: Inhaltlich kontrastiert der Sprecher nun zur roten Schminke die weiße Schönheit. Cloris als Bild der Natürlichkeit (weiße Haut, Blüten) repräsentiert eine zweite Stufe der konventionellen Schönheitsideale. Die mythologische Anrufung dient zugleich zur poetischen Überhöhung einer Frauengestalt, die dem Kontrast zum eigentlichen Ziel dient.
27 Mit dem Schnee der glatten Wangen;
Sprachlich: Die Metapher Schnee verweist auf die Reinheit, Kälte und Unberührtheit der weißen Haut. Glatte Wangen deutet auf Jugendlichkeit und körperliche Makellosigkeit. Die Verbindung von Naturbild (Schnee) mit Körperbild ist typisch barocke Metaphorik.
Rhetorisch: Hier wirkt die Metapher als klassisches Schmuckmittel: eine hypotypotische Veranschaulichung, die den Leser sehen und fühlen lässt. Gleichzeitig setzt der den Parallelismus der Strophe fort (erst rote Schminke, dann weiße Cloris, jetzt Schneeweiße). Durch die Ansammlung von Bildern steigert sich die Aufzählung rhetorisch, um dann im Folgevers zurückgebogen zu werden.
Inhaltlich: Inhaltlich ist die weiße Schönheit eine Ergänzung zur roten. Schminke = künstlich, Cloris = mythologisch-idealisch, Schnee = naturhaft-rein. Die Trias baut eine Steigerung auf, die dem abschließenden Gegensatz umso mehr Gewicht verleiht. Es wird eine Galerie konventioneller Ideale entfaltet, die aber alle nicht das Bevorzugte sind.
28 Schwartz allein beliebet mir.
Sprachlich: Schwartz steht hier im absoluten Anklang, fast abrupt. Das Adverb allein und das starke Prädikat beliebet mir (gehoben, subjektiv, affektiv gefärbt) kontrastieren scharf zu den vorherigen Imperativen. Der Wechsel vom Imperativ (an die Allgemeinheit) zum Indikativ (Selbstbekenntnis) ist ein sprachlicher Bruch, der Wirkung entfaltet.
Rhetorisch: Es liegt eine klare Antithese vor: Rot, Weiß – und nun Schwarz. Die rhetorische Figur der Klimax wird mit einem Gegenstoß (Antiklimax im herkömmlichen Sinn, aber hier als Höhepunkt) abgeschlossen. Auch das mir wirkt als emphatische Selbstpositionierung, rhetorisch eine subiectio, mit der das lyrische Ich klar seine persönliche Stimme erhebt.
Inhaltlich: Inhaltlich fällt die Wahl auf Schwarz, das in der barocken Farbsemantik oft Ambivalenz trägt: Schönheit des Exotischen, erotisches Dunkel, vielleicht auch das Besondere gegenüber dem Gewöhnlichen (Rot und Weiß sind Standardideale, Schwarz ist rar und besonders). Für die Figur der Nigelline (Namensähnlichkeit zur Blume Nigella, oft schwarzbraun) ist dies zugleich eine emphatische Liebeserklärung. Das Ich grenzt sich von gesellschaftlichen Schönheitsnormen ab und markiert eine individuelle Präferenz, die zugleich als poetisches Bekenntnis zur Titelheldin fungiert.
Noth muß von der Sonne bleichen/29
Weiß nimmt ihre Brandmahl an;30
Ists nicht schwartz/ der Treue Zeichen/31
Das sich nimmer ändern kan.32
29 Noth muß von der Sonne bleichen/
Sprachlich: Das Wort Noth verweist im frühneuhochdeutschen Sprachgebrauch nicht nur auf Elend oder Zwang, sondern auch auf die existenzielle Schwere, die dem Leben eingeschrieben ist. Das Verb bleichen ist ein stark bildliches Wort, es verweist auf die Veränderung durch äußere Einwirkung. Die Sonne erscheint als naturhafte Instanz, die eine Wirkung auf die Not selbst hat, sie also schwächt oder ihre Spuren aufhellt.
Rhetorisch: Hier wird eine Personifikation sichtbar: Noth wird wie ein Stoff oder ein Körper gedacht, der einer physischen Veränderung unterliegt. Die Sonne tritt als Kraft auf, die diese Veränderung herbeiführt. Zugleich ein paradoxes Bild: Die Sonne, eigentlich lebensspendend, wird mit der Funktion des Ausbleichens verbunden, also des Entziehens von Farbe und Kraft.
Inhaltlich: Die Aussage ist doppeldeutig. Einerseits: Leid und Not sind nicht ewig, sie verblassen mit der Zeit unter dem Licht der Sonne. Andererseits: selbst das Tiefste und Schwerste ist der Vergänglichkeit unterworfen. Die Sonne steht hier für eine höhere, natürliche Ordnung, die alles formt und verwandelt.
30 Weiß nimmt ihre Brandmahl an;
Sprachlich: Brandmahl bezeichnet ein eingebranntes Zeichen, ein Mal der Zugehörigkeit oder des Schmerzes, oft im Kontext von Strafe oder Besitz. Das Weiß – Farbe der Reinheit – wird hier durch ein Brandzeichen markiert. Es entsteht ein Gegensatz von unschuldigem Grund und gewaltsamem Eingriff.
Rhetorisch: Antithese: das reine Weiß steht im Kontrast zum Brandmahl. Die Formulierung nimmt an ist passivisch gefärbt: das Weiß empfängt, wird verändert, muss sich fügen. Es wird nicht aktiv gebrandmarkt, sondern erleidet den Eingriff.
Inhaltlich: Hier wird die Dialektik von Unschuld und Schmerz, Reinheit und Erfahrung sichtbar. Das Leiden (Not) hinterlässt Spuren, auch im scheinbar Reinen. Es kann so gelesen werden, dass menschliche Treue oder Liebe gerade durch Leid geprüft und gezeichnet wird: das Weiß (symbolisch für Unschuld, Reinheit, vielleicht auch Haut) trägt die Male des Schicksals.
31 Ists nicht schwartz/ der Treue Zeichen/
Sprachlich: schwartz erscheint hier nicht mehr als bloße Farbqualität, sondern als Symbol. Die Frageform Ists nicht … ? deutet auf eine rhetorische Bestätigung: das Schwarze gilt als Sinnbild der Treue.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine rhetorische Frage, die keine wirkliche Antwort erwartet, sondern die Gültigkeit der Aussage unterstreicht. Damit entsteht eine argumentative Bewegung im Gedicht: vom Ausbleichen, vom Brandmal hin zur Affirmation der schwarzen Farbe als positives Zeichen.
Inhaltlich: Das Schwarz, das traditionell oft negativ konnotiert ist (Trauer, Tod, Finsternis), wird hier in einer Umwertung als Zeichen der Beständigkeit und Treue verstanden. Treue ist das, was sich nicht wandelt und unveränderlich bleibt – und Schwarz steht als Symbol für dieses Unveränderliche.
