LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 17 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Der Liebe Gifft und Gegen-Gifft

Der klugen Aerzte Kunst weiß allem Ubel Rath/1
Was fast zu finden ist in weiter Erde Schrancken:2
Wie kommts/ daß sie kein Mittel hat3
Für eine Noth/ daran fast alle Welt muß krancken?4

Ein Hertze/ welches sich von Liebe wund betrifft/5
Kan seine Hoffnung nicht auff ihre Kräuter gründen:6
Die Lieb ist Gifft und Gegen-Gifft:7
Man muß den Scorpion auff seinen Schaden binden.8

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Der klugen Aerzte Kunst weiß allem Ubel Rath/

Der Ausdruck klugen Aerzte Kunst ist typisch barock: die Kunst ist die ärztliche Wissenschaft und Heilkunde. Ubel meint Krankheit, Leiden oder Unheil. Die Formulierung legt eine hohe Wertschätzung der ärztlichen Zunft nahe, zugleich schwingt in klug eine gewisse ironische Distanz mit.

Hyperbolische Eröffnung: allen Übeln sei Rat gegeben. Dies ist eine bewusste Übertreibung, die den Kontrast vorbereitet. Das Enkomion (Lobpreisung) wird gleich in eine Antithese überführt.

Das medizinische Wissen erscheint als umfassend, nahezu universell – es suggeriert, dass die Ärzte für jedes körperliche Leiden ein Heilmittel parat haben.

2 Was fast zu finden ist in weiter Erde Schrancken:

Schrancken bezeichnet die Grenzen oder den Umfang der Welt. Weite Erde Schrancken evoziert ein Bild der gesamten irdischen Sphäre.

Der Vers verstärkt das Universale: nicht nur alle Krankheiten, sondern auch überall auf Erden. Die Konstruktion was fast zu finden ist öffnet eine Einschränkung, die Raum für das folgende Paradox schafft.

Die Ärzte können fast jedem Leiden, das irgendwo in der Welt existiert, beikommen. Es wird ein Bild totaler Beherrschung der physischen Dimension entworfen.

3 Wie kommts/ daß sie kein Mittel hat

Ein direkter Übergang in die rhetorische Frage. Wie kommt’s signalisiert Staunen und impliziert bereits Kritik oder Infragestellung. Mittel meint Heilmittel, Arznei.

Hier erfolgt die Wendung: Antithese gegen die vorausgehende Universalität. Die rhetorische Frage betont das Paradoxe – eine Kunst, die alles weiß, scheitert an einem.

Der Vers hebt den Mangel hervor: die ärztliche Kunst hat für ein zentrales Leiden kein Heilmittel. Damit verschiebt sich die Thematik von der Naturwissenschaft zur menschlichen Existenz.

4 Für eine Noth/ daran fast alle Welt muß krancken?

Noth bezeichnet ein existenzielles Leiden, nicht nur ein körperliches Gebrechen. Fast alle Welt ist eine Übertreibung, die die Allgemeinheit des Phänomens unterstreicht. Krancken wird hier übertragen gebraucht.

Wiederum ein rhetorischer Höhepunkt: die Universalität des Leidens steht im scharfen Kontrast zur Ohnmacht der ärztlichen Kunst. Der Vers vollendet die Antithese der Strophe.

Diese Not ist die Liebe – der Titel Der Liebe Gifft und Gegen-Gifft gibt die Lösung. Abschatz beschreibt Liebe als universale Krankheit, für die es keine Arznei gibt. Damit erhält das Bild eine ironische und zugleich ernste Pointe: Liebe wird pathologisiert, medizinisch metaphorisiert, und als übermächtig gegenüber menschlicher Wissenschaft dargestellt.

5 Ein Hertze/ welches sich von Liebe wund betrifft

Das Hertze wird in traditioneller Liebespoetik als Sitz der Leidenschaft und Empfindung angesprochen. Das Adjektiv wund verweist sowohl auf körperliche Verletzung als auch auf seelische Verwundung. Betrifft hat hier die Bedeutung getroffen sein, betroffen werden – ein Bild des schicksalhaften Pfeils der Liebe.

