Nach aller meiner Pein/ nach aller meiner Noth/1
Dadurch ich nur verbittert deine Sinnen/2
Hab ich gelernt die Kunst dich zu gewinnen/3
Fillis/ ich geh' in Tod.4
Fillis/ thu ich zuviel/ wenn ich mich untersteh/5
Daß ich dir recht gethan/ für aller Welt zu sagen:6
Ein Augenblick kan mich und dich vertragen:7
Ich geh in Tod: Ade!8
1 Nach aller meiner Pein/ nach aller meiner Noth/
Sprachlich: Die Wiederholung des nach aller hebt die Totalität und Endgültigkeit des durchlittenen Leidens hervor. Das Paar Pein und Noth ist synonymisch gesteigert und betont Intensität und Vollständigkeit des Schmerzes. Das anaphorische nach strukturiert den Satz rhythmisch und gibt dem Vers Gewicht.
Rhetorisch: Anapher (nach aller … nach aller) wirkt wie ein feierlicher Auftakt. Zudem entsteht eine Klimax: Pein (innerliches Leiden) wird durch Noth (äußere Bedrängnis, existenzielle Notlage) verstärkt.
Inhaltlich: Der Sprecher blickt zurück auf eine Phase des Leidens, sei es durch Liebesqual oder existenzielle Erfahrung. Er positioniert sein Ich als Opfer, das eine Bewährungsprobe bestanden hat.
2 Dadurch ich nur verbittert deine Sinnen/
Sprachlich: Dadurch verweist auf das zuvor Genannte (Pein/Noth). Das Verb verbittert ist stark wertend, es trägt sowohl affektive als auch moralische Konnotation. Sinnen im Plural verweist auf innere Regungen, Gedanken oder Empfindungen der Geliebten.
Rhetorisch: Die semantische Spannung zwischen dem Leid des lyrischen Ichs und der Reaktion der Geliebten (verbittert) zeigt einen paradoxen Effekt: Leiden sollte eigentlich Mitleid wecken, führt hier aber zur Abwehr. Die Antithese zwischen intendierter Wirkung (Mitleid, Zuneigung) und tatsächlicher Wirkung (Verbitterung) ist ein zentrales rhetorisches Moment.
Inhaltlich: Die Beziehung wird als gestört dargestellt: das Leid des Ichs war nicht fruchtbar, sondern erzeugte Abneigung. Das weist auf ein asymmetrisches Liebesverhältnis und verweist auf typische Topoi barocker Liebesdichtung (unerwiderte Liebe, Grausamkeit der Geliebten).
3 Hab ich gelernt die Kunst dich zu gewinnen/
Sprachlich: Die Wendung die Kunst dich zu gewinnen verweist auf eine Topik der Liebespoetik: Liebe als Kunst, als Technik, die erlernt wird (ars amatoria, Ovid). Gewinnen hat doppelte Konnotation: Sieg/Überlegenheit, aber auch Erwerb von Gunst und Zuneigung.
Rhetorisch: Die Wendung hab ich gelernt kontrastiert mit dem bisherigen Scheitern: Es ist ein paradoxes Ergebnis, das durch Leiden erworben wurde. Gleichzeitig wird das Motiv des Lernens (durch Erfahrung) eingeführt. Das Paradox, dass gerade Pein zur Kunst des Gewinnens führt, stellt einen rhetorischen Umschlag dar.
Inhaltlich: Trotz des Missklangs, den das Leiden erzeugte, will das lyrische Ich daraus eine Kompetenz ziehen: die Fähigkeit, die Geliebte für sich zu gewinnen. Es zeigt die barocke Dialektik von Leid und Erfüllung, Qual und Erkenntnis.
4 Fillis/ ich geh' in Tod.
Sprachlich: Die direkte Anrede Fillis (ein konventioneller Schäfernamen der Bukolik) verleiht dem Gedicht Intimität und zugleich einen literarisch-topischen Charakter. Ich geh’ in Tod ist elliptisch und drastisch: das Verb gehen macht den Tod zu einem Weg, einem Übergang.
Rhetorisch: Apostrophe an die Geliebte. Dazu kommt die finale Steigerung: Nach der Reflexion über Leid, Abweisung und erlernte Kunst folgt der absolute Höhepunkt – der Tod. Hyperbolische Zuspitzung barocker Liebeslyrik: Liebe ist existenzielle Frage von Leben und Sterben.
Inhaltlich: Das lyrische Ich sieht den Tod als letzte Konsequenz der Liebeserfahrung. Zugleich bleibt ambivalent, ob dieser Tod real oder metaphorisch (Liebestod, Hingabe) zu verstehen ist. Es spiegelt die barocke Verflechtung von Eros und Thanatos.