32 Das sich nimmer ändern kan.
Sprachlich: nimmer verstärkt das niemals, legt absolute Dauer fest. ändern verweist auf Wandlung, die hier verneint wird. Die Syntax ist schlicht, aber die absolute Aussage verleiht Gewicht.
Rhetorisch: Paradoxon der absoluten Unveränderlichkeit inmitten eines Gedichts, das zuvor das Ausbleichen, das Verändern durch Sonne und Brandmale thematisiert hat. Die Rhetorik arbeitet mit Kontrast und Abschluss: hier kulminiert die Aussage in einem Endvers, der das Gesagte fixiert.
Inhaltlich: Die Pointe dieser Strophe: Während Not und Leid sich verändern, während das Weiß durch Brandmale gezeichnet wird, bleibt das Schwarz – als Zeichen der Treue – ewig unveränderlich. Es handelt sich um eine Umwertung von Farbsemantik, in der das Schwarze nicht als Mangel, sondern als Positivum, als Symbol ewiger Beständigkeit und Unerschütterlichkeit erscheint.
Schwärzt der blaue Himmel nicht/33
Wenn ist Phöbus seinen Wagen34
Zu der Thetis lassen tragen/35
Sein gebräuntes Angesicht.36
33 Schwärzt der blaue Himmel nicht/
Sprachlich: Der eröffnet mit einer rhetorischen Frage, deren Syntax durch die Negation (nicht) Spannung erzeugt. Das Prädikat Schwärzt steht an erster Stelle, was die Handlung betont und dem einen dynamischen Auftakt gibt. Das Adjektiv blaue hebt die Normalfarbe des Himmels hervor, die nun infrage gestellt wird.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine rhetorische Frage, die weniger auf Antwort als auf Bestätigung abzielt: ja, der Himmel schwärzt sich. Das Stilmittel der Antithese (blau vs. schwärzen) führt eine kontrastive Bewegung ein, die die Metaphorik des Farbumschlags unterstreicht.
Inhaltlich: Der Sprecher verweist auf ein Naturphänomen, das den Tagesrhythmus begleitet: Das Blau des Tageshimmels weicht der Schwärze der Nacht. Gleichzeitig wird das Dunkelwerden mit der Farbe der Nigelline (der schwarzbraunen Blume) assoziiert. Der verknüpft damit kosmische Ordnung und die ästhetische wie erotische Beschreibung der Geliebten.
34 Wenn ist Phöbus seinen Wagen
Sprachlich: Die Syntax ist bewusst kunstvoll verschränkt: Wenn ist Phöbus seinen Wagen wirkt altertümlich und zeugt von der barocken Stilhaltung, die nicht auf ungebrochene Klarheit, sondern auf kunstvolle Dichte setzt. Das Subjekt Phöbus (Apoll, Gott der Sonne) erscheint mythologisch-eleviert statt einfach die Sonne.
Rhetorisch: Durch die Personifikation wird die kosmische Erscheinung mythologisch überhöht. Der Himmelsschwärze wird das Bild des Sonnengottes gegenübergestellt, der seinen Wagen steuert – eine klassische Allegorie, die das barocke Spiel mit antiker Bildwelt deutlich macht.
Inhaltlich: Der Übergang von Tag zu Nacht wird als göttliche Handlung dargestellt: Phöbus lenkt seinen Sonnenwagen und tritt aus der Sicht. Der inhaltliche Bezug dient der Parallelführung: so wie der Himmel sich schwärzt, so ist die Schwärze der Nigelline nicht minder natürlich und schön.
35 Zu der Thetis lassen tragen/
Sprachlich: lassen tragen ist ein Ausdruck von Übergabe, Bewegung und Entlastung. Der zeigt eine Enjambement-Fortführung, da das Subjekt und Prädikat aus dem vorherigen mitgetragen werden. Thetis verweist mythologisch auf die Meeresgöttin, die Mutter des Achill, und zugleich Symbol des Ozeans, in den die Sonne am Abend hinabgetragen wird.
Rhetorisch: Die mythologische Allegorie setzt sich fort: Sonnenuntergang als Übergabe an die Meeresgöttin. Diese Personifikation vermittelt den Zyklus von Tag und Nacht als dramatische Handlung. Zudem verleiht sie der Beschreibung eine feierliche Gravität, die sich zugleich mit zarter Ironie gegenüber dem allzu kunstvollen Mythologisieren lesen lässt.
Inhaltlich: Die Sonne (Phöbus) übergibt sich der Meeresgöttin Thetis, d. h. sie sinkt ins Meer. Kosmologisch wird der Sonnenuntergang veranschaulicht. Inhaltlich dient dies als Parallelfigur zur Absenkung des Blicks auf die Nigelline: So wie die Sonne sich zur Ruhe begibt, so ruht in ihrer Schwärze ein eigener Glanz.
36 Sein gebräuntes Angesicht.
Sprachlich: Das Substantiv Angesicht ist poetisch für Antlitz, was den anthropomorphen Charakter des Sonnengottes verstärkt. Das Partizip gebräunt ist eine ambivalente Farbangabe: Es weist einerseits auf den Sonnengott hin, der sich durch seine eigene Hitze bräunt, andererseits auf eine Farbnuance, die mit der schwartz-braunen Nigelline parallelisiert wird.
Rhetorisch: Eine Metonymie: das Angesicht steht für die Sonne selbst. Zugleich ein feines Oxymoron: die Sonne, Quelle allen Lichts, erscheint gebräunt, also von Dunkelheit durchdrungen. Dies verstärkt den Übergang von Licht zu Dunkel, von Tag zu Nacht.
Inhaltlich: Phöbus übergibt sein Gesicht der Thetis – das Licht verschwindet im Meer. Damit entsteht ein Spiegelbild zur Schönheit der Nigelline: wie der Sonnengott ein gebräuntes Antlitz hat, so ist auch ihre schwarze oder braune Farbe nicht Mangel, sondern Ausdruck von Schönheit und kosmischer Ordnung.
Liebt man nicht den duncklen Schaten37
Und der schwartzen Nächte Rast/38
Wenn die heißen Glieder braten39
Für des Tages Uberlast?40
37 Liebt man nicht den duncklen Schaten
Sprachlich: Der eröffnet mit einer rhetorischen Frage. Das Verb lieben ist ungewöhnlich mit einem abstrakten Objekt (den duncklen Schaten) verbunden: hier wird die Dunkelheit, die sonst eher als negativ oder bedrohlich gilt, in den Bereich des Begehrens und der Zuneigung überführt. Orthographisch zeigt die ältere Schreibung duncklen eine barocke Sprachform.
