LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 15 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

Bedörnte Rosen

Rosen blühn auff deinen Wangen/1
Liljen führt die Stirne mit;2
Aber den/ der nahe tritt/3
Stechen Dornen/ Bienen/ Schlangen.4

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Rosen blühn auff deinen Wangen/

Sprachlich: Das Bild der Rosen auf den Wangen evoziert unmittelbar die traditionelle Metaphorik der roten Gesichtsfarbe, also jugendliche Frische, Schönheit und Lebenskraft. Der Ausdruck blühn unterstreicht die Vitalität, es handelt sich um ein Präsens mit generischer Geltung.

Rhetorisch: Die Rose ist ein emblematisches Topos der frühneuzeitlichen Lyrik; hier als Metapher und Allegorie eingesetzt. Ihre Stellung am Versbeginn (Initialposition) wirkt emphatisch, die Blüte als Sinnbild des strahlenden Äußeren. Das Motiv spielt zugleich mit der klassischen Liebesrhetorik.

Inhaltlich: Der Vers etabliert die sinnliche Schönheit des lyrischen Objekts, deutet aber auch bereits auf die Ambivalenz: Die Rose ist nicht nur schön, sondern auch dornig. Die Wangen sind ein traditionelles locus der erotischen Betrachtung, zugleich aber Ort der Vergänglichkeit (welkende Rosen).

2 Liljen führt die Stirne mit;

Sprachlich: Der Ausdruck Liljen verweist auf die weiße Reinheit und Unschuld. Die Stirn trägt (führt mit) die Lilien, was eine Art Schmuck oder Krönung andeutet. Das mitführen verweist auf eine Zutat zur Gesamterscheinung.

Rhetorisch: Es wird eine Farbsymbolik kontrastiert: Rot (Rose) vs. Weiß (Lilie) – eine poetische Binärfigur, die Reinheit und Leidenschaft, Unschuld und Sinnlichkeit verbindet. Damit wird eine typische emblematische Antithese eingesetzt.

Inhaltlich: Schönheit und Reinheit werden kombiniert. Das Gesicht ist zu lesen wie ein florales Arrangement, das Tugend (Stirn = Vernunft, Ehre) mit Leidenschaft (Wangen = Liebe, Glut) verbindet.

3 Aber den/ der nahe tritt/

Sprachlich: Der Einschub Aber markiert eine Zäsur: nun folgt die Umkehrung der zuvor etablierten Schönheit. Die syntaktische Struktur (den/ der nahe tritt) evoziert eine Bedingung, die fast sprichwörtlich wirkt.

Rhetorisch: Der Vers eröffnet die Antithetik, er funktioniert wie eine apodiktische Warnung. Durch die Verschiebung den/ der wird der Fokus verstärkt: es geht nicht mehr um das Bildhafte, sondern um die Erfahrung des Betrachters.

Inhaltlich: Die Schönheit ist nicht nur zum Schauen da, sondern sie birgt eine Grenze: die Annäherung an das Objekt der Begierde hat Konsequenzen. Damit wird eine Bewegung von Fernwirkung (Schauen) zu Nahwirkung (Gefährdung) vollzogen.

4 Stechen Dornen/ Bienen/ Schlangen.

Sprachlich: Dreifach-Aufzählung mit stakkatoartigem Rhythmus (Dornen/ Bienen/ Schlangen) – eine Steigerungsfigur von pflanzlich (Dornen) zu tierisch (Bienen) und schließlich symbolisch-giftig (Schlangen).

Rhetorisch: Die Trikolon-Struktur steigert die Bedrohung, wobei die Alliteration im S-Laut (Schlangen/ Stechen) eine zischende, bedrohliche Klangfarbe erzeugt. Zugleich eine Emblematik des Memento: Schönheit ist gefährlich.

Inhaltlich: Die Warnung kulminiert: Wer der Schönheit zu nahe kommt, wird verletzt oder vergiftet. Die Metaphorik kippt ins Gefährliche, ja Teuflische (Schlange = Erbsünde, Verführung). Damit wird die Schönheit doppeldeutig: sie lockt und bedroht zugleich.

Organischer Aufbau und Verlauf

1. Exordium (V. 1–2): barockes Schönheitsinventar – Rosen (Wangen) und Liljen (Stirn) rufen das klassische Rot-Weiß-Ideal auf. Beides sind zugleich Sinnbilder (Eros/Blüte, Unschuld/Reinheit). Die Formulierung führt die Stirne mit markiert ein Tragen/Zur-Schau-Stellen von Reinheit (Emblemcharakter).

2. Wende (V. 3): das harte Aber – Der semantische Kipp-Punkt: Wer nähert, erfährt eine abrupte Bedeutungsumkehr der Embleme. Das Gedicht ist antithetisch gebaut: Fernsicht (Anmut) ↔ Nahsicht (Gefahr).

3. Peripetie (V. 4): dreifache Verwundung – Die asyndetische Trias Dornen/ Bienen/ Schlangen steigert sich von pflanzlich (Dornen: stachelig, aber vertraut) über tierisch-sozial (Bienen: süß/honigreich, doch mit Stachel) bis dämonologisch-mythisch (Schlangen: Gift, List, Eden). Der einheitliche Prädikatverb stechen presst die unterschiedlichen Verletzungsarten in eine gemeinsame Affektwirkung (Schmerz, Abwehr). Lautlich verdichten S-Laute (Stechen, Schlangen, Stirne) ein zischendes Gefahrensignal.

4. Konzision/Pointierung – Vier Verse entfalten ein Emblem-Dreischritt: (a) Pictura (Rosen/Lilien), (b) Subscripto (Aber: Deutungskorrektiv), (c) Moralische Sentenz (Trias der Abwehr). Das ist epigrammatisch geschlossen und organisch steigernd.

Psychologische Dimension

1. Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt: Das Gedicht modelliert die Dynamik von Begehren (Anziehung durch Schönheit) und Angst (Schmerzandrohung). Begehrensobjekt = Ambivalenzfigur.

2. Nähe als Prüfstein der Projektion: Aus der Distanz funktioniert die Idealisierung (Rosen/Lilien). In der Nähe kollabiert sie – die Realitätsprüfung setzt ein (Dornen/Bienen/Schlangen).

3. Grenzsemantik: Der nahe tritt überschreitet eine Sphäre. Die Wunden markieren psychologisch Grenzen (Schutzreaktion des Gegenübers oder psychische Abwehr des lyrischen Ichs gegen eigene Triebregung).

4. Süße und Stachel: Die Biene steht für Belohnung mit Kosten (Honig/Stachel) – eine präzise Metapher für ambivalente Bindungserfahrungen: Nähe verspricht Süße, riskiert Verletzung.

5. Projektive Umkehr: Mögliche Selbstschutz-Rationalisierung: Das Ich verschiebt das Risiko (eigene Unbeherrschtheit) auf das Objekt (Schlange als externalisierte Schuldfigur).

Ethische Dimension

1. Prudentia (Klugheit) statt Naivität: Das Gedicht erzieht zu Vorsicht: Nicht der erste Glanz ist normativ maßgeblich.

2. Respekt vor Grenzen: Nahe tritt kann als Überschreitung gelesen werden; Dornen/Bienen/Schlangen fungieren dann als legitime Schutzzeichen. Ethik der Zustimmung und Distanzwahrung.

3. Schein und Sein: Lilie an der Stirn kann authentische Reinheit oder bloßes Emblem sein. Ethisch gefordert: Prüffähigkeit (discretio) gegenüber Reputationssymbolen.

4. Maß (temperantia): Wer sich von Rot-Weiß-Kontrasten ungebremst leiten lässt, verfehlt Selbstmaß und Rücksicht – die Stiche sind Konsequenzen des Unmaßes.

5. Verantwortung der Darstellung: Wer Lilien führt, trägt Verantwortung, keine trügerische Signatur abzugeben; wer sich nähert, trägt Verantwortung, keine Grenzen zu verletzen. Ethik als wechselseitige Achtsamkeit.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Postlapsarische Weltlektüre (Gen 3):

Dornen: Zeichen des Fluches über den Acker (Gen 3,18).

Schlange: Urbild der Versuchung.

Bienen (Ps 118,12): Bild der bedrängenden Menge/ Gefahr, zugleich ambivalente Kreatur zwischen Süße (Honig) und Stachel.

→ Nähe zur Schönheit im gefallenen Zustand ist unweigerlich von Ambivalenz und Risiko gezeichnet.

2. Marianisches vs. evaistisches Symbolfeld:

Lilie = Maria/Unbeflecktheit; Rose = Maria (Rosa mystica) und Leidenschaft.

Die Nahsicht kippt ins Eva-Feld (Schlange). Das Gedicht spielt mit der barocken AVE/EVA-Chiasmatik: eine Figur, die zugleich Heils- und Fall-Semantik trägt.

3. Eros und Passio:

Rosen sind auch Passionssymbol (Dornenkrone).

Nähe zum Schönen kann zur Passion (Leiden) werden: Eros stiftet Wunde; Begehren enthält das Moment der Verletzlichkeit.

In barocker Denkfigur: Süße der Welt ist zugleich Stachel zur Transzendenz (Stich, der auf das Heil verweist).

4. Emblematik als Erkenntniskritik:

Das Gedicht demaskiert Emblem-Lesen als unsicher: Zeichen (Rosen/Lilien) sind polysem.

Philosophisch: Kritik an oberflächlicher Evidenz; Erkenntnis verlangt Nähe – doch Nähe verletzt. Paradox: Erkenntnis kostet.

5. Anthropologie der concupiscentia:

Die Trias bündelt Begierde, Süße, Gift. In augustinischer Linie ist Begehren vermischt (permixta): ohne Abwehr ist der Mensch verwundbar.

Lösung ist nicht asketische Verneinung der Schönheit, sondern ordo amoris: rechte Ordnung des Begehrens.

6. Mythologischer Subtext des Zyklustitels (Anemons und Adonis Blumen):

Adonis = Schönheit, die verwundet (Eberstich), aus Blut wird Blume (Anemone).

Bedörnte Rosen teilt diesen Code: Schönheit als Wunde → Blume als Gedächtnis der Verwundung. Das Gedicht ist eine Mikrometamorphose: Anmut → Stich → Sinn.

7. Ethik der Zeichen:

Lilie an der Stirn – Stirn = Sitz von Vernunft/Wille. Getragene Reinheit kann wahr oder maskiert sein.

Theologisch: Aufruf zur Prüfung der Geister (1 Joh 4,1) – nicht jede Lilie ist Gnade, manches ist Maske.

Anthroposophische Dimension

Die Bildlichkeit des Gedichts lässt sich in einer anthroposophischen Lesart als Hinweis auf die Polarität von Erscheinung und Wesen deuten.

Rosen und Lilien sind archetypische Symbole für die geistige Schönheit des Menschen: die Rose für das Herz, die Liebe, die Hingabe; die Lilie für Reinheit, Klarheit, Vergeistigung.

Doch diese Schönheit wird durch die Warnung der letzten Zeile relativiert: Dornen, Bienen, Schlangen – Symbole für Abwehr, Schmerz und Gefahr.

Anthroposophisch gesehen weist das auf die Realität der Inkarnation: das Geistige tritt in eine Welt, die nicht nur Schönheit, sondern auch Widerstand, Gefährdung, Versuchung kennt.

Die äußere Anmut ist nur die Oberfläche, die tieferen Seelenkräfte sind mit Prüfungen verbunden.

Ästhetische Dimension

Das Gedicht lebt von der starken Farb- und Naturmetaphorik.

Die Wangen als Rosen, die Stirn als Lilie – eine ästhetische Verdichtung von Schönheit in klassischen Topoi barocker Liebeslyrik.

Die ästhetische Spannung entsteht durch den Bruch im vierten Vers: aus der idealisierten Schönheit wird plötzlich Bedrohung.

Das Schöne ist nicht mehr bloß Zierde, sondern zugleich gefährlich.

Ästhetisch zeigt sich hier der barocke Kontrast von Schönheit und Schrecken, von Anmut und Abwehr.

Rhetorisch

Rhetorisch arbeitet das Gedicht mit Antithese und steigernder Aufzählung. Der Aufbau ist zweigliedrig:

Erste Hälfte: Komplimentierende Beschreibung (Rosen, Lilien).

Zweite Hälfte: Umkehr ins Bedrohliche (Dornen, Bienen, Schlangen).

Die Aufzählung der Gefahren ist eine Klimax: von den Dornen (statisch) über die Bienen (aktiv, stechend) bis hin zur Schlange (symbolisch vieldeutig – List, Sünde, Tod).

Die rhetorische Strategie ist also Verführung und Warnung zugleich – eine Liebesrede, die sich selbst konterkariert.

Metaebene

Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht über die Unzuverlässigkeit des äußeren Scheins.

Schönheit ist nicht einfach positiv; sie ist ambivalent, gefährlich, täuschend.

Damit verweist der Text auf ein barockes Grundmotiv: Vanitas. Auch in der Begegnung mit dem Schönen droht Verblendung, Verletzung, Verführung.

Das Gedicht ist also nicht nur Liebesrede, sondern auch Kommentar über die Gefährdung durch Sinnlichkeit und Ästhetik.

Poetologische Dimension

Poetologisch spiegelt das Gedicht die barocke Poetik:

Schönheit wird durch Metaphern der Natur dargestellt (Rosen, Lilien), doch im selben Atemzug dekonstruiert.

Die Sprache selbst hat Dornen: sie verführt mit Lob, doch sie warnt im Umkehrschluss.

Damit weist der Text auf die Funktion der Poesie hin: sie ist nicht bloß Spiegel der Welt, sondern sie enthüllt das Doppelgesicht von Schönheit und Gefahr.

In diesem Sinn wird das Gedicht selbst zum Dornstrauch – es blüht, aber es sticht.

Fazit

Das Gedicht entfaltet in knapper emblematischer Dichte das klassische Motiv der ambivalenten Schönheit: zunächst das Leuchten von Rose und Lilie als Zeichen von Sinnlichkeit und Reinheit, dann der Umschlag in Warnung und Gefährdung.

Sprachlich arbeitet das Gedicht mit Farb- und Pflanzenmetaphorik,

rhetorisch mit Antithese und Trikolon,

inhaltlich mit der Dialektik von Anziehung und Gefahr.

Schönheit erscheint als paradoxes Feld: sie ist Verheißung von Liebe und zugleich Bedrohung durch Verletzung, Verführung und Sünde.

Abschatz komprimiert in vier Versen eine barocke Emblem-Dramaturgie:

Die Fernsicht feiert das klassische Schönheitsdiptychon (Rose/Lilie), die Nahsicht entlarvt dessen Ambivalenz und Grenzcharakter (Dornen/Bienen/Schlangen).

Psychologisch verhandelt der Text Annäherungsängste und Projektionen;

ethisch ruft er zu Klugheit, Maß und Grenzachtung;

theologisch deutet er die postlapsarische Doppelbödigkeit der Weltzeichen und den Verwundungscharakter des Begehrens.

Die Pointe ist kein Misstrauen gegen Schönheit, sondern ein Plädoyer für geprüfte Nähe und einen geordneten Eros, der die Zeichen nicht naiv liest.

Aßmann von AbschatzBedörnte Rosen verdichtet in nur vier Versen die barocke Dialektik von Anmut und Gefahr.

Anthroposophisch zeigt sich die Polarität von geistiger Schönheit und irdischer Prüfung,

ästhetisch der Kontrast von lieblich und bedrohlich,

rhetorisch die antithetische Zuspitzung, metaebenenhaft die Warnung vor dem Schein, poetologisch die Selbstreflexion der Dichtung als doppelschneidige Blume.

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