Die Kuß-Scheue
Du stellest dich so wilde1
Wenn ich dich küssen will:2
Wilt du dich nennen milde/3
So weigre dich nicht viel.4
Allmosen bald empfangen5
Ist einstens noch so lieb/6
Als was man muß erlangen7
Durch langen Bittens Trieb.8
Verziehestu zu geben/9
Was du doch loß wilt seyn?10
Ich wills mit Wucher heben11
Und doppelt bringen ein.12
Du würdest meiner spotten13
Ließ ich dich gehn vorbey/14
Und sagen/ daß zum Gutten15
Ich viel zu furchtsam sey.16
Drum Cloris laß dich küssen;17
Und soltest du zum Schein18
Dich widersetzen müssen:19
Es muß geküsset seyn.20
1 Du stellest dich so wilde
Das reflexive stellest dich verweist auf eine Haltung, ein Sich-Geben oder eine bewusst inszenierte Pose. Wilde trägt in barocker Liebeslyrik eine doppelte Konnotation: es bezeichnet sowohl ein ungezügeltes Temperament (Wildheit im Sinne von Leidenschaft) als auch ein abweisendes, ungebändigtes Verhalten.
Das so verstärkt hyperbolisch, die Aussage wirkt wie ein Vorwurf. Gleichzeitig wird ein Ton von ironisch-liebevoller Klage angeschlagen, der typisch für galante Dichtung ist.
Der Sprecher beschreibt die Geliebte als sich widersetzend. Schon hier wird die zentrale Spannung des Gedichts aufgerufen: Verlangen nach Nähe und Widerstand der Angesprochenen.
2 Wenn ich dich küssen will:
Der konditionale Nebensatz (wenn) stellt die Situation in einen hypothetischen Rahmen, doch zugleich handelt es sich um eine sehr konkrete Handlung: den Kuss. Das Verb küssen steht exponiert am Satzende und bildet so den semantischen Höhepunkt.
Der Kolon öffnet die Erwartung. Es entsteht ein Spannungsmoment: die Bedingung ist klar, aber die Reaktion der Geliebten bleibt zunächst offen.
Hier wird das Begehren explizit benannt. Der Kuss fungiert als Symbol für Nähe, Intimität und Erfüllung der Minne.
3 Wilt du dich nennen milde/
Wilt zeigt den älteren Modus des Wollen-Verbs, wodurch ein konditionaler Appell entsteht. Milde ist ein Schlüsselwort der barocken Liebessprache: es steht nicht nur für Sanftmut, sondern auch für gnädiges Entgegenkommen.
Das Enjambement (durch die Schrägstrichmarkierung) erzeugt eine Verzögerung. Der Leser/Hörer muss das Ende der Bedingung im nächsten Vers erwarten, was die Spannung steigert. Zudem findet eine Apostrophe statt: die direkte Ansprache der Geliebten in rhetorisch-argumentativer Form.
Der Sprecher appelliert an das Selbstbild der Geliebten: wer milde sein möchte, muss das Begehren zulassen. Das bringt eine subtile Argumentation ins Spiel, die die Geliebte in die Logik der Rede hineinzieht.
4 So weigre dich nicht viel.
So schließt den Bedingungssatz und bringt das Resultat. Weigre (verweigern) ist ein Schlüsselwort des Abweisens, durch das nicht viel relativiert wird: ein Rest von Widerstand wird zugestanden, aber maßvoll.
Die direkte Imperativform wirkt autoritativ und zugleich spielerisch, da das nicht viel die Strenge ironisch abschwächt. Typisch barock ist die Antithese zwischen milde und weigre.
Der Sprecher formuliert ein Werden-Sollen: Die Geliebte möge ihr Abweisen mäßigen, damit das Spiel der Liebe gelingen kann. Die Spannung zwischen Verweigerung und Hingabe wird klar auf eine höfische Mitte hin kanalisiert.