Rhetorisch: Der setzt auf Antithese zum Hellen – der Schatten ist nicht bloß Abwesenheit des Lichts, sondern wird als eigene Qualität aufgewertet. Zudem arbeitet der mit Personifikation: der Schatten erscheint wie ein Gegenstand, den man lieben, dem man sich zuwenden kann.
Inhaltlich: Gemeint ist die Erholung in der Dunkelheit. Abschatz stellt hier den Gedanken auf, dass die Nacht nicht nur Schrecken, sondern auch Wohltat bringt. In der Logik des Gedichts (das die Figur Nigelline umkreist) könnte die Farbe Schwarz mit Schönheit, Begehrlichkeit, ja sogar einer Art exotischer Faszination verbunden sein. Der bereitet damit eine Umwertung vor: Dunkelheit wird positiv gedeutet.
38 Und der schwartzen Nächte Rast/
Sprachlich: Auch hier wird schwartzen mit t geschrieben, ein Hinweis auf den älteren Sprachstand. Nächte Rast arbeitet syntaktisch mit Genitivverbindung, wodurch die Nacht nicht nur Zeit, sondern auch aktiv handelnd gedacht ist: sie schenkt Rast.
Rhetorisch: Es liegt eine Parallele zu 37 vor (den duncklen Schaten / der schwartzen Nächte Rast) – eine rhetorische Figurenfolge durch Parallelismus. Durch diese Wiederholung wird das Argument verstärkt. Zudem wird durch die Alliteration Nächte – Rast ein sanfter Klangrhythmus erzeugt, der die beruhigende Funktion des Inhalts stützt.
Inhaltlich: Die Nacht als Ort der Ruhe und des Schlafes wird in Schutz genommen. Während der Tag Last bringt, ist die Nacht Entlastung. So wird eine Balance aufgebaut: ohne Nacht keine Erholung, ohne Schatten keine Freude am Licht. Das entspricht barocken Vorstellungswelten vom notwendigen Gegensatz (vanitas, memento mori, aber auch natura duplex).
39 Wenn die heißen Glieder braten
Sprachlich: Sehr plastisches, körpernahes Bild. Das Verb braten wirkt stark sinnlich und drastisch, fast derb. Der Ausdruck heiße Glieder steht metonymisch für den erhitzten Körper des Menschen, erschöpft von Arbeit oder Sonne.
Rhetorisch: Der führt eine Hyperbel ein: das Übermaß an Hitze wird übertrieben dargestellt, der Körper gleichsam wie Fleisch auf dem Rost. Dieses drastische Bild setzt einen Kontrast zur Sanftheit des Schattens und der Ruhe. Die Redeweise hat barocke Sinneslust: sie scheut nicht vor derben Bildern zurück, um Wahrheit zu veranschaulichen.
Inhaltlich: Gemeint ist die Überhitzung durch Anstrengung am Tag, die heißen Glieder durch körperliche Arbeit oder durch die Sonne. Im Subtext klingt die Vorstellung der barocken Leiblichkeit mit: Körperlichkeit ist fragil, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, und auf Ergänzung durch Nacht und Schatten angewiesen.
40 Für des Tages Uberlast?
Sprachlich: Uberlast ist ein Substantiv, das die Schwere, die Überbeanspruchung bündelt. Großschreibung verweist auf die barocke Substantivhäufung. Das Fehlen von Umlaut (Überlast zu Uberlast) zeigt den älteren Schriftgebrauch.
Rhetorisch: Der ist als rhetorische Pointe auf die vorigen drei aufgebaut. Erst die Zuspitzung für des Tages Uberlast? liefert den kausalen Rahmen: alles zuvor Gesagte (Schatten, Rast, brennende Glieder) wird motiviert durch die Last des Tages. Das ? zeigt erneut die rhetorische Frage, die den Leser/Zuhörer zustimmend nicken lassen soll.
Inhaltlich: Der Tag ist hier nicht nur Licht und Freude, sondern eine Bürde. Arbeit, Hitze, Aktivität führen zur Uberlast, und genau deshalb muss man die Nacht lieben. Im größeren Kontext des Gedichts wirkt dies wie eine Verteidigung der dunklen Schönheit Nigellines: so wie die schwarze Nacht unverzichtbar ist, so ist auch die schwarzbraune Geliebte wertvoll und begehrenswert – Dunkelheit wird umgedeutet in Stärke und Wohltat.
Wird nach schwartzer Kirschen Frucht41
Nicht der höchste Baum bestiegen/42
Andre/ die man siehet liegen/43
Kaum mit fauler Hand gesucht?44
41 Wird nach schwartzer Kirschen Frucht
Sprachlich: Der beginnt mit einem Fragesatz in Inversionsstellung (Wird …), was bereits die rhetorische Spannung signalisiert. Das Adjektiv schwartzer greift die bisherige Farbsymbolik des Gedichts auf (braun, schwarzbraun), die Nigelline charakterisiert. Die Kirschen sind eine typische metaphorische Chiffre der Barockdichtung, oft mit Sinnlichkeit, weiblicher Schönheit oder Fruchtbarkeit assoziiert.
Rhetorisch: Der fungiert als rhetorische Frage, die auf Wertschätzung und Begehren abzielt. Durch die Verbindung von Farbe (schwartzer) und Frucht wird ein Kontrast erzeugt, der Neugier und vielleicht auch leichte Provokation evoziert.
Inhaltlich: Die schwarze Kirsche ist ein Bild für eine begehrte, wenn auch ungewöhnliche Schönheit, die über das Gewöhnliche hinausgeht. Das lyrische Ich lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass diese vermeintlich dunkle Frucht gerade durch ihre Besonderheit anziehend ist.
42 Nicht der höchste Baum bestiegen/
Sprachlich: Das Nicht setzt die rhetorische Frage fort und verstärkt die argumentative Struktur. Der höchste Baum ist ein poetisches Bild für das Schwierig-Zu-Erreichende, das aber dennoch erstrebt wird.
Rhetorisch: Es wird hier eine paradoxe Pointe vorbereitet: gerade weil die Kirschen oben hängen, ist der Baum bestiegen – ein klassisches Bild des barocken Concettos, das Lust und Mühe verschränkt.
Inhaltlich: Der deutet an, dass das Begehrteste nicht das Leichtzugängliche ist, sondern dasjenige, das mit Mühe und Einsatz verbunden ist. Damit wird eine implizite Wertung vorgenommen: die Nigelline ist wie eine hochhängende Frucht – begehrenswert und wertvoll, gerade weil sie nicht sofort erreichbar ist.
43 Andre/ die man siehet liegen/
Sprachlich: Der Gegensatz wird durch das Andre markiert, ein einfacher Kontrastpartikel, der eine antithetische Struktur eröffnet. Das Verb liegen trägt eine abwertende Konnotation: es bezeichnet etwas, das ohne Mühe zu haben ist, aber dadurch weniger wertvoll erscheint.