Hier begegnet eine Metapher der Verletzung: das Herz als verwundete Leiblichkeit, die Liebe als schädigende Macht. Zudem ein klassischer Topos der Liebeswunde (vgl. antike Ovid-Tradition, petrarkistische Liebeslyrik).

Die Liebe erscheint nicht als sanfte Kraft, sondern als eine den Menschen überfallende, fast gewaltsame Energie, die Leiden erzeugt. Das Herz wird als der Ort des Schmerzes exponiert – ein Leiden, das von außen kommt, nicht selbst gewählt ist.

6 Kan seine Hoffnung nicht auff ihre Kräuter gründen:

Kräuter bezeichnet Heilpflanzen, also medizinisch wirksame Naturstoffe. Das Bild evoziert medizinisch-allegorische Sprache. Hoffnung erscheint als Heilungsperspektive.

Es liegt eine Metaphorik der Therapie vor: Kräuter als Sinnbild der Heilmittel. Gleichzeitig wirkt ein antithetisches Spannungsmoment: die Verwundung (Vers 5) hat kein äußeres Heilmittel, keine Kräuter können helfen.

Der Vers negiert die Möglichkeit einer natürlichen, äußerlichen Heilung. Das Liebesleiden ist unheilbar durch gewöhnliche Arzneien. Hoffnung kann nicht auf empirische Medizin gegründet werden – die Liebe liegt außerhalb der Macht der Heilkunst.

7 Die Lieb ist Gifft und Gegen-Gifft:

Die Paradoxie der Formulierung ist auffällig: die Liebe in doppelter Gestalt, sowohl als zerstörende als auch als heilende Kraft. Gifft verweist auf eine gefährliche Substanz, Gegen-Gifft auf das Antidot.

Es handelt sich um eine Antithese in Parallelform (Gifft vs. Gegen-Gifft). Zudem eine Art Oxymoron: dass ein und dieselbe Substanz zugleich Schaden und Heilung in sich trägt.

Hier erscheint ein Grundgedanke frühneuzeitlicher Liebesauffassung: Liebe ist ambivalent – sie verletzt, aber nur sie selbst kann die Verletzung heilen. Damit verschiebt sich das Leiden von einem pathologischen Zustand in einen notwendig paradoxen Zustand: nur im Erleiden wird Heilung denkbar.

8 Man muß den Scorpion auff seinen Schaden binden.

Das Bild vom Skorpion knüpft an medizinisch-naturkundliche Tradition: gegen Skorpionstich sollte man nach volkstümlicher Vorstellung den Skorpion selbst als Heilmittel einsetzen. Binden hat dabei den konkreten Sinn des Auflegens, Fixierens, symbolisch die Rückwendung der Gefahr auf sich selbst.

Ein exemplarischer Vergleich aus der Naturkunde: das Heilmittel ist identisch mit der Ursache des Übels. Das Bild wirkt eindringlich, fast emblematisch.

Wie der Skorpionstich nur durch den Skorpion selbst geheilt werden kann, so kann die Liebeswunde nur durch die Liebe selbst kuriert werden. Das Beispiel bestätigt und illustriert den Paradoxonsatz von Vers 7.

Organischer Aufbau und Verlauf

Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit je vier Versen und folgt einem klaren gedanklichen Bogen:

Erste Strophe (V. 1–4): Es wird die große Kunst der Ärzte gerühmt, die fast für jede Krankheit und jedes Übel auf Erden ein Heilmittel finden können. Doch stellt sich eine paradoxe Lücke heraus: Gegen die universale Krankheit Liebe fehlt jede ärztliche Medizin.

Zweite Strophe (V. 5–8): Die Diagnose konkretisiert sich: Das Herz, vom Leiden der Liebe wund getroffen, kann sich nicht auf die ärztlichen Kräuter verlassen. Die Liebe ist paradox: Gift und Gegengift in einem. Das Bild des Skorpions, dessen Gift durch das Auflegen des Tieres selbst wieder neutralisiert wird, bringt diese Selbstheilungslogik poetisch auf den Punkt.

Der Verlauf ist also ein geschlossener, rhetorisch zugespitzter Gedankengang: vom allgemeinen Lob der Heilkunst zur Unheilbarkeit der Liebe – und schließlich zur paradoxen Lösung: nur die Liebe selbst heilt ihre eigenen Wunden.

Psychologische Dimension

Psychologisch behandelt das Gedicht eine universale menschliche Erfahrung: die Ohnmacht des Menschen gegenüber der Macht der Liebe.

Liebe erscheint als Krankheit, die das Herz wund macht – mit körperlicher Metaphorik wird das seelische Leiden anschaulich.

Die Unmöglichkeit, sich auf äußere Hilfsmittel (Kräuter) zu stützen, spiegelt den Erfahrungswert, dass Liebe nur im Inneren, nicht durch fremde Eingriffe, verarbeitet werden kann.

Das Paradoxon – Liebe als Gift und Gegengift – weist auf eine psychische Ambivalenz: dieselbe Macht, die verwundet, kann auch heilen. Die Liebe, die Leiden schafft, gibt auch Hoffnung und Erfüllung.

Das Gedicht erfasst damit einen archetypischen psychischen Konflikt: das Unentrinnbare und zugleich Heilsame der Leidenschaft.

Ethische Dimension

Ethisch ist das Gedicht ein Nachdenken über menschliche Grenzen und Verantwortung:

Es verweist darauf, dass selbst die größte Kunst (Medizin) nicht alle Übel bannen kann. Damit wird der Stolz der Wissenschaft relativiert.

Die Krankheit Liebe ist ethisch ambivalent: Sie kann Tugend fördern (Treue, Hingabe, Opferbereitschaft), aber auch Laster und Unheil (Eifersucht, Selbstzerstörung).

Die Metapher des Skorpions deutet auf ein Bewusstsein hin, dass Gefahren nicht durch Flucht oder Verdrängung überwunden werden, sondern durch das Aushalten und Durchleben des eigenen Giftes – eine ethische Haltung der Annahme.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

Hier verdichtet sich die Dimension des Gedichts am stärksten:

Anthropologische Perspektive: Die Liebe wird als Grundkonstante menschlicher Existenz gefasst. Sie entzieht sich rationaler Beherrschung und naturwissenschaftlicher Heilkunst – ein Hinweis auf die Grenzen der Vernunft.

Theologische Perspektive: In christlicher Tradition gilt die Liebe (caritas/agape) als göttliches Prinzip, das sowohl verletzen (via Leidenschaft, concupiscentia) als auch erlösen kann. In diesem Licht erscheint die Rede von Gift und Gegengift als paradoxes Zeichen der göttlichen Dialektik: die Liebe Gottes (Christus am Kreuz) verletzt durch ihre Unerbittlichkeit und heilt zugleich durch Gnade.

Philosophische Perspektive: Das Paradoxon entspricht dem barocken Denken in Antithesen: Tod/Leben, Gift/Heil, Leiden/Hoffnung. Liebe ist hier das Prinzip der Coincidentia oppositorum – Vereinigung der Gegensätze. Der Skorpion ist Symbol einer kosmischen Dialektik: das Negative trägt sein Heilmittel in sich.

Damit lässt sich das Gedicht als Reflexion auf die Grundstruktur des Seins lesen: das Böse oder Schmerzliche ist nicht isoliert, sondern in sich auch Träger des Guten.

Moralische Dimension

Moralisch bietet das Gedicht keine einfache Handlungsanweisung, sondern eine Haltung:

Wer von Liebe verwundet wird, soll nicht auf äußere Rezepte hoffen, sondern erkennen, dass die Lösung in der Liebe selbst liegt.

Moralisch heißt das: statt die Liebe zu verdrängen oder zu bekämpfen, soll man sich ihr stellen – im Bewusstsein ihrer Ambivalenz.

Die Lehre ist barock: das Leben ist voller Paradoxien, und Moral bedeutet nicht einfache Flucht vor dem Schmerz, sondern Annahme der göttlichen Ordnung, die auch im Leiden Heilmittel bereithält.

Anthroposophische Dimension

Das Gedicht deutet Liebe als ein ambivalentes kosmisch-menschliches Prinzip: sie ist sowohl Krankheit als auch Heilung.

In anthroposophischer Sicht entspricht dies der Idee, dass seelisch-geistige Kräfte polar wirken: das, was den Menschen zerstören kann, birgt zugleich das Potenzial zur Erlösung.

Liebe ist hier nicht bloß Leidenschaft, sondern eine urbildhafte Macht, die – wie ein Skorpionstich – tödlich wirkt, doch zugleich durch ihr eigenes Gift neutralisiert werden kann.

Im Hintergrund schwingt die Vorstellung von Liebe als karmischer Prüfung: nur durch Auseinandersetzung mit dem Schmerz der Liebe wird der Mensch gereift und über sich hinausgeführt.

Ästhetische Dimension

Die Form ist streng gebaut: zwei Strophen, acht Verse, mit klarer Pointe in Vers 7–8.

Die Schönheit liegt in der Kürze und Verdichtung: medizinische Metapher, rhetorische Frage, und am Ende das scharf geschliffene Bild des Skorpions.

Die Ästhetik lebt von Antithese und Kontrast (Heilkunst der Ärzte – Unheil der Liebe; Gift – Gegengift), wodurch eine harmonische Spannung entsteht.

Der Klangfluss durch Alliteration (Gifft und Gegen-Gifft) verstärkt die poetische Prägnanz.

Rhetorische Dimension

Das Gedicht ist stark rhetorisch geprägt:

Exordium: Berufung auf die klugen Ärzte – Autoritätseinführung.

Rhetorische Frage (V. 3–4): Verstärkt das Paradoxe, dass die universale Heilkunst an der Liebe scheitert.

Antithese: Liebe ist zugleich Ursache und Heilung.

Metapher und Bildlichkeit: Herz als Sitz des Schmerzes; Skorpion als Sinnbild der gefährlichen, aber selbstheilenden Macht.

Epigrammatischer Schluss: Die Pointe in V. 7–8 verleiht dem Gedicht aphoristischen Charakter.

Metaebene

Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht die Grenzen menschlicher Rationalität und Wissenschaft: selbst höchste ärztliche Kunst (Symbol für Vernunft und empirisches Wissen) ist unfähig, das existentiell-menschliche Leiden an der Liebe zu lindern.

Nur die Liebe selbst, in ihrer paradoxen Doppelgestalt, bietet Heilung. Damit erhebt das Gedicht eine poetische Wahrheit über die medizinische und rationale hinaus – es ist eine Selbstvergewisserung der Poesie als Erkenntnisform.

Poetologische Dimension

Poetologisch inszeniert Aßmann die Dichtung als Ort der Paradoxien.

Der Vers 7–8 macht den Text selbst zum Gegengift: die sprachliche Verdichtung fasst die Erfahrung in ein Bild, das Heilung im Erkennen anbietet.

Poesie ist hier gleichsam medizinisches Reden: sie kann nicht die Krankheit beseitigen, aber sie gibt Sinn und Form.

Durch den Skorpion-Vergleich wird sichtbar, dass Dichtung gerade aus dem Giftstoff der Existenz ihre stärksten Bilder gewinnt.

So zeigt sich ein poetologisches Selbstverständnis: Poesie als Transformation des Schmerzes in geistige Erkenntnis.

Fazit

Abschatz’ Gedicht entfaltet in knapper Form ein barockes Paradox:

Liebe als universale Krankheit und universales Heilmittel.

Der Aufbau führt vom Lob der ärztlichen Kunst über die Diagnose ihrer Grenzen bis zur Offenbarung eines tieferen Gesetzes: Liebe heilt sich nur durch Liebe.

So verdichtet sich hier barocke Weltsicht in höchster Pointierung: Die Verwundung durch Liebe ist unvermeidbar – und zugleich ist in derselben Kraft das Heil verborgen.

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