5 Allmosen bald empfangen
Das Substantiv Allmosen verweist auf den religiös-caritativen Bereich, traditionell ein Zeichen christlicher Mildtätigkeit. Durch die Verbindung mit bald (im Sinne von sogleich, ohne Umstände) entsteht ein Kontrast: das, was man gewöhnlich erbettelt, wird hier rasch gewährt.
Der Vers arbeitet mit einer leichten Paradoxie: Almosen sind normalerweise das, was man in Demut erbittet; hier aber steht das Moment des unmittelbaren Empfangens im Vordergrund. Damit wird ein antithetisches Spannungsfeld aufgebaut zu dem, was in den Folgeversen geschildert wird (das lange Bitten).
Im Kontext des Gedichts wird die Metapher vom Allmosen auf den Kuss übertragen. Der Liebeskuss erscheint wie eine Gabe, die die Geliebte aus freiem Willen austeilen könnte, ähnlich einer frommen Spende.
6 Ist einstens noch so lieb,
Einstens bedeutet hier immer, von jeher – es verleiht dem Gedanken eine gewisse Allgemeingültigkeit, fast wie ein Sprichwort.
Der Vers hat eine klärende, bestätigende Funktion: er behauptet eine Wahrheit, die wie eine Maxime wirkt. Durch die Kadenzen (weiblich, also sanft auslaufend) entsteht zudem eine fast aphoristische Geschlossenheit.
Der Dichter sagt, dass etwas sofort Gewährtes genauso angenehm ist wie etwas, das man erst durch Mühe erlangt. In Bezug auf die Liebessituation: der Kuss, wenn er leicht zugänglich ist, hat denselben Wert, wie wenn er nach langen Bitten gegeben wird.
7 Als was man muß erlangen
Die Konstruktion als was man muß erlangen wirkt altertümlich, fast sperrig. Das Modalverb muß signalisiert Zwang, Notwendigkeit und zugleich den Prozess des Erlangens, das auf Anstrengung verweist.
Der Vers bildet die Kehrseite zum vorausgehenden Gedanken. Es ist ein klassisches Stilmittel der Antithese: sofortige Gabe vs. mühseliges Erbitten.
Hier wird betont, dass man manches nicht sofort erhält, sondern sich durch Drängen, Bitten oder Werben erst erwerben muß. Im Liebeskontext: Der Kuß ist nicht frei gegeben, sondern muss wie eine Beute oder ein schwer errungenes Gut erlangt werden.
8 Durch langen Bittens Trieb.
Die Formulierung langen Bittens Trieb bündelt in einem kondensierten Ausdruck den Prozess des anhaltenden Flehens. Das Substantiv Trieb hat eine Doppeldeutigkeit: einerseits Antrieb, Bestrebung, andererseits erotische Konnotation.
Durch die Binnenhäufung (Alliteration: Bittens – Bald im weiteren Kontext; Assonanz von -ieben/-ieb) wird der Vers klanglich markant. Der Ausdruck steigert die Spannung: es geht nicht um ein einfaches Bitten, sondern um eine getriebene, wiederholte Handlung.
Der Liebhaber muss seine Bitte nach einem Kuss lange fortsetzen, fast schon wie ein Bittsteller am Hof oder wie ein Bettler vor der Kirche. Damit wird das Motiv des Kuß-Scheuens der Geliebten verdeutlicht: sie zögert, verweigert, macht das Erringen zur Mühe.
9 Verziehestu zu geben
Das veraltete Verziehestu bedeutet hier zögerst du oder haderst du – es ist eine höflich-fragende, aber zugleich leicht tadelnde Anrede. Die Konstruktion mit der Endung -estu macht den Ton bewusst intim, beinahe neckisch.
Rhetorische Frage: Das lyrische Ich stellt die Frage nicht, um eine wirkliche Antwort zu bekommen, sondern um die Geliebte zu beschämen oder spielerisch unter Druck zu setzen. Durch die zweite Person wird eine direkte Dialogsituation inszeniert.
Der Sprecher wundert sich über das Zögern der Geliebten, ihm den Kuss zu gewähren. Es geht um das Paradox, dass sie etwas verweigert, das sie eigentlich – so seine Behauptung – preiszugeben bereit ist.