Rhetorisch: Durch die Antithese zu den schwartzen Kirschen wird das Argument geschärft: nicht die, die einfach herumliegen, sind begehrenswert, sondern jene, für die man sich bemüht. Dies ist ein typisches barockes Verfahren, das Wert aus Opposition gewinnt.
Inhaltlich: Gemeint ist, dass leicht verfügbare Schönheiten oder Objekte des Begehrens kaum denselben Reiz entfalten. Die Nigelline wird durch diese Gegenüberstellung höher eingestuft: sie ist keine gewöhnliche Frucht, die am Boden liegt.
44 Kaum mit fauler Hand gesucht?
Sprachlich: Der Ausdruck fauler Hand ist eine prägnante, fast sprichwörtliche Formulierung. Faul kann hier zweifach gelesen werden: körperlich träge oder auch moralisch schwach. Das Kaum verstärkt die Verachtung gegenüber dem, was ohne Anstrengung erreichbar ist.
Rhetorisch: Die rhetorische Frage schließt die Strophe in einer Climax der Geringschätzung. Durch die abschätzige Wendung fauler Hand wird nicht nur der Wert der anderen Früchte abgewertet, sondern zugleich das Bild der Anstrengung für das Hochwertige nochmals kontrastiv betont.
Inhaltlich: Der Gedanke kulminiert: das Begehren richtet sich auf das, was schwer zu erreichen ist; das Leichte hingegen wird kaum gesucht, da es Anstrengung nicht würdig macht. Auf die Nigelline bezogen: sie wird als jene edle, hochhängende Frucht gepriesen, die nicht mit der Bequemlichkeit, sondern mit Hingabe, Mühe und Eifer erobert werden will.
Muß der Blumen Preiß nicht steigen/45
Muß nicht Ros' und Tulipan/46
Wenn sie sich zur Schwärtze neigen/47
Höher seyn gesehen an.48
45 Muß der Blumen Preiß nicht steigen/
Sprachlich: Der Ausdruck Preiß ist eine barocke Schreibweise für Preis im Sinne von Wertschätzung oder Lob. Das modale Hilfsverb Muß in der rhetorischen Frage erzeugt ein starkes Drängen – nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit. Das Enjambement zum Folgevers verstärkt die Spannung.
Rhetorisch: Die Formulierung ist eine rhetorische Frage (interrogatio), die den Leser nicht um eine Antwort bittet, sondern Zustimmung erzwingt. Sie gehört zur barocken Technik des exclamatio interrogativa. Zudem steckt eine leichte Hyperbel in der Vorstellung, dass der Preis der Blumen steigen müsse.
Inhaltlich: Es wird angedeutet, dass die Blumen in einem neuen Licht zu sehen sind: Ihre Wertigkeit verändert sich. Der Sprecher reflektiert nicht über das Natürliche (die Blume an sich), sondern über das kulturelle Symbolische (die Zuschreibung von Preis/Wert). Das Motiv steigender Preis verweist auf gesellschaftliche Hierarchien und modische Trends, wie sie in barocken Hofkulturen beim Rangstreit der Schönheitsideale üblich waren.
46 Muß nicht Ros' und Tulipan/
Sprachlich: Hier tritt eine Doppelbenennung zweier Leitblumen der Barockzeit auf: die Rose als Symbol von Liebe, Schönheit und Vergänglichkeit; die Tulpe als Symbol von Exotik, Kostbarkeit und Mode (Tulpenwahn im 17. Jh.). Die elliptische Verkürzung (Ros' statt Rose) ist metrisch bedingt und erzeugt ein verdichtetes, beinahe emblematisches Nennen.
Rhetorisch: Die Fortführung der rhetorischen Frage verstärkt den argumentativen Druck. Durch die Verbindung mit und entsteht eine Parallelität, die eine kleine Aufzählung bildet – typisch für barocke Emblematik, wo Hauptblumen als Typen erscheinen.
Inhaltlich: Beide Blumen stehen als Konkurrenten der Nigelline. Die Frage legt nahe: Wenn diese edelsten Blumen (Rose, Tulpe) selbst in Richtung Schwärze tendieren, warum sollte man dann nicht gerade der dunkel gefärbten Nigelline einen besonderen Rang zusprechen? Ein modischer Diskurs über Schönheit und Farbästhetik wird hier verhandelt.
47 Wenn sie sich zur Schwärtze neigen/
Sprachlich: Der Ausdruck sich neigen hat eine ambivalente Bedeutung: einerseits wörtlich als dunkler werden oder den Farbton wechseln, andererseits metaphorisch als sich einer Qualität zuneigen. Schwärtze ist barock orthographisch gefärbt, mit gedehntem ä – ein visueller Hinweis auf Klangfülle.
Rhetorisch: Die Konditionalstruktur (Wenn …) begründet die rhetorische Frage. Die Wortwahl enthält eine Antithese zur üblichen Symbolik: Schwarz ist im barocken Blumendiskurs ungewöhnlich, eher negativ konnotiert (Trauer, Tod). Hier wird durch paradoxe Wendung eine positive Umdeutung vorbereitet: das Schwärzliche als Auszeichnung.
Inhaltlich: Die Aussage spielt auf eine modische oder gar theologisch-symbolische Dimension an: Dunkelheit, sonst dem Negativen zugeordnet, wird in einen ästhetischen Vorzug verkehrt. Damit wird die Nigelline nicht als Abweichung, sondern als Vollendung im Farbenspektrum dargestellt.
48 Höher seyn gesehen an.
Sprachlich: Die Wendung gesehen an ist eine archaische Phrase für angesehen oder geschätzt. Höher markiert die Steigerung und Wertung. Das Passivische (sey[n] gesehen an) entzieht dem Subjekt die Handlung – es geht um gesellschaftliche Zuschreibung, nicht um innere Qualität.
Rhetorisch: Diese Pointe beantwortet implizit die rhetorische Frage aus 45: Ja, wenn Rose und Tulpe zur Schwärze tendieren, muss auch ihr Wert steigen, und sie müssen höher angesehen sein. Der Schluss wirkt wie eine deduktive Folgerung (conclusio) aus der rhetorischen Bedingung.
Inhaltlich: Das Dunkle wird zur Auszeichnung erhoben, die bisherigen Blumenhierarchien werden umgekehrt. Die Nigelline – bisher als schattenhafte Außenseiterin – gewinnt im Vergleich den Vorrang. Damit wird ein gesellschaftliches Schönheitsurteil imitiert, das Exotik und Abweichung zu Mode erhebt. Zugleich lässt sich eine allegorische Deutung erahnen: Das vermeintlich Unvollkommene (dunkle Farbe) wird als das wahrhaft Erhabene interpretiert, im Sinne barocker Dialektik von Schönheit und Vergänglichkeit, Licht und Dunkelheit.
