Liebe und Gegen-Liebe
Worzu dient so süsses Blicken/1
Wenn du bist in nichts verliebt?2
Ists/ daß unser Seufftzer-schicken3
Cloris dir Vergnügen giebt?4
Zwar offt heist das Hertze geben5
Sich begeben seiner Ruh/6
Doch wer immer frey will leben/7
Bringt sein Leben übel zu.8
Schönheit mit Verstand vermählet9
Trifft offt schlechte Gleichheit an:10
Manch getreues Hertz erwehlet11
Was nicht Farbe halten kan:12
Fremde Qual heist Achtung geben13
Was für eine Wahl man thu;14
Doch/ wer unverliebt will leben15
Bringt sein Leben übel zu.16
Liebe/ Cloris/ lieb in Zeiten/17
Liebe was dich wieder liebt/18
Was dir/ ohne Widerstreiten/19
Sein getreues Hertze giebt.20
Lieb' und Gegen-Liebe geben21
Süsse Lust und stille Ruh/22
Wer von Liebe frey will leben23
Bringt sein Leben übel zu.24
1 Worzu dient so süsses Blicken/
Sprachlich: Archaisierendes Worzu (statt wozu); süsses Blicken nutzt das substantivierte Infinitiv/Nomen (das) Blicken im Neutrum, qualifiziert durch das Adjektiv süsses (Affektwert). Das so verstärkt deiktisch.
Rhetorisch: Interrogatio als eröffnende, vorwurfsnahe Frage; captatio über scheinbare Naivität (Worzu dient…?), zugleich Andeutung von Zweckrationalität in Liebesgesten.
Inhaltlich: Der Sprecher problematisiert den Nutzen eines süßen Blickens—also koketter, verheißender Signale—und stellt die Authentizität solcher Zeichen infrage.
2 Wenn du bist in nichts verliebt?
Sprachlich: Inversion (bist … verliebt) zur Emphase; in nichts als strikte Negation (absolut, nicht bloß litotisch).
Rhetorisch: Fortführung der rhetorischen Frage (hypophorische Anlage ohne unmittelbare Antwort), Verstärkung des Vorwurfs durch totale Verneinung.
Inhaltlich: Unterstellung emotionaler Kälte oder Indifferenz: Die Adressatin sendet Liebessignale, empfindet aber keine Gegenliebe—Diskrepanz zwischen Zeichen und Affekt.
3 Ists/ daß unser Seufftzer-schicken
Sprachlich: Ists (Elision) barocktypisch; Kompositum Seufftzer-schicken (orthographisch archaisiert) bildet eine sprechende Metapher: Seufzer als versandte Botschaften. unser kann als pluralis amantium (Kollegialität der Werbenden) oder als poetisches Wir gelesen werden.
Rhetorisch: Metonymie/Periphrase des Werbens durch Seufzer; das Schicken macht aus Affekten soziale Zirkulation/Kommunikation.
Inhaltlich: Die Frage wendet sich zur Motivation der Adressatin: Nährt sie sich am kultischen Verkehr der Verehrer, an deren seufzendem Tribut?
4 Cloris dir Vergnügen giebt?
Sprachlich: Cloris als konventionalisierter Hirtinnen-Name der bukolischen Tradition; giebt (arch.). Syntax: Subjekt (Cloris) – Dativ (dir) – Prädikat (gibt) – Objekt (Vergnügen).
Rhetorisch: Topos des pastoralen Maskenspiels (Cloris als Rolle); die Pointe der Frage fällt auf Vergnügen—hedonischer Nutzen aus asymmetrischer Kommunikation.
Inhaltlich: Verdacht der Koketterie: Die Adressatin bezieht Lust/Bestätigung aus der bekenntnishaften Zuwendung anderer, ohne selbst zu lieben.
5 Zwar offt heist das Hertze geben
Sprachlich: Konzessivpartikel Zwar leitet Antithetik ein; Spruchformelngestus (heißt) hebt die Feststellung ins Gnomische. Orthographie offt, Hertze.
Rhetorisch: Sentenzhafter Tonfall; Vorbereitung eines zwar … doch-Gegensatzes.
Inhaltlich: Eingeständnis: Liebe hat Preis—Herzenshingabe ist nicht ohne Risiko/Kosten.
6 Sich begeben seiner Ruh/
Sprachlich: Reflexivkonstruktion sich begeben = sich einer Sache entledigen/entsagen; Genitiv seiner Ruh (barocke Genitivfügung).
Rhetorisch: Lakonische, lapidar gnomenhafte Kurzfassung einer Liebesanthropologie (Liebe = Verlust von Ruhe).
Inhaltlich: Liebe bedeutet, die eigene Seelenruhe aufzugeben; das führt die Konzession von V.5 aus.
7 Doch wer immer frey will leben/
Sprachlich: Adversativpartikel Doch setzt die Apodosis; immer frey (adverbiale Verstärkung) markiert Dauerzustand/Programm.
Rhetorisch: Einleitung der Gegenlehre, erneut spruchhaft; Antithese zwischen Freiheit (Ungebundenheit) und gelingendem Leben.
Inhaltlich: Gegenposition: Wer konsequent Bindung vermeidet—die Ideologie permanenter Freiheit—stellt sich außerhalb des Liebesvertrags.
8 Bringt sein Leben übel zu.
Sprachlich: Idiom etwas übel zubringen/zu Ende bringen; die Kürze bringt Endurteilskraft.
Rhetorisch: Pointe/Conclusio der sentenziösen Sequenz; moralischer Schlusshammer nach dem Doch.
Inhaltlich: Teleologisches Urteil: Radikale Ungebundenheit endet schlecht; die Weigerung zur Gegen-Liebe verfehlt das gute Leben.
9 Schönheit mit Verstand vermählet
Sprachlich: Das Verb vermählet verweist auf die feste Verbindung, ja beinahe sakramentale Vereinigung zweier Qualitäten: Schönheit und Verstand. Der Klang ist feierlich und konnotiert Ehe, Bindung, Harmonie. Rhetorisch: Es handelt sich um eine Personifikation und Allegorisierung: Schönheit und Verstand werden als Subjekte aufgefasst, die heiraten können. Das Bild entspricht barocken Denkfiguren, die abstrakte Qualitäten in mythischer Weise zusammenspannen. Inhaltlich: Der Dichter stellt das Ideal einer vollkommenen Verbindung auf: nur wenn Schönheit und Vernunft vereint sind, entsteht ein wahrhaft harmonisches und wertvolles Ganzes. Damit klingt auch die barocke Topik von außen und innen an – die äußere Erscheinung (Schönheit) gewinnt erst im Bund mit der inneren Haltung (Verstand) ihre eigentliche Geltung.10 Trifft offt schlechte Gleichheit an:
Sprachlich: Das Wort schlechte ist hier im frühneuzeitlichen Sinn zu verstehen: gering, mangelhaft – nicht im heutigen Sinne von moralisch schlecht. Gleichheit spielt auf die Paarung oder Entsprechung an. Rhetorisch: Antithese zwischen dem idealischen Bund (V. 9) und der realen Erfahrung, die als schlechte Gleichheit bezeichnet wird. Inhaltlich: In der Realität führt die Verbindung von Schönheit und Verstand oft nicht zu einer idealen Harmonie, sondern zu einem Missverhältnis, einer nur mangelhaften Entsprechung. Damit bricht das lyrische Ich die utopische Vorstellung des vorherigen Verses ab und führt zur Ernüchterung.11 Manch getreues Hertz erwehlet
Sprachlich: getreues Hertz ist eine barocke Formel für die treue, ehrliche, in Liebe hingebende Seele. Erwehlet (statt erwählt) verweist auf eine bewusste Entscheidung, auch im theologischen Sinne (die Erwählung durch Gott anklingend). Rhetorisch: Der Satz eröffnet eine Exempelfigur: Manch Herz… – also ein typisches Beispiel aus der allgemeinen Erfahrung. Inhaltlich: Viele aufrichtige Menschen wählen in der Liebe durchaus mit Ernst und Treue, aber ihre Wahl ist nicht immer glücklich, da sie möglicherweise auf äußere Reize oder falsche Zeichen vertrauen.12 Was nicht Farbe halten kan:
Sprachlich: Farbe halten ist eine Redensart, die bedeutet Bestand haben, sich bewähren. Farbe kann zudem auf äußeres Ansehen, Attraktivität anspielen. Rhetorisch: Metaphorische Wendung, die aus dem Bereich der Stoffe oder Malerei stammt: die Farbe, die mit der Zeit verblasst oder abblättert. Inhaltlich: Das Herz wählt also oft etwas, das keine Dauer hat, das vergänglich ist – eine Erscheinung, die nicht standhält. Ein direkter Hinweis auf die Vanitas-Thematik des Barock: Schönheit allein ist vergänglich und täuscht.13 Fremde Qual heist Achtung geben
Sprachlich: heißt = bedeutet. Fremde Qual ist paradox: eine Qual, die man nicht aus eigenem Erleben kennt, sondern durch die Wahl eines ungeeigneten Partners erfährt. Rhetorisch: Eine gnomenhafte Formulierung, die eine allgemeine Lebensregel präsentiert. Inhaltlich: Die Folge einer falschen Wahl (vgl. V. 11–12) ist das Leiden, das man sich selbst auferlegt. Achtung geben heißt: aufpassen, sich in Acht nehmen. Der Vers fungiert als warnende Lebensweisheit: man soll bedenken, welche Qualen durch unbedachte Liebe entstehen können.14 Was für eine Wahl man thu;
Sprachlich: Archaisierende Syntax (thu) für tut; das verstärkt den feierlichen Ton. Rhetorisch: Fortführung der gnomischen Aussage: man muss sich Rechenschaft ablegen, was man wählt. Inhaltlich: Der Gedanke an die Verantwortung für die eigene Wahl wird betont – Liebe ist nicht nur spontane Emotion, sondern eine Entscheidung mit Folgen.15 Doch/ wer unverliebt will leben
Sprachlich: Konzessiver Einstieg mit Doch. Unverliebt – nicht nur im modernen Sinn ohne Liebesverhältnis, sondern barock verstanden: ohne das Band der Liebe zu einem Menschen (und implizit auch ohne die göttliche Liebe). Rhetorisch: Antithetische Zuspitzung: einerseits die Gefahr falscher Wahl, andererseits die Härte eines Lebens ganz ohne Liebe. Inhaltlich: Das lyrische Ich macht klar: die Alternative zum Risiko der falschen Liebe ist nicht attraktiv. Wer ohne Liebe leben will, entzieht sich zwar der Gefahr, verfehlt aber das eigentliche Lebensglück.16 Bringt sein Leben übel zu.
Sprachlich: übel zu bringen bedeutet: schlecht oder sinnlos vollenden. Rhetorisch: Pointe der Strophe: ein sprichwörtlicher Schluss, der die Lebensweisheit pointiert. Inhaltlich: Das Leben ohne Liebe wird als verfehlt, leer und misslungen beschrieben. Trotz der Risiken der falschen Wahl ist die Liebe als solche unverzichtbar.17 Liebe Cloris/ lieb in Zeiten/
Sprachlich: Der Vers setzt mit einem Imperativ ein: Liebe! — ein Appell an Cloris, die typische allegorisch-poetische Namensfigur für die Geliebte. Die dreifache Lautähnlichkeit (Liebe – lieb – in Zeiten) entfaltet eine eindringliche Klangwiederholung (Anapher und Alliteration zugleich).
Rhetorisch: Der Appell wird durch die Wiederholung des Wortstamms lieb- zu einem kleinen Epizeuxis-artigen Gebot, das Nachdruck verleiht. Die Zeitbestimmung in Zeiten deutet auf eine begrenzte Gelegenheit und auf das Motiv des Carpe diem.
Inhaltlich: Der Sprecher fordert die Geliebte auf, rechtzeitig zu lieben, solange die Möglichkeit gegeben ist. Zeitlichkeit wird als Grenze und Mahnung betont.
18 Liebe was dich wieder liebt/
Sprachlich: Der Imperativ Liebe wird fortgeführt, jetzt ergänzt durch eine Art pragmatische Bedingung: was dich wieder liebt.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine Antimetabole: die Liebe soll dort erwidert werden, wo sie selbst zurückkommt. Das wiederholte liebt verstärkt den Eindruck von Spiegelung.
Inhaltlich: Hier liegt der moralische Kern: wahre Liebe soll nicht verschwendet, sondern an Gegenseitigkeit gebunden sein. Unbeantwortete Liebe gilt als unfruchtbar, ja als Fehltritt.
19 Was dir/ ohne Widerstreiten/
Sprachlich: Mit ohne Widerstreiten wird ein Bedingungszusatz eingeführt. Der Rhythmus wirkt hier weicher, fast beschwichtigend.
Rhetorisch: Das Fehlen von Widerstand (Litotes: ohne Widerstreiten statt bereitwillig) betont Sanftheit und Harmonie.
Inhaltlich: Der Appell richtet sich darauf, eine Liebe zu akzeptieren, die sich ohne Konflikt, ohne Zwang ergibt. Die Rede ist von freiwilliger Hingabe.
20 Sein getreues Hertze giebt.
Sprachlich: Sein getreues Herz steht für Treue, Beständigkeit, das Zentralmotiv frühneuzeitlicher Liebesdichtung. Der Vers schließt den Bedingungssatz aus V. 19.
Rhetorisch: Durch die Personifizierung des Herzens als gebende Instanz wird die Liebe anthropomorphisiert.
Inhaltlich: Ein treues Herz, das freiwillig gegeben wird, ist der wahre Gegenstand der erwiderten Liebe. Hier wird die Ethik der Gegenseitigkeit mit der Ethik der Beständigkeit verknüpft.
21 Lieb' und Gegen-Liebe geben
Sprachlich: Ein Parallelismus: Lieb’ und Gegen-Liebe bilden eine rhythmische und semantische Doppelung.
Rhetorisch: Diese Chiasmus-artige Konstruktion (Liebe ↔ Gegen-Liebe) betont Symmetrie. Der Ausdruck geben markiert den Beginn einer Sentenz.
Inhaltlich: Gegenseitige Liebe wird als Quelle eines positiven Ergebnisses präsentiert. Es handelt sich um ein axiomatisches Liebesprinzip.
22 Süsse Lust und stille Ruh/
Sprachlich: Alliteration (süsse – stille) verleiht dem Vers Wohlklang. Das Bildfeld verbindet Lust (aktives Erleben) mit Ruh (passives Genießen).
Rhetorisch: Oxymoronisch gespannte Einheit von Lust (Erregung, Bewegung) und Ruh (Frieden, Stillstand).
Inhaltlich: Gegenseitige Liebe ist nicht nur Leidenschaft, sondern auch Friede – ein harmonisches Ideal.
23 Wer von Liebe frey will leben
Sprachlich: Der hypothetische Relativsatz stellt eine Negativfigur ein: das Leben frei von Liebe. Das frey ist semantisch doppeldeutig: frei als unabhängig, aber auch als entwöhnt oder beraubt.
Rhetorisch: Kontrastführung: Nach der positiven Sentenz über Liebe wird die Negativoption ins Bild gesetzt.
Inhaltlich: Liebe wird als Grundbedingung des gelungenen Lebens eingeführt; ihr Fehlen erscheint als defizitär.
24 Bringt sein Leben übel zu.
Sprachlich: Der Schlussvers fällt in eine lakonische, fast sprichwörtliche Pointe: übel zu bringen.
Rhetorisch: Parömische Zuspitzung (sentenzenartig, moralisierend). Die finale Kadenz verstärkt die Endgültigkeit des Urteils.
Inhaltlich: Wer sich der Liebe verweigert, scheitert in seinem Leben. Es ist eine moralisch-existenzielle Warnung.
Das Gedicht entfaltet sich in drei Strophen mit klarer Steigerung und innerer Dramaturgie:
Strophe 1 (V. 1–8): Ein skeptisch-fragender Anfang: Was nützen süße Blicke, wenn kein wahres Gefühl dahintersteht? Hier steht die Klage des Liebenden, der ein Missverhältnis zwischen äußerer Zuwendung und innerer Unbeteiligtheit erkennt. Die Schlussverse betonen, dass ein völlig freies Leben ohne Liebe in die Irre führt.
Strophe 2 (V. 9–16): Der Blick wird erweitert: nicht nur der persönliche Schmerz, sondern die allgemeine Erfahrung von Liebesungleichheit und Täuschung. Schönheit gepaart mit Verstand führt nicht immer zu Harmonie; ein treues Herz kann an ein flatterhaftes Objekt geraten. Wieder kulminiert die Strophe in der Warnung: Ohne Liebe lebt man verfehlt.
Strophe 3 (V. 17–24): Wendung zur positiven Ermahnung: Cloris (die Adressatin) soll rechtzeitig lieben und vor allem jene Liebe erwidern, die ihr treu entgegengebracht wird. Hier tritt das Ideal von Lieb und Gegen-Liebe hervor, das nicht nur persönliche Freude, sondern auch stille Ruh verheißt. Auch diese Strophe endet mit der wiederholten Mahnung, dass ein Leben ohne Liebe verfehlt sei.
Damit ist der Aufbau zirkulär und progressiv zugleich: Jede Strophe endet mit derselben Sentenz (V. 8, 16, 24), was den Gedanken einprägt, zugleich aber steigert sich der Weg von Klage → Reflexion → Ermahnung.
Das Gedicht spiegelt ein komplexes Seelenverhältnis:
Spannung zwischen äußeren Zeichen und innerem Gefühl: Süße Blicke ohne innere Teilnahme wecken im Sprecher den Verdacht der Täuschung und des Spiels. Psychologisch gesehen berührt dies das Grundproblem der Diskrepanz zwischen Erscheinung und Absicht.
Gefahr der Täuschung und Projektion: Das treue Herz kann sich an einen Gegenstand binden, der diese Treue nicht wertschätzt. Dies zeigt die psychologische Verletzlichkeit der Liebe: das Risiko der Einseitigkeit.
Sehnsucht nach Gegenseitigkeit: Am Ende steht die Hoffnung auf erwiderte Liebe, die als psychische Balance beschrieben wird – Lust und Ruhe zugleich. Die Erfüllung liegt in der Harmonie von Geben und Empfangen.
Ambivalenz von Freiheit und Bindung: Frey leben klingt zunächst nach Unabhängigkeit, doch Abschatz deutet diese Haltung als psychologisch defizitär: Wer frei von Liebe bleibt, lebt übel zu. Hier zeigt sich ein barocker Bewusstseinskonflikt zwischen Selbstbehauptung und Hingabe.
Treue als Wert: Das Gedicht legt hohen moralischen Wert auf Treue und Gegenseitigkeit. Es verurteilt die Instrumentalisierung von Zuwendung ohne Liebe und mahnt zu Aufrichtigkeit.
Warnung vor Egoismus: Wer nur schaut, spielt oder Macht über die Gefühle anderer ausübt, verstößt gegen eine ethische Ordnung, die Liebe als ernsten Bund versteht.
Normative Ausrichtung: Liebe ist nicht beliebig, sondern soll sich auf jene richten, die ihrerseits treu sind. Darin steckt eine Ethik der wechselseitigen Verantwortung.
Lebenserfüllung als ethisches Gut: Ein Leben übel zu bringen ist nicht nur persönliche Verfehlung, sondern auch moralisches Versäumnis, weil es die dem Menschen zugedachte Form der Gemeinschaft missachtet.
Anthropologische Grundidee: Das Gedicht versteht den Menschen als auf Liebe hingeordnetes Wesen. Liebe ist nicht zufällige Emotion, sondern Lebenssinn. Freiheit ohne Liebe wird zur Verfehlung, zur privatio boni, einer Entleerung der Existenz.
Barocke Vanitas-Dimension: Hinter der Mahnung steht der barocke Gedanke, dass das Leben ohne Liebe leer und vergänglich bleibt. Übel zu bringen ist nicht nur moralische Schwäche, sondern verfehlt die letzte Bestimmung des Menschen.
Spiegelung des göttlichen Liebesverhältnisses: In der christlichen Tradition ist Liebe (caritas) immer auch Abbild der göttlichen Selbsthingabe. Die geforderte Gegenseitigkeit (lieb, was dich wieder liebt) erinnert an die theologische Struktur: Gott liebt den Menschen zuerst, und der Mensch ist gerufen, diese Liebe zu erwidern. Wer sich dem entzieht, lebt übel zu, weil er seine gottgewollte Relation verfehlt.
Freiheit und Bindung als paradoxes Ganzes: Philosophisch-theologisch wird das Paradox von Freiheit und Liebe sichtbar. Autonomie ohne Bindung wird als defizitär erkannt, während wahre Freiheit sich in der Bindung der Liebe erfüllt – eine Denkfigur, die sich auch bei Augustinus findet (Amor meus, pondus meum).
Ruhe als metaphysisches Ziel: Die stille Ruh (V. 22) verweist auf die augustinische Ruhe im cor inquietum, das nur in Liebe – letztlich zu Gott – Frieden findet. So lässt sich die barocke Minne-Ermahnung zugleich als Allegorie einer theologischen Wahrheit lesen: dass der Mensch sein Heil nicht in Selbstgenügsamkeit, sondern in erwiderter Liebe erfährt.
Aus anthroposophischer Sicht lässt sich das Gedicht als Ausdruck eines Grundgesetzes menschlichen Daseins deuten: das Prinzip von Polarität und Resonanz. Liebe ist hier nicht bloß ein Gefühl, sondern eine kosmische Bewegung, die erst in der Gegenseitigkeit ihre wahre Gestalt entfaltet.
Der Mensch, der frei von Liebe leben will, bringt sein Leben übel zu: damit wird eine seelisch-geistige Gesetzmäßigkeit ausgesprochen, dass Vereinzelung, Egozentrik und Unverliebtsein letztlich der eigenen Entfaltung schaden.
Die Gegenseitigkeit von Lieb und Gegen-Liebe verweist auf ein karmisches Wechselspiel, auf ein Prinzip der seelischen Balance: Liebe, die keine Antwort findet, bleibt unvollständig; erst im Echo des Anderen vollzieht sich seelische Ganzheit.
Man könnte sagen: das Gedicht spricht eine Art anthroposophisches Moralgesetz aus, dass menschliches Leben nur dann harmonisch verläuft, wenn der Einzelne seine Kräfte nicht in der Vereinzelung hält, sondern in Hingabe und Resonanz einbindet.
Das Gedicht bewegt sich im Spannungsfeld höfischer Eleganz und barocker Klarheit:
Die Form der drei Strophen mit wiederholter Schlussformel (Doch/ wer unverliebt will leben / Bringt sein Leben übel zu) wirkt wie ein Kehrreim – sie schafft musikalische Einheit, fast liedhafte Strenge.
Die Sprache oszilliert zwischen Süße (süsses Blicken, süsse Lust) und moralischer Schärfe (übel zu), wodurch das Gedicht eine dynamische Bewegung zwischen Anmut und Ernst erhält.
Ästhetisch ist das Gedicht durch Symmetrie geprägt: es beginnt mit dem vergeblichen süßen Blicken, führt über die Reflexion der Missverhältnisse (Strophe 2) hin zur Lösung: Liebe soll erwidert werden. Diese klare Gliederung verleiht ihm eine fast architektonische Schönheit.Das Gedicht arbeitet mit klassischen barocken rhetorischen Mitteln:
Anapher / Wiederholung: Wer … unverliebt will leben / Bringt sein Leben übel zu am Ende jeder Strophe verstärkt die normative Botschaft.
Antithese: Schönheit mit Verstand vermählet / Trifft offt schlechte Gleichheit an zeigt die Spannung zwischen äußeren Reizen und innerer Beständigkeit.
Rhetorische Frage (V. 1–4): Worzu dient so süsses Blicken / Wenn du bist in nichts verliebt? – ein Argumentationsmittel, das von Anfang an die Diskrepanz zwischen Schein und Wesen offenlegt.
Imperativische Wendung (Strophe 3: Liebe, Cloris, lieb in Zeiten): Die direkte Ansprache macht den Text zu einer Art moralischem Appell.
Auf einer Metaebene reflektiert das Gedicht das Verhältnis von Gefühl, Moral und sozialer Ordnung:
Liebe ist nicht nur Privatangelegenheit, sondern ein sozial-moralisches Prinzip, das über individuelles Glück hinausweist.
Die Wiederholung der Sentenz Bringt sein Leben übel zu wirkt wie ein memento mori in Liebesdingen: sie erinnert daran, dass Verweigerung der Gegenseitigkeit eine existenzielle Verfehlung bedeutet.
Die Figur Cloris fungiert zugleich als lyrische Geliebte und als allegorisches Symbol für die allgemeine Liebesempfängerin – die Liebe ist nicht nur ein persönliches Erleben, sondern ein poetisches Prinzip, das der Autor reflektiert.
Poetologisch betrachtet ist das Gedicht selbst ein Kommentar zur Dichtkunst:
Die formelhafte Wiederkehr des Refrains verweist auf die Nähe zu Lied, Gesang, Volksliedtradition – und zeigt, dass Poesie als Wiederholung von Grundwahrheiten fungieren kann.
Der moralische Imperativ wird durch die poetische Form nicht geschwächt, sondern ästhetisch veredelt: Dichtung ist hier nicht subjektive Klage, sondern normatives Sprachkunstwerk.
Gleichzeitig verdeutlicht das Gedicht, dass Poesie in der barocken Tradition nicht Selbstzweck ist, sondern ethisch-didaktische Funktion erfüllt: sie ordnet das Gefühl (Liebe) in Sprache und Gesellschaft ein.
Man könnte sagen: die Poesie verwandelt das chaotische Erleben der Liebe in ein geordnetes, harmonisches Muster aus Klang, Wiederkehr und Symmetrie – eine Poetik der Harmonie.
Abschatz’ Gedicht Liebe und Gegen-Liebe entfaltet in klar gegliedertem, kreisförmigem Aufbau eine Bewegung vom persönlichen Schmerz über allgemeine Reflexion bis zur normativen Ermahnung.
Liebe wird als Lebenssinn, als Voraussetzung von Lust und Ruhe, ja als metaphysische Notwendigkeit verstanden.
Wer sich dieser Bestimmung entzieht, lebt nach dieser barocken Anthropologie ein übel geführtes, verfehltes Leben.
Das Gedicht Liebe und Gegen-Liebe ist mehr als ein barockes Liebeslied: es entfaltet ein seelisch-geistiges Gesetz, das den Menschen vor Vereinzelung und Selbstverzehr warnt.