5 Fillis/ thu ich zuviel/ wenn ich mich untersteh/
Sprachlich: Der Vers eröffnet direkt mit der Anrede Fillis, einer typischen bukolischen Namenkonvention, die aus der Schäferdichtung (Theokrit, Vergil, Renaissance-Pastorale) stammt. Der Sprecher wählt eine schlichte Syntax mit Einschüben (thu ich zuviel), die ein spontanes, fast stockendes Sprechen im Augenblick der Leidenschaft nachahmt.
Rhetorisch: Hier wirkt eine Art captatio benevolentiae: der Sprecher sucht Zustimmung oder zumindest Nachsicht von Fillis, indem er seine eigene Handlung sofort relativiert (thu ich zuviel). Das Verb unterstehen impliziert sowohl das Sich-Erheben gegen eine Ordnung als auch das Sich-Wagen im Wagnis der Liebe. Es entsteht ein Schwebezustand zwischen Schuldgefühl und mutiger Zuwendung.
Inhaltlich: Die Frage ist, ob es eine Grenzüberschreitung sei, öffentlich von der Liebe zu sprechen. Der Sprecher fühlt die Ambivalenz: seine Liebe will er bekennen, doch er ahnt, dass dieses Bekenntnis gesellschaftlich oder persönlich als Anmaßung gelten könnte.
6 Daß ich dir recht gethan/ für aller Welt zu sagen:
Sprachlich: recht gethan klingt schlicht, fast nüchtern; es bezeichnet ein Tun, das moralisch oder gefühlsmäßig als korrekt, gerechtfertigt oder ehrenhaft erscheint. Der Ausdruck für aller Welt weitet die Szene vom intimen Dialog in die Öffentlichkeit.
Rhetorisch: Der Vers steigert die Spannung: das private Gefühl wird in die Sphäre der Publizität überführt. Dies ist eine klassische antithetische Bewegung: zwischen dem du (Fillis) und der aller Welt entsteht ein Gegensatz, der den Pathosgrad steigert. Zugleich wirkt die Wendung als parrhesia, das offene, ungeschönte Bekenntnis.
Inhaltlich: Der Sprecher möchte seine Zuneigung oder seine gute Tat (vielleicht Treue, Hingabe, Opfer) nicht im Verborgenen belassen, sondern öffentlich aussprechen. Damit rückt er die Liebe in den Rang einer allgemein gültigen Wahrheit, nicht bloß einer privaten Neigung.
7 Ein Augenblick kan mich und dich vertragen:
Sprachlich: Das Wort Augenblick ist von zentraler Bedeutung. Es signalisiert Kürze, Vergänglichkeit, aber auch Intensität. Das Verb vertragen meint hier nicht nur aushalten oder dulden, sondern in Einklang bringen, vereinigen. Sprachlich verschmilzt damit Moment und Harmonie.
Rhetorisch: Der Vers arbeitet mit einer paradoxalen Verdichtung: in einem einzigen Augenblick, einem Minimum an Zeit, soll das Maximum geschehen – die Vereinigung zweier Menschen. Der Augenblick wird zur Kulmination der Liebe stilisiert. Das ist eine rhetorische Überhöhung, fast ein barockes oxymoron von Zeit und Ewigkeit.
Inhaltlich: Die Liebe ist so stark, dass ein einziger Moment ausreicht, sie zu erfüllen und zu rechtfertigen. Zugleich deutet sich ein tragisches Moment an: vielleicht gibt es nur diesen einen Augenblick, danach folgt Verlust oder Tod.
8 Ich geh in Tod: Ade!
Sprachlich: Die Kürze des Schlusses – Ade! – bricht abrupt den vorherigen Fluss. Die lapidare Finalität des Tod wird durch den Gruß des Abschieds direkt verbunden. Sprachlich liegt hier eine Zäsur, die alles Vorige in eine Endgültigkeit verwandelt.
Rhetorisch: Dieser Schluss wirkt wie ein exclamatio, eine pathetische Ausrufung. Der Rhythmus ist schroff, der Schnitt radikal. Aus der behutsamen Fragehaltung der ersten Verse springt der Sprecher in das äußerste Pathos: den Tod.
Inhaltlich: Der Tod ist hier nicht nur biologischer Endpunkt, sondern Ausdruck des extremen Liebesaffekts: besser sterben, als ohne Erfüllung oder ohne Einverständnis der Geliebten zu leben. Zugleich klingt die barocke Vanitas-Dimension an: Liebe und Tod sind untrennbar verbunden, der Augenblick der Vereinigung ist zugleich der Moment des Verschwindens.
Das Gedicht ist formal äußerst knapp und folgt einem klaren Spannungsbogen:
Strophe 1 (V. 1–4): Rückblick auf erlittene Pein und Not, die der Sprecher durch das Verhalten der Geliebten (Fillis) erfahren hat. Der Leidensweg wird zugleich als Schule verstanden – aus Schmerz erwächst die Kunst, dich zu gewinnen. Doch diese Kunst führt paradoxerweise nicht ins Leben, sondern in den Tod.