Hylas mag nach seinem Sinn49
Andrer Farben Zier erheben:50
Will sich mir zu eigen geben51
Meine schwartze Schäfferin/52
49 Hylas mag nach seinem Sinn
Sprachlich: Der Eigenname Hylas verweist auf eine mythologische Figur aus dem Gefolge des Herakles, berühmt vor allem durch seine Schönheit. Schon in der Wortstellung mag nach seinem Sinn liegt eine modale Wendung: Hylas darf oder kann nach seinem Belieben handeln.
Rhetorisch: Hier setzt eine Kontrastfigur ein – das lyrische Ich ruft Hylas an, nicht als reale Figur, sondern als paradigmatischen Schönheitsliebhaber. Der eröffnet die Antithese, die in den folgenden Versen ausgeführt wird.
Inhaltlich: Der Bezug zu Hylas deutet eine Konkurrenz der Schönheitsideale an: der mythologische Jüngling als Maßstab klassisch-antiker Schönheit, im Gegensatz zu der schwartzen Schäfferin, die das lyrische Ich bevorzugt. Der etabliert den Kontrast zwischen dem normativ-klassischen Ideal und der subjektiven Wahl.
50 Andrer Farben Zier erheben:
Sprachlich: Farben meint hier nicht bloß Tönungen, sondern Schönheitsattribute im allegorischen Sinn. Zier bezeichnet Schmuck, Pracht, oder die schmückende Schönheit selbst. Erheben ist transitiv zu verstehen: preisen, hervorheben.
Rhetorisch: Dieser schließt die Antithese mit 49: Hylas mag die Schönheit anderer Farben – also heller, weißlicher, klassisch bevorzugter Hautfarben – rühmen. Die Alliteration Farben – Zier verstärkt das dekorative Moment.
Inhaltlich: Der Sprecher grenzt sich von diesem Schönheitskanon ab. Andrer Farben kann auch implizit auf den Topos der weißen Haut in der europäischen Tradition verweisen, die hier konfrontiert wird mit der schwartz-braunen Geliebten.
51 Will sich mir zu eigen geben
Sprachlich: Der syntaktische Anschluss (Will sich mir…) markiert einen Übergang: vom Fremden zum Eigenen. Das reflexive sich… geben bringt eine Besitz- und Hingabemetaphorik zum Ausdruck.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine Pointe der Antithese: Während Hylas nur erheben kann (ein äußerliches Loben), kommt dem lyrischen Ich ein konkretes Geschenk zu – die Geliebte selbst. Das ist eine rhetorische Steigerung: vom bloßen Preislied zur wirklichen Erfüllung.
Inhaltlich: Hier wird das Verhältnis personalisiert. Nicht Schönheit im Abstrakten, sondern eine konkrete Frau, die sich dem Sprecher zu eigen geben will, zählt. Es geht um Besitz, Hingabe, erotischen Anspruch, im Kontext barocker Liebeslyrik durchaus auch mit sozial-juridischer Konnotation (zu eigen wie ehelich zugesprochen).
52 Meine schwartze Schäfferin/
Sprachlich: Die Alliteration schwartze Schäfferin ist klanglich markant. Das Adjektiv schwartze verweist auf die spezifische Hautfarbe und setzt die Figur als bewusst kontrastives Ideal gegen den normativen Kanon. Schäfferin (Schäferin) ruft den bukolischen Topos der Schäferdichtung auf, ein literarisches Genre, das Ideal und Natürlichkeit verbindet.
Rhetorisch: Die Identifizierung der Geliebten erfolgt in einem emphatischen Schlussvers: Der Kontrast (Hylas – andere Farben) kulminiert in der Nennung der eigenen Wahl. Der fungiert als Epipher und als rhetorische Selbstbekräftigung.
Inhaltlich: Das lyrische Ich setzt die schwartze Schäfferin als Gegenbild zum klassischen Ideal. Die bukolische Figur (Schäferin) repräsentiert Einfachheit, Natürlichkeit, erotisches Begehren in pastoralem Rahmen. Durch die Bestimmung meine wird das Besitzmoment nochmals unterstrichen.
So sag ich von Grund der Seele:53
Schwartz soll meine Farbe seyn/54
Biß des schwartzen Grabes-Höle55
Schleust den todten Cörper ein.56
53 So sag ich von Grund der Seele:
Sprachlich: Die Wendung von Grund der Seele ist eine feste Redensart des 17. Jahrhunderts, die auf die völlige Innerlichkeit, das tiefste Innere verweist. Grund bedeutet hier Ursprung, Wurzel, Fundament, das unerschütterlichste Zentrum. Die Formel hat eine biblisch-frömmige Färbung (vgl. Psalmen), ist aber auch in weltlicher Lyrik als Bekräftigung emotionaler Authentizität verbreitet.
Rhetorisch: Der fungiert als Exordium (Eröffnung) einer letzten, feierlichen Bekräftigung. Durch die Partikel So wird ein Schluss gezogen, gleichsam die Folgerung aus dem vorangegangenen Gedichtverlauf. Die Ich-Rede wird durch den emphatischen Ausdruck von Grund der Seele intensiviert – eine Hyperbolisierung der Aufrichtigkeit.
Inhaltlich: Der Sprecher bindet seine Aussage an die totale Innerlichkeit. Es geht um ein Gelöbnis, eine endgültige Entscheidung. Zugleich hat es einen performativen Charakter: was ausgesprochen wird, gilt als Eidesgleiches.
54 Schwartz soll meine Farbe seyn/
Sprachlich: Das Adjektiv Schwartz tritt als programmatische Setzung auf. Farbe ist hier doppeldeutig: es bezeichnet zum einen die äußere Trauerfarbe (Kleidung, Symbolik), zum anderen eine metaphorische Lebenshaltung (Schwarz als Zeichen des Ernstes, der Konstanz, des Leidens). Der Konjunktiv soll ist kein Futur, sondern Ausdruck eines Gelöbnisses, einer willentlichen Festlegung.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine Antithese zur sonst üblichen Farbsymbolik in der barocken Lyrik (wo weiß Reinheit, rot Liebe, grün Hoffnung, schwarz Trauer bedeutet). Hier wird bewusst Schwarz als positive Konstante gewählt, eine paradoxe Umwertung. Die Kürze des Verses, das klare Subjekt-Prädikat-Objekt-Schema (Schwartz – soll – Farbe seyn) hat die Form eines Sentenzspruchs.
Inhaltlich: Der Sprecher bekennt sich zur Dauertrauer oder Dauerernsthaftigkeit. Das Schwarz steht zugleich in Bezug auf Nigelline, deren Eigenfarbe ja im Titel thematisiert wird (schwartz-braun), womit persönliche Treue und Identifikation markiert wird.
