Die bitter-süsse Dulcinde
Kind/ deine Freundligkeit1
Kan Freud und Lust erwecken/2
Wo Trauren/ Sorg und Leyd3
Im innern Hertzen stecken:4
Man sieht auff deinen Wangen5
Narciß' und Rose prangen.6
Doch will ich was darvon7
Mit süssem Zwange brechen/8
So pfleget mich zum Lohn9
Ein scharffer Dorn zu stechen.10
Ich darff nicht frey bekennen11
Wie Hertz und Seele brennen.12
Wilt du mit gutem Recht13
Dulcindens Nahmen führen/14
Laß deinen treuen Knecht15
Genad und Gunst verspüren.16
Den Honig auff dem Munde17
Verderbt die Gall im Grunde.18
1 Kind/ deine Freundligkeit
Sprachlich: Barocke Anredeform (Kind) als zärtlich-galante Vocatio; Schreibweise Freundligkeit (für Freundlichkeit) betont die Tugendqualität als stabile Disposition, nicht bloß momentane Gefälligkeit.
Rhetorisch: Apostrophe; Parataxe von Anrede + Prädikation erzeugt unmittelbare Nähe. Der Binnenstopp durch den Schrägstrich (barocke Interpunktion) markiert ein metrisches Atemzeichen.
Inhaltlich: Die Sprecherinstanz setzt das Grundthema: die liebenswürdige Wesensart Dulcindes. Kind rahmt sie zugleich als Schutz- und Spielobjekt galanter Rede; auch sozial-hierarchischer Gestus des Hofdiskurses schwingt mit.
2 Kan Freud und Lust erwecken/
Sprachlich: Modalverb Kan (archaisch für kann) steigert die Wirkmächtigkeit: Dulcinde verursacht Affekt. Paarung Freud und Lust als Hendiadyoin zwischen seelischem Wohlergehen und sinnlichem Wohlgefallen.
Rhetorisch: Asyndetische Verdopplung (Freud // Lust) → Fülle-Effekt; Alliteration f–l (Freud/Lust) ist zart, nicht aufdringlich.
Inhaltlich: Zuschreibung der affektiven Potenz: Dulcinde wirkt aktiv auf die Innenlage des Ich bzw. der Umgebung – Vorgriff auf die Kontrastfigur in V. 3–4.
3 Wo Trauren/ Sorg und Leyd
Sprachlich: Dreigliedrige Negativ-Trias (Trauren, Sorg, Leyd) — substantivierte Affekte. Das Wo lokalisiert die Wirksamkeit topologisch.
Rhetorisch: Trikolon; graduelle Steigerung von allgemeinem Trauren über konkrete Sorg zur existentiellsten Größe Leid. Der