Strophe 2 (V. 5–8): Der Sprecher rechtfertigt sich vor Fillis und zugleich vor der Welt. Er will laut bekennen, dass er ihr recht getan habe, also in Treue und Redlichkeit gehandelt habe. Aber die Macht eines Augenblicks (vielleicht einer versöhnenden Begegnung oder eines Blickes) entscheidet über Heil oder Verderben. Das Gedicht endet abrupt und existenziell mit dem Abschiedswort: Ich geh in Tod: Ade!
Der Aufbau ist also zyklisch-dramatisch: Erinnerung – Rechtfertigung – Entscheidung – Endgültigkeit. Es steigert sich vom Rückblick über die Selbsterklärung bis zum finalen Todesentschluss.
Psychologisch zeigt das Gedicht den inneren Konflikt eines Liebenden, der zwischen Leiden, Hoffnung und Resignation schwankt:
Die Pein und Not haben sein Inneres verbittert, er gesteht also eine seelische Transformation, die ihn aus seiner Balance gebracht hat.
Dennoch hat er etwas gelernt – er behauptet, nun zu wissen, wie er Fillis gewinnen könnte. Dieses Wissen kommt aber zu spät oder hat keinen praktischen Wert mehr.
In der zweiten Strophe tritt eine Mischung aus Stolz und Verzweiflung hervor: Er insistiert, dass er recht getan habe, sucht also moralische Rechtfertigung.
Gleichzeitig offenbart er eine psychische Fixierung: alles hängt an einem Augenblick. Diese Konzentration auf ein einziges Moment zeigt seine obsessive Verengung.
Der finale Todessatz ist Ausdruck eines psychischen Extremzustandes, einer Selbstauflösung im Angesicht unerfüllter Liebe.
Ethisch liegt im Gedicht der Anspruch, dem anderen recht getan zu haben. Der Sprecher sieht sich nicht als Verführer, Betrüger oder Schuldiger, sondern als redlicher Liebender. Er beansprucht ethische Integrität vor aller Welt: sein Verhalten war rechtschaffen.
Doch diese Selbstrechtfertigung hat einen Schatten: indem er seine eigene Todesbereitschaft als ultima ratio ausstellt, wird seine Liebe selbstbezogen und destruktiv. Er erhebt den Anspruch, ethisch richtig gehandelt zu haben, doch ethisch fragwürdig bleibt sein radikales Ultimatum (Ich geh in Tod). Die Liebe wird so zum Schauplatz moralischer Ambivalenz: Treue und Aufrichtigkeit stehen neben Erpressung und Selbstvernichtung.
1. Leid als Schule: Der Gedanke, dass Pein und Not einen Lernprozess eröffnen, verweist auf eine barocke Lebensphilosophie: Leiden als Lehrmeister (vgl. stoische, christliche und mystische Traditionen). Der Schmerz verwandelt sich in Erkenntnis.
2. Eros und Thanatos: Das Gedicht setzt die Spannung von Liebe und Tod ins Zentrum. Die Liebe führt nicht ins Leben, sondern ins Sterben. Dies entspricht barocker Vanitas-Symbolik: die höchste Intensität der Liebe ist zugleich tödlich.
3. Moment und Ewigkeit: Der Augenblick (V. 7) wird zur entscheidenden Kategorie. Ein einziges Jetzt entscheidet über Heil und Verderben. Hier klingt die barocke Theologie des Kairos an: die göttliche Gnadenstunde, die ergriffen oder verpasst wird. Im profanen Liebeskontext erhält der Augenblick fast sakramentalen Charakter.
4. Rechtfertigung vor der Welt: Der Sprecher beansprucht, recht getan zu haben. Dies erinnert an die theologische Rechtfertigungslehre: der Mensch sucht sein Heil nicht nur durch innere Gnade, sondern durch äußere Bekräftigung vor der Gemeinschaft. Das Ich macht sich selbst zum Kläger und Zeugen in einem Prozess, der an das Gericht Gottes erinnert.
5. Todesabschied: Das Ade hat eine fast liturgische Qualität. Es klingt wie der Schlussakt eines Passionsweges, bei dem der Tod nicht nur Ende, sondern Übergang ist – in diesem Fall allerdings nicht zu Gott, sondern in die Leere der unerfüllten Liebe.
Moralisch bewegt sich das Gedicht zwischen Treue und Selbstzerstörung:
Der Sprecher präsentiert sich als integerer, aufrechter Liebender. Er hält sich selbst für unschuldig und gerecht.