55 Biß des schwartzen Grabes-Höle
Sprachlich: Biß ist hier temporal: bis zu dem Zeitpunkt, da.... Die Alliteration schwartzen Grabes-Höle verstärkt klanglich die düstere Konnotation. Höle ist eine ältere Form für Höhle, die zugleich Assoziationen an Abgrund, Dunkelheit, Unterwelt trägt. Durch die Genitivfügung Grabes-Höle wird eine Intensivierung erzeugt: nicht nur Grab, sondern eine metaphorisch ausgeweitete Grabeshöhle.
Rhetorisch: Eine Metapher der Endgültigkeit: der Tod als Verschlussraum. Der ist ein bildhafter Ausdruck der finalen Grenze. Gleichzeitig wird die Figur der Gradatio spürbar: von Farbe (54) zu Grabes-Höle (55) steigert sich die Intensität der Schwärze.
Inhaltlich: Der Sprecher dehnt seine Treue zur Farbe Schwarz bis zum Tod aus. Das Schwarz ist nicht nur Trauer, sondern Todesfarbe. Es markiert, dass das Selbstverständnis über das Leben hinaus in die Endlichkeit hinein verlängert wird.
56 Schleust den todten Cörper ein.
Sprachlich: Schleust (von einschließen, verschließen) betont die endgültige Bewegung: das Grab als schließender Mechanismus. Cörper wird im barocken Sprachgebrauch als Leib im Unterschied zur Seele verstanden; die Seele ist das Subjekt des Sprechens, der Körper aber das tote Objekt.
Rhetorisch: Ein starker Abschlussvers: das finale Bild des Grabes, das den Leichnam einschließt. Die Dynamik der Bewegung (schleust ein) macht den Tod zu einer aktiven Kraft. Das Bild ist auch eine Metonymie: die Grabeshöhle wird handelnd, schließend dargestellt. Damit wird die Strophe zugleich performativ abgeschlossen: nach der Öffnung von Grund der Seele (53) folgt die Schließung schleust … ein.
Inhaltlich: Die Grenze des Lebens ist erreicht; bis zu diesem Punkt soll das Schwarz gelten. Zugleich vollzieht sich eine barocktypische Leib-Seele-Dichotomie: die Seele spricht, der Körper wird eingesperrt. Das Ich übersteigt den Körper, indem es die eigene Treue bis über den Tod hinaus formuliert, doch der Leib wird den Naturgesetzen überlassen.
Das Gedicht beginnt mit einer programmatischen Absetzung vom konventionellen Lob heller und bunter Farben (V. 1–4). Während Hylas – eine mythisch konnotierte Gestalt – weiß und roth schätzt, erklärt das lyrische Ich die Schäfferin in Schwarz zu seiner Auserwählten.
Es folgt ein systematischer Aufbau: zunächst wird Schwarz mit den Augen, den Haaren, der Hautfarbe kontrastiert (Strophen 2–4); dann treten Argumente aus der Naturbeobachtung und aus der Mythologie hinzu (Strophen 5–10); schließlich wird in breiter Variation die Überlegenheit der Schwärze durch Beispiele aus Kosmos, Nacht, Pflanzenwelt, Früchten und Blumen belegt (Strophen 11–13).
Die letzte Strophe (14) wiederholt und verstärkt den Anfang, so dass ein Kreis entsteht: die erste Behauptung (Schwartz soll meine Farbe seyn) wird am Ende mit derselben Formel wiederholt – gleichsam als beschwörende Bekräftigung.
Der Verlauf ist daher nicht zufällig, sondern organisch: von persönlicher Vorliebe über mythisch-kosmische Begründung zur anthropologischen und naturhaften Generalisierung, die schließlich wieder ins Bekenntnis zurückführt.
Die psychologische Tiefenschicht liegt in der Umwertung des Schönheitsideals.
Das lyrische Ich stellt sich bewusst gegen den gängigen Code der Zeit (helle Haut, blondes Haar, blaue Augen, rote Lippen). Dieser Akt ist nicht nur eine Geschmacksbekundung, sondern auch eine Identitätsstiftung: es konstituiert sich als eigenständiges Subjekt, das seine Präferenz verteidigt. Psychologisch spiegelt sich darin ein Mechanismus von Abgrenzung und Selbstbehauptung.
Gleichzeitig offenbart sich ein Zug von Leidenschaftlichkeit und Beständigkeit: Schwarz wird mit Treue (V. 31f.), mit Dauer (gegenüber der Vergänglichkeit des Weißen, das von der Sonne bleichet), mit Ruhe und Geborgenheit (Nacht, Schatten) identifiziert.
Insofern artikuliert das Gedicht eine psychische Sehnsucht nach Beständigkeit und Geborgenheit, die in der Schäfferin verkörpert ist.
Ethisch liegt eine klare Umwertung des Konventionellen vor. Indem Schwarz mit Treue, Beständigkeit und Wahrhaftigkeit verknüpft wird, kritisiert das Gedicht implizit die Oberflächlichkeit einer rein äußerlichen Schönheitsbeurteilung.
Das Loblied auf die schwartz-braune Nigelline ist auch ein Plädoyer für eine Ethik des Inneren, des Wesentlichen. Schönheit ist nicht das blendend Sichtbare, sondern das, was sich durch Beständigkeit, Tiefe und Unveränderlichkeit auszeichnet.
Der Liebende betont seine Treue bis ins Grab (V. 7f., V. 55f.), was eine ethische Haltung von Kontinuität und Verlässlichkeit ausdrückt. Die Wiederholung dieses Motivs am Anfang und Ende hebt die moralische Dimension hervor: Liebe, die sich an Schwarz bindet, ist eine Liebe, die das Unwandelbare sucht.
Philosophisch-theologisch hat das Gedicht mehrere Schichten.
1. Symbolik des Schwarz: Im barocken Kontext ist Schwarz oft mit Tod, Vergänglichkeit, Trauer verbunden. Hier aber wird es positiv gewendet: Schwarz als Farbe der Treue, der Unwandelbarkeit, der Geborgenheit in der Nacht.
Das ist eine Umkehrung der Symbolik, die auf eine tieferliegende Erkenntnis verweist: das, was gewöhnlich als negativ gilt, kann in Wahrheit das Eigentliche, Ewige, Verlässliche sein.
2. Mythische Begründung: Der Verweis auf Pallas (V. 9–11), Paris (V. 12) und die Zytheren (Aphrodite, V. 13–16) deutet eine Auseinandersetzung mit klassischen Schönheitsurteilen an. Paris’ Apfel, der in der Mythologie die schönste Göttin prämierte, wird hier neu gedeutet: nicht das helle, sondern das dunkle Auge bringt den Preis. Damit wird das mythische Urteil subversiv gegen die Tradition gewendet.
3. Kosmologische Argumente: Die Schwärze des Himmels, die Nacht, der Schatten (V. 33–40) verweisen auf die kosmische Ordnung. Schwarz ist nicht Ausnahme, sondern Teil des großen Kreislaufs: Tag und Nacht, Licht und Dunkel sind notwendig aufeinander bezogen. Damit wird das Schwarz als notwendiger und ewiger Bestandteil der Schöpfung gedeutet.
4. Theologische Implikation: Die Gleichsetzung von Schwarz mit Treue (V. 31–32) hat theologisches Gewicht. In einer christlichen Lesart könnte Schwarz als das Bild des Unveränderlichen verstanden werden, das Gottes Treue spiegelt. Der Tod (das schwarze Grab, V. 7–8, 55–56) wird dabei nicht nur als Ende, sondern als Ort der endgültigen Treue gelesen. Der Geliebte bindet seine Liebe an die Ewigkeit des Todes – ein fast mystischer Zug, der die irdische Liebe über den Tod hinaus verlängert.
5. Ontologische Dimension: Schwarz steht für das, was sich nicht durch Veränderung entzieht. Während Weiß der Sonne weichen muss, bleibt Schwarz beständig. Philosophisch könnte man sagen: Schwarz ist hier das Symbol des Ens permanens, des Seienden, das im Wandel der Erscheinungen das Unveränderliche wahrt.
Moralisch tritt die Beharrlichkeit hervor. Die wiederholte Bekräftigung Schwartz soll meine Farbe seyn (V. 6, 54) ist nicht bloß Vorliebe, sondern Bekenntnis. Sie wird zum moralischen Akt der Loyalität gegenüber einer Geliebten, die im gesellschaftlichen Kanon möglicherweise weniger geachtet wird.
Die Liebe zum Schwarzen erhält so eine ethische Würde: sie verweigert sich dem Modischen und Oberflächlichen, sie wählt die Treue über den Schein. Zugleich hebt die Figur des Grabes eine Memento-mori-Dimension hervor: die Liebe bleibt gültig bis ins Reich des Todes.
Die moralische Haltung, die sich darin ausdrückt, ist eine, die den Tod nicht fürchtet, sondern ihn als letzte Bekräftigung der Treue integriert.
Das Gedicht entfaltet eine tiefe Symbolik der Farbe Schwarz, die in der anthroposophischen Deutung stets ambivalent, aber auch transformativ auftritt.
Schwarz ist hier nicht bloß die Abwesenheit von Farbe, sondern eine geheimnisvolle Ursphäre, aus der das Leben in neuer Gestalt hervorgehen kann. Der Sprecher preist die schwartze Schäfferin als Gestalt, die über das bloß Äußerliche hinausweist und eine tiefe seelische Bindung ermöglicht.
Schwarz erscheint zugleich als Zeichen der Treue, des Unwandelbaren und des Inneren – im Gegensatz zu Weiß und Rot, die vergänglich und veränderlich sind. Damit wird eine spirituelle Qualität berührt: die Treue der Seele, die nicht wie äußere Erscheinungen verblasst, sondern bleibende Wesensart hat.
Auch das Grab, die schwartze Höle, wird nicht negativ, sondern als ein Ort der Integration und endgültigen Sammlung gesehen, wodurch Schwarz den Übergang zur Ewigkeit bezeichnet.
Die ästhetische Gestaltung bewegt sich in einem kunstvollen Spiel mit Kontrasten: Schwarz gegen Weiß, Braun gegen Gold, Nacht gegen Tag.
Diese Polarität dient nicht nur dem Reiz der Vergleichung, sondern schafft eine ästhetische Apotheose der Dunkelheit. Während in der barocken Farbästhetik oft das Helle, Glänzende, Goldene im Vordergrund steht, dreht Abschatz die Perspektive: Schwarz erhält den Vorrang vor allen anderen Farben.
Die Schönheit liegt nicht im strahlenden Glanz, sondern im dunklen, geheimnisvoll Anziehenden. Dieses ästhetische Paradox steigert die Wirkung: das scheinbar Unschöne wird zum Erhabenen erklärt.
Das Gedicht ist durchzogen von antithetischer Rhetorik. Fast jede Strophe baut auf dem Gegensatz von Schwarz und den anderen Farben: Gold, Blau, Weiß, Rot.
Diese Antithetik wird verstärkt durch rhetorische Fragen (z. B. V. 20: Bleibt das klügste Wild nicht hangen / Wo die Schlinge schwartz gemacht?), durch Parallelismen (V. 5–7; V. 53–55) und durch anaphorische Rahmung (V. 1–4 und 49–52).
Die Wiederholung am Ende (Strophen 1 und 14) erzeugt eine Ringkomposition, die das Credo des lyrischen Ichs in Form einer rhetorischen Beschwörung bestätigt.
Durch Beispiele aus Mythologie (Pallas, Paris, Venus), Natur (Kirsche, Rosen, Tulpen) und Kosmologie (Phöbus, Thetis, Nacht) entfaltet sich eine reichhaltige Rhetorik, die Schwarz als übergreifendes Ordnungsprinzip in allen Sphären sichtbar macht.
Auf der Metaebene tritt eine Reflexion über Wahrnehmung und Wertung von Schönheit und Farbigkeit hervor. Der Sprecher polemisiert gegen die gängigen Konventionen, die Helles und Glänzendes bevorzugen, und erhebt das Dunkle zum Maßstab.
Damit entsteht eine ästhetisch-philosophische Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist wahre Schönheit? – Ist sie an äußere Strahlkraft gebunden, oder liegt sie im bleibenden, unsichtbaren Grund? Auf dieser Ebene verweist das Gedicht auf die Relativität aller Geschmacksurteile und führt eine Subversion kultureller Normen durch, indem es den Vorrang des Dunklen behauptet.
Poetologisch gesehen ist das Gedicht ein Programmgedicht barocker Emblematik, das in seiner ganzen Anlage den Wert des Dunklen als poetisches Thema etabliert.
Die Lyrik erklärt Schwarz zur poetischen Farbe, die am geeignetsten ist, innere Treue, Beständigkeit und metaphysische Tiefe zu symbolisieren. In der poetischen Tradition, die häufig Licht, Glanz und Transparenz bevorzugt, beansprucht Abschatz mit diesem Gedicht eine Umwertung des poetischen Materials. Die Dichtung selbst tritt als Medium auf, das nicht nur äußere Schönheit besingt, sondern sie kritisch befragt und in eine neue, geistige Dimension erhebt.
Durch die mythologischen Verweise (Paris, Venus) reflektiert sich zugleich das Verhältnis der Dichtung zu ihren Vorbildern: Sie zeigt, dass poetische Autorität nicht aus dem bloßen Nachahmen klassischer Muster besteht, sondern aus dem kühnen Umschreiben tradierter Hierarchien – hier der Farbwertungen.
Farbe Schwarz als Signum: Schwarz erscheint nicht als Zeichen von Trauer, Tod oder Negativität, sondern wird positiv umgedeutet: es ist Zeichen der Treue (V. 31–32), Dauerhaftigkeit und Beständigkeit.
Kosmische Bilder: Der schwarze Himmel (V. 33ff.), die Nacht, der Schatten, ja selbst der Sonnenuntergang, dienen als Metaphern für Schönheit, Geborgenheit, Ruhe.
Naturmetaphern: Schwarze Kirschen, dunkle Haare, Blumen, die zur Schwärze neigen, verweisen auf Fruchtbarkeit, Begehrlichkeit und Erhöhung des Werts.
Jagdmetapher: In Strophe 5 wird das Bild der Schlinge verwendet: am wirksamsten ist sie, wenn sie schwarz ist (V. 20). Damit wird erotische Anziehung als Fangnetz metaphorisiert.
Grabesbild: Gleich in Strophe 1 und am Schluss (V. 7f. / 55f.) erscheint das schwarze Grab – eine Rahmung des Gedichts. Die Farbe Schwarz wird hier mit existenzieller Endgültigkeit verbunden, wodurch sie als Begleiter bis in den Tod erhöht wird.
Antike Mythen: Pallas Athene (V. 10), Paris (V. 11), Venus/Zythera (V. 13ff.) – der Schönheitswettstreit wird evoziert, doch Paris vergibt den Apfel nicht dem Blau (Athene) oder Weiß/Rot, sondern die Nachtaugen der Venus bringen den Sieg. Damit wird die schwarze Nigelline mythisch überhöht.
Farbenlehre: Weiß und Rot stehen für Konvention, Schönheit, gesellschaftliche Norm; Schwarz tritt dagegen als eigentliche, tiefere Schönheit auf.
Erotische Konnotationen: Schwarze Locken, braune Haut, dunkle Augen – in der frühneuzeitlichen Poetik oft Sinnbilder für erotische Anziehungskraft.
Religiöse/Existenzielle Tiefenschicht: Schwarz ist auch die Farbe des Todes, der Ewigkeit, des Unwandelbaren. Damit entsteht eine doppelte Assoziation: Eros und Thanatos.
Barockes Schönheitslob: Das Gedicht steht in der Tradition der barocken Farbendebatten: häufig werden Schönheitstypen (blond vs. brünett, weiß vs. gebräunt) literarisch verhandelt. Abschatz stellt sich bewusst gegen die klassisch-renaissancehafte Idealisierung von Weiß, Blond und Rot.
Anleihen an Petrarkismus: Das Motiv der geliebten Schäferin, die mit Farben geschmückt ist, greift Topoi der europäischen Liebesdichtung auf.
Galante Lyrik: Das Gedicht gehört zur höfisch-galanten Modepoesie, die spielerisch, aber mit rhetorischer Raffinesse konkurrierende Schönheitsideale diskutiert.
Frühaufklärung und Barock: Der ironische Unterton (z. B. Bleibt das klügste Wild nicht hangen, / Wo die Schlinge schwartz gemacht?) spiegelt die barocke Vorliebe für antithetische Pointen. Gleichzeitig kündigt sich eine galante Leichtigkeit an, die über das strenge Barock hinausweist.
Topos der Nigra sum sed formosa: Biblisches Hohelied (Hld 1,5: Nigra sum sed formosa, filiae Hierusalem) klingt mit. Schwarze Schönheit wird gegen den gängigen Diskurs gesetzt und sakral legitimiert.
Diskursiver Widerspruch: Das Gedicht argumentiert strophisch mit Antithesen: weiß/rot vs. schwarz, Tag vs. Nacht, Sonne vs. Schatten, Tod vs. Treue.
Rahmenstruktur: Anfangs- und Schlussstrophe wiederholen fast wörtlich die Bekenntnisformel zu Schwarz (V. 1–8 // 49–56). Das macht die Gedichtarchitektur ringförmig und betont den dauerhaften Entschluss des lyrischen Ichs.
Intertextualität: Der Bezug zu antiker Mythologie und Bibel verbindet höfische Liebespoesie mit hohen kulturellen Autoritäten, wodurch das Lob der dunklen Geliebten besonders legitimiert wird.
Strophenform: Vierzeilige Strophen (Abgesang-Art), meist mit Kreuzreim (abab) oder variierend, durchgehend jambisch geprägt, typisch für den galanten Ton.
Refrainartige Wiederkehr: Anfang und Ende spiegeln sich, wodurch eine musikalische Rundung entsteht.
Klanglichkeit: Alliterationen und Assonanzen (Schwartz vergnüget meine Seele / Schwartz soll meine Farbe seyn) verstärken das Mantra-artige Bekenntnis.
Argumentativer Aufbau: Jede Strophe entfaltet eine kleine Begründung, warum Schwarz der höchste Wert sei: mythisch (Athene/Venus), natürlich (Kirschen, Blumen), kosmisch (Nacht, Himmel), existentiell (Treue, Tod).
Progression: Vom Individuellen (die Schäferin) über das Kosmische (Sonne, Himmel) zum Existenziellen (Grab).
Das Gedicht ist ein barockes Lob auf die schwarz-braune Nigelline, das in 14 Strophen ein Farbparadox entfaltet. Während die Tradition Schönheit meist in hellen, weißen und roten Tönen sah, wendet Abschatz die Perspektive um und erhebt Schwarz zur bevorzugten Farbe. Diese Umwertung geschieht auf mehreren Ebenen: mythologisch (Athene vs. Venus, der Schönheitsapfel), erotisch (dunkle Locken, Fangnetz der Schlinge), naturhaft (Kirschen, Blumen, Schatten), kosmisch (Sonne, Himmel, Nacht) und existenziell (Treue, Tod, Grab).
Die Farbe Schwarz symbolisiert hier nicht nur äußere Schönheit, sondern auch Beständigkeit, Unveränderlichkeit und Tiefe. Durch den biblischen Unterton (Nigra sum sed formosa) erhält die Schwarze Legitimität über kulturelle Grenzen hinweg. Gleichzeitig klingt das barocke Spiel mit Antithesen durch: hell/dunkel, Leben/Tod, Wärme/Kühle.
Das Gedicht ist streng architektonisch komponiert: Der erste und der letzte Versabschnitt rahmen das Ganze, indem sie dieselbe Bekenntnisformel (Schwartz soll meine Farbe seyn / Biß des schwartzen Grabes Höle …) wiederholen.
So ist das Werk ein Musterbeispiel barocker Liebeslyrik, die galant und spielerisch argumentiert, zugleich aber tiefer liegende metaphysische Schichten berührt: Schwarz ist Schönheit, Liebe, Treue, Fruchtbarkeit und – bis in den Tod hinein – ewige Gültigkeit. Damit verbindet sich Sinnlichkeit und metaphysische Ernsthaftigkeit auf typisch barocke Weise.