10 Was du doch loß wilt seyn?
loß seyn = los sein im Sinne von frei werden von; zugleich klingt loß wie eine ökonomische Metapher (als ob sie eine Bürde abwerfen möchte). Orthographisch wirkt das loß aufgeladen durch die Doppel-s-Schreibung.
Wieder eine rhetorische Frage, die den Widerspruch zwischen Wollen und Zögern betont. Durch die Antithese (zögern – eigentlich loswerden wollen) wird Spannung erzeugt.
Der Sprecher behauptet: Die Geliebte selbst wolle eigentlich das Geben (den Kuss) los sein – warum also das Zaudern? Hier tritt eine subtile psychologische Strategie auf: die Umdeutung des Zögerns als innerer Widerspruch, den der Sprecher auflösen möchte.
11 Ich wills mit Wucher heben
Das Wort Wucher ist ökonomisch stark besetzt: übermäßiger Gewinn, unrechtmäßige Steigerung. Das Verb heben bedeutet hier entgegennehmen, empfangen. Damit wird eine Ökonomie der Zärtlichkeiten aufgebaut.
Metapher aus der Geld- und Handelswelt: der Kuss wird als Kapital verstanden, das nicht einfach verschwindet, sondern vermehrt zurückkehrt. Hier wird spielerisch mit ökonomischer Bildlichkeit gearbeitet.
Der Sprecher verspricht, dass er den empfangenen Kuss mit Wucher, also überreich, zurückgeben wird. Damit kehrt er die Logik der Verweigerung um: was sie gibt, verliert sie nicht, sondern es wächst ihr sogar zurück.
12 Und doppelt bringen ein.
Die Wendung bringen ein bedeutet hier einbringen, ertragreich machen. Die ökonomische Sprache wird fortgeführt. doppelt verstärkt den Effekt – es geht nicht nur um Wucher im Allgemeinen, sondern um eine konkret verdoppelte Rückgabe.
Parallelismus zum vorherigen Vers: Ich wills mit Wucher heben / Und doppelt bringen ein. Der Gleichklang der Syntax verstärkt die Überzeugungskraft, wirkt fast wie ein Argument in einer Handelsverhandlung.
Die Argumentation kulminiert: Der Kuss ist kein Verlust, sondern ein Gewinngeschäft. Die Geliebte wird aufgefordert, ihr Zögern aufzugeben, da sie von der Transaktion sogar profitiert.
13 Du würdest meiner spotten
Das Personalpronomen Du setzt direkt an beim Gegenüber, in einem vertrauten, ja beinahe anklagenden Tonfall. Spotten ist ein stark wertendes Verb, das die Furcht vor öffentlicher oder privater Bloßstellung zum Ausdruck bringt.
Ein hypothetisches Szenario wird eröffnet (Konditional würdest), das die Erwartung einer Handlung des Anderen ins Zentrum stellt – der Sprecher entwirft ein Gegenbild seiner eigenen Zögerlichkeit.
Der Sprecher antizipiert die Reaktion der Geliebten: Nicht bloß Ablehnung, sondern Verhöhnung. Das zeigt den inneren Konflikt: nicht nur vor Zurückweisung Angst zu haben, sondern vor Verlust der Würde.
14 Ließ ich dich gehn vorbey/
Der Konjunktiv Ließ ich knüpft an den hypothetischen Modus an. Gehn vorbey ist schlicht, fast lapidar, doch gerade diese Nüchternheit hebt die Situation hervor: die Geliebte vorbeiziehen zu lassen, ohne zu handeln.
Die Fortführung der Bedingung aus V. 13 wirkt wie eine kleine Klimax: Spotten ist schlimm – aber nur dann, wenn er sie auch tatsächlich ungeküsst vorbeiziehen ließe. Damit steigert sich die Dramatik.
Die Handlungslosigkeit des lyrischen Ichs wird als Ursache seiner eigenen Demütigung vorgestellt. Nicht das aktive Handeln bringt Schande, sondern das Versäumen.
15 Und sagen/ daß zum Gutten
Zum Gutten markiert eine positiv bewertete Handlung (den Kuss, die Annäherung) im distanzierenden Dativ (zum). Die Verschleierung durch die allgemeine Bezeichnung Gutten zeigt die Scheu, das eigentliche Begehren offen auszusprechen.
Einschub in direkter Rede (Und sagen…) als dramatische Simulation: der Sprecher führt die Worte der Geliebten in indirekter Rede vor, als ob er ihr Urteil schon vorwegnähme.
Die Geliebte wird zur Stimme der Anklage: nicht weil er zu forsch wäre, sondern weil er zu zurückhaltend sei. Damit kehrt sich das höfische Rollenmodell um: nicht Kühnheit, sondern Zögerlichkeit macht schuldig.
16 Ich viel zu furchtsam sey.
Die Selbstzuschreibung Ich … sey fixiert im Konjunktiv die angenommene Fremdbeurteilung. Das Adjektiv furchtsam bündelt die gesamte Thematik der Strophe.
Der Satz schließt als Pointe: das Urteil fällt über den Sprecher selbst, aber vermittelt durch den Blick der Geliebten. Es entsteht eine indirekte Selbstanklage, die zugleich Entschuldigung und Begehren enthält.
Das Paradox: Was in moralischer Hinsicht positiv sein könnte (Zurückhaltung, Zucht), wird hier zum Makel. Der Sprecher weiß, dass er durch zu viel Scheu das eigentliche Ziel – Liebe, Nähe – verfehlt.
17 Drum Cloris laß dich küssen;
Drum (konsekutiv, verkürzt aus darum) bindet den Vers argumentativ an das Vorhergehende: Es wurde bereits ein Grund geliefert, jetzt folgt die Folgerung. Cloris ist ein konventionalisierter Hirtinn-Name der bukolischen Tradition (Chloris/Flora), der die Szene pastoral und spielerisch markiert. Imperativform laß dich…: periphrastische Passivaufforderung (reflexivische Passiv-Nähe), weichere Variante gegenüber einem harten laß mich dich küssen oder küsse mich.
Apostrophe (direkte Anrede), gepaart mit paränetischer Imperativstruktur. Der Schlussreim-Klang küssen bereitet das Ringmotiv (Wiederkehr in V. 20) vor; Anadiplose-Effekt im Klangfeld küss-/geküsset.
Der Sprecher führt vom Argument zum Begehren: Aus zuvor behaupteter Logik folgt eine Handlungsnorm (ergib dich dem Kuss). Die Rollenzuweisung ist asymmetrisch: Er verfügt Aufforderungsmacht, sie soll sich lassen.
18 Und soltest du zum Schein
Konditionalgefüge solltest du… (Irrealis-Höflichkeit, deontische Färbung) mildert vordergründig, bleibt aber lenkend. zum Schein adverbial: markiert bloßes Erscheinungsverhalten (Konventionalgestus).
Prolepsis: Antizipation eines Einwands (ihr Widerstand). Gleichzeitig Paranthese des sozialen Codes: Es wird eine Bühne benannt, auf der das Verhalten bloß gespielt ist.
Der Sprecher räumt gesellschaftlichen Anstand (Scham/Schicklichkeit) ein, neutralisiert ihn aber, indem er ihn als Fassade etikettiert. Das legt die Regieanweisung offen: Coyness ist erwartetes Ritual, kein echtes Nein.
19 Dich widersetzen müssen:
widersetzen mit reflexiver Komponente unterstellt aktive Gegenwehr; das Modalverb müssen verkehrt diese Gegenwehr in Pflichterfüllung. Semantische Spannung: Widerstand als Pflicht, nicht als Wille.
Polyptoton des Pflicht-Motivs (solltest…, müssen, später muß), das die Notwendigkeitssemantik staffelt. Der Doppelpunkt erzeugt Aposiopese-Spannung und leitet zur sententiosen Pointe über.
Der Vers rahmt weibliche Neins als gesellschaftlich auferlegte Performanz. Das verschiebt die Deutungshoheit: Nicht sie entscheidet, sondern der Kodex schreibt vor, wie sie sich zum Schein verhalten soll.
20 Es muß geküsset seyn.
Unpersönliche, modale Notwendigkeitskonstruktion mit Passiv/Prädikativ (Es muß … sein) und archaisierender Partizipform geküsset (Barock-Färbung). Gnomisch-apodiktische Kürze; Endreim/Endkadenz schließt kreisförmig an küssen (V. 17) an.
Sententia/Gnome als Schlussstein; Anankasm (Appell an das Notwendige) ersetzt persönliches Begehren durch schein-objektive Gesetzlichkeit. Die Epiphora des Kuss-Lexems (17/20) schafft einen Rahmen (Inklusio).
Der individuelle Wunsch wird als Natur-/Sitten-Gesetz verallgemeinert: Nicht ich will, sondern es muß. Damit wird Zustimmung semantisch umcodiert: Das Ereignis gilt als unvermeidlich, Widerrede als bloßer Schein.
1. Ansatz und Selbstbild der Geliebten (V. 1–4): Der Sprecher benennt das Problem (Kuß-Scheue) und greift sofort zur Identitätsargumentation: Wer milde sein wolle, solle sich nicht verweigern. Die Werbung beginnt als höfische, scheinbar leichte Korrektur eines Selbstbilds.
2. Gabe vs. Erwerb (V. 5–8): Das Register wechselt in eine Ökonomie der Zuneigung: Ein Kuss als Almosen (sofortige Gabe) ist ebenso lieb wie einer, den man nur durch langes Bitten erlangt. Das stellt Gnade (unverdiente Gabe) gegen Verdienst (erkämpfter Lohn) und bereitet den moralischen Druck vor: Warum das Gute verzögern?
3. Verzögerung, Verlustangst und Zins-Metapher (V. 9–12): Das Zögern der Adressatin erscheint unlogisch (willst es doch los sein). Der Sprecher verspricht Überkompensation: Er werde die Gabe mit Wucher heben und doppelt bringen ein. Die Werbung kippt ins kalkulatorische Tauschversprechen.
4. Scham- und Spottargument (V. 13–16): Nun droht soziale Sanktion: Lässt er sie vorübergehen, würde sie ihn für zu furchtsam halten. Das erhöht die Dringlichkeit, verschiebt den Fokus von ihrem Begehren auf seine Reputation.
5. Schlusszwang und Rollenspiel (V. 17–20): Namentliche Anrede (Cloris) inszeniert das pastorale Galanteriespiel. Selbst wenn Widerstand zum Schein nötig ist, lautet das Telos: Es muß geküsset seyn. Das Gedicht schließt mit einer behaupteten Notwendigkeit (muss), nicht mit wechselseitigem Einverständnis.
Compliance-Taktiken in Kaskade: Identitätsappell (milde), Nutzenargument (sofort vs. später), Reziprozität (doppelt zurückgeben), Loss Aversion (Spott, Verpassen), Normativer Druck (zum Schein widersprechen, aber nachgeben).
Rahmung der Situation: Der Kuss wird nicht als Begegnung zweier Wünsche, sondern als zu optimierende Transaktion gefasst. Dadurch reduziert der Sprecher die Autonomie der Adressatin zu einem Parameter in seiner Kalkulation.
Ambivalente Kuß-Scheue: Im barocken Konversationscode kann Zier-Widerstand ein Spiel der Koketterie sein. Psychologisch bleibt das jedoch ambivalent: Das Gedicht nimmt an, dass Nein performative Zier ist; es prüft diese Annahme nicht.
Affektökonomie: Zeitdruck (bald vs. langer Bittens Trieb) und Überbietungsversprechen (doppelt) stimulieren Impulsivität – ein typischer Mechanismus, um Zögern zu überfahren.
Consent und Rollencode: Innerhalb der frühneuzeitlichen Galanterie mag zum Schein-Widerstand ein konventionelles Spiel sein; aus heutiger Perspektive bleibt der Übergang von Spiel zu Druck problematisch. Der Schlussimperativ (es muß) instrumentalisiert das Gegenüber.
Wortfeld der Wohltätigkeit: Almosen, milde codieren Tugendethik; der Sprecher moralisiert die Bereitschaft der Adressatin: Verweigerung erscheint als Mangel an Mildtätigkeit. Das ist ethisch schief, weil es die Verantwortung verschiebt.
Wucher-Metapher: Usurische Zinsen gelten in der christlichen Morallehre traditionell als Laster; im Gedicht wird die Norm ironisch unterlaufen (ich zahl’s mit Wucher). Rhetorisch witzig, ethisch jedoch ein Trick, der Lasterrede zur Verbrämung von Druck nutzt.
Shaming-Risiko: Die Drohung des Spottes (du würdest meiner spotten…) arbeitet mit Scham als Hebel – ein fragwürdiges Mittel, weil es soziale Angst statt freier Zustimmung mobilisiert.
1. Gnade vs. Verdienst (sola gratia vs. Werkgerechtigkeit): Die Gegenüberstellung Almosen bald empfangen vs. durch langen Bittens Trieb erlangen spiegelt eine Heilslogik: unverdiente Gnade vs. mühsam erworbener Verdienst. Erotisch profaniert wird die Gnade zum Kuss, der ohne Werke (Bitten) gewährt werden soll. Das ist barocke Sakralparodie: religiöse Semantik dient weltlicher Werbung.
2. Donum und Debitum (Gabe/Schuld): Durch Wucher und doppelt bringen ein wird die Gabe zur Schuldbeziehung. Philosophisch verkehrt das die Logik reiner Gabe (die keine Gegenleistung fordert) in eine Tauschordnung – ein Hinweis auf die Inkompatibilität zwischen Agape (unbedingte Liebe) und Eros als Kalkül.
3. Notwendigkeit vs. Freiheit: Das finale Es muß geküsset seyn behauptet Teleologie: als ob Naturgesetz, Gattungsnorm oder Dramengesetz diese Vollziehung erzwinge. Gegen die Ethik freier Willensbejahung steht hier ein fiktionaler Fatalismus der Komödie: das Happy-End als Normdruck.
4. Tugendsemantik als Rhetorik-Maske: Milde ist klassisch-christliche Tugend (Barmherzigkeit). Im Text wird sie zur Selbstkonsistenzfalle: Wer sich mild nennt, muss den Kuss gewähren. Philosophisch ist das eine Pragmatik der Zuschreibung: Identität wird als performative Verpflichtung missbraucht.
5. Zeitlichkeit der Begierde: Der Vorrang des Bald gegenüber dem langen Bitten übersetzt eine hedonistische Gegenwartslogik in moralische Sprache. Theologisch kollidiert das mit der askētischen Schule des Aufschubs (Maß, Zucht, discernere). Der Text präferiert Soforterfüllung, legitimiert durch Schein-Gnade.
6. Sprache als Machttechnik: Die Dichte von Imperativen, rhetorischen Fragen und ökonomischen Tropen zeigt Sprache als Werkzeug der Verfügung. Philosophisch eröffnet sich hier eine Sprachkritik (von Pascal bis La Rochefoucauld): Moralwörter fungieren als Decknamen für Interessen.
Aus anthroposophischer Perspektive zeigt das Gedicht den Widerstreit zwischen Triebnatur und Vergeistigung.
Der Kuss erscheint nicht nur als erotisches Spiel, sondern als Ausdruck des Übergangs vom Egoismus zur Begegnung zweier Seelen.
Das Weigern der Geliebten trägt den Charakter einer Initiation: erst durch die Zurückhaltung und das scheinbare Hindernis wird das Begehren geläutert, verwandelt in eine schöpferische Kraft.
Der Sprecher pocht auf das Gesetz der Begegnung, in dem auch Widerstand Teil des Spiels ist. Anthroposophisch gelesen ist Cloris eine Gestalt der Natur (Flora, Frühling), deren Zurückhaltung das Bewusstsein des Begehrenden weckt und in den Prozess der Selbsterkenntnis führt.
Das Gedicht spiegelt also die Transformation vom bloßen Naturinstinkt hin zu einer bewussteren Form von Vereinigung.
Ästhetisch zeigt sich das Gedicht im barocken Stilspiel: leichte, tänzerische Strophen, ein dialogischer Ton, der nicht tragisch, sondern verspielt wirkt.
Das Thema des Kusses wird als Miniatur-Drama dargestellt, in dem Spannung, Widerstand und Auflösung in einer klaren dramaturgischen Bewegung verlaufen: von der anfänglichen Abwehr (V. 1–4), über den Vergleich mit Almosen und Zögern (V. 5–12), hin zu sozialer und moralischer Furcht vor Spott (V. 13–16), bis zur emphatischen Schlusswendung (V. 17–20).
Die barocke Ästhetik lebt vom reizvollen Spiel aus Ernst und Leichtigkeit: die Sprache bleibt geschmeidig, formbewusst und rhythmisch geordnet, während das Thema selbst zugleich heiter und pikant ist.
Rhetorisch baut der Sprecher sein Begehren mit verschiedenen Strategien auf:
Captatio benevolentiae: er stellt die Weigerung als übertriebene Strenge dar (stellest dich so wilde).
Vergleich: das Geben eines Kusses wird mit Almosen verglichen, die umso lieber seien, wenn sie ohne langes Bitten gegeben werden.
Ökonomische Metaphorik: er kündigt an, die Gunst mit Wucher heben und doppelt bringen zu wollen – eine rhetorische Verkehrung von ökonomischer Logik ins Erotische.
Warnung vor Spott: wenn sie verweigert, könne sie selbst zum Anlass werden, dass man den Sprecher für furchtsam hält.
Performativer Imperativ: der Schluss (V. 17–20) zwingt die Handlung (Es muß geküsset seyn) – eine performative Redehandlung, die im Sprechen zugleich das Ziel zu vollziehen beansprucht.
Die Rhetorik changiert zwischen Bitte, Argument und performativem Anspruch – typisch barockes Redehandwerk im Miniformat.
Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht über das Verhältnis von Spiel und Ernst in Liebesdichtung selbst.
Die Kuß-Scheue ist weniger ein reales Erlebnisbericht, als ein literarisches Rollenstück: ein Sprecher agiert vor der Leserschaft, stellt seine List, seine Argumente und sein poetisches Können aus.
So wird das Thema des Kusses zur Bühne für poetische Rhetorik und kulturelles Liebesspiel.
Die Geliebte (Cloris) ist ein literarisches Topos, eine Projektionsfigur, die dem Dichter ermöglicht, die kunstvolle Spannung von Weigerung und Vollzug in Szene zu setzen.
Damit reflektiert das Gedicht zugleich das eigene Wesen: Liebesdichtung lebt vom Widerstand, von der Distanz, vom gespielten Nein, das erst das poetische Ja vorbereitet.
Poetologisch zeigt das Gedicht, wie Lyrik des Barock zwischen Konvention und Innovation operiert.
Die Wahl des Themas – der verweigerte, dann erzwungene Kuss – ist ein klassisches Motiv petrarkistischer und bukolischer Dichtung. Aßmann zeigt hier sein Bewusstsein für die Kunstform selbst: Die Geliebte ist weniger Person als Anlass für das rhetorische Kunststück.
Der Kuss selbst wird als poetischer Akt begriffen: was im Leben nur ein Augenblick wäre, dehnt sich im Gedicht über 20 Verse aus, mit Vergleichen, Argumenten, Metaphern.
Das Gedicht demonstriert die Fähigkeit, einen banalen Vorgang (einen Kuss) in poetische Form zu überführen – und gerade darin liegt seine Selbstbehauptung als Kunstwerk.
Es ist auch ein poetologisches Spiel mit der Grenze von Muss und Kann: Das Es muß geküsset seyn verweist auf den Anspruch der Poesie selbst, das Wort in Tat zu verwandeln.
Das Gedicht ist ein barockes Miniaturdrama der Erotik: scheinbarer Widerstand, poetische Argumentation, ironische Vergleiche und performativer Abschluss.