Doch die Art seiner Haltung lässt Zweifel offen: Indem er den Tod als Konsequenz der nicht erhörten Liebe wählt, wird seine Moral zur tragischen Selbstüberhebung.
Die implizite Botschaft könnte lauten: wahre Liebe darf nicht Selbstzerstörung werden – und doch zeigt das Gedicht gerade die barocke Tendenz, Liebe und Tod untrennbar zu verklammern.
Abschatz’ Gedicht steht in einer barocken, frühaufklärerischen Tradition, die das menschliche Innenleben und das Schicksal in Beziehung zur Weltordnung stellt. Die beiden Strophen zeigen eine Bewegung von Leid (Nach aller meiner Pein …) hin zu einer Art sublimierter Erkenntnis (Hab ich gelernt die Kunst dich zu gewinnen). In anthroposophischer Perspektive wird hier das Motiv der Schulung durch Schmerz betont: Das Ich wird durch Leiden verfeinert und erlangt eine Kunst, die nicht nur ästhetisch, sondern auch seelisch-spirituell verstanden werden kann. Der Übergang zum Tod (ich geh’ in Tod) erscheint nicht bloß als Ende, sondern als Transformation — eine Art Initiation, die an die Mysteriendramen des Rosenkreuzertums oder die Lehrgedichte über Seelenläuterung erinnert. Die Kunst des Gewinnens ist also nicht nur ein rhetorisches oder erotisches Können, sondern auch ein inneres Lernen, das über das Ego hinausführt.
Ästhetisch folgt das Gedicht der barocken Miniaturkunst: zwei Strophen, acht Verse, stark verdichtete Bildsprache. Es mischt Eleganz und Pathos, um das Leid und die Liebe in einen fast lapidaren Schluß zu führen (Ich geh in Tod: Ade!). Das Spiel zwischen Kunst und Tod ist typisch für den Barock, wo Schönheit immer auch Vergänglichkeit mitdenkt. Auffällig ist auch der Wechsel von innerer Reflexion zu direkter Anrede (Fillis): das lyrische Ich wird dadurch zugleich introspektiv und performativ. Diese Kürze steigert die Intensität – wie ein Epigramm oder musikalisch wie ein Madrigal. Der Moment der Versöhnung (Ein Augenblick kan mich und dich vertragen) wird als ästhetischer Höhepunkt gesetzt: ein Zeit-Punkt, der alles Leid in Schönheit verwandelt.
Rhetorisch ist das Gedicht eine klassische barocke Galanterie und zugleich ein rhetorisches Experiment.
Anrede: Das lyrische Ich spricht Fillis zweimal direkt an – das schafft Nähe, Dramatik und Pathos.
Antithese: Leid/Not versus Kunst/Gewinnung, Tod versus Augenblick der Versöhnung.
Selbstbezichtigung und Selbstüberbietung: Hab ich gelernt … wird gefolgt von einer Todesankündigung – eine Übersteigerung, wie sie die barocke Rhetorik liebt.
Ausruf und Apostrophe: Fillis … Ade! Die letzten Worte klingen wie ein Bühnenschluß, eine Miniaturtragödie.
Rhetorisch ist also eine Inszenierung des eigenen Leidens und Verzichts zu sehen, in der der Tod als rhetorischer Topos den Ernst der Aussage verstärkt.
Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht seine eigene Kommunikation. Die zweite Strophe ist nicht nur Bekenntnis, sondern auch eine kleine poetische Rechtfertigung: thu ich zuviel, wenn ich mich untersteh / … für aller Welt zu sagen. Hier wird das öffentliche Sprechen (das Publizieren des Gedichts) selbst thematisiert. Das Ich fragt: Ist es legitim, diese Erfahrung zu äußern? Das Gedicht wird zum Meta-Gedicht über das Sprechen von Liebe und Leid, über das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in der Poesie. Auch der Augenblick hat eine meta-poetische Funktion: Er ist der Moment, in dem Dichtung die Realität (Liebesleid) kurz versöhnt – bevor der Tod (Schweigen) folgt.
Poetologisch ist die Kunst, dich zu gewinnen doppeldeutig: Sie bezeichnet einerseits die Kunst der Werbung um Fillis, andererseits die Kunst des Dichtens selbst. Der Sprecher hat gelernt – das verweist auf Poetik als Erfahrungswissen: Dichtung entsteht aus Schmerz, Läuterung, Selbstopferung. Der Tod ist hier nicht nur biographisch, sondern poetologisch als Pointe zu verstehen: der Dichter stirbt in seiner Rolle, sein Gedicht bleibt zurück. Auch das Momenthafte (Ein Augenblick) verweist auf das barocke Poetik-Ideal der Gelegenheitsdichtung – der Augenblick ist der Anlaß, der in Verse gefaßt wird. So erscheint das Gedicht selbst als Modell, wie man Kunst aus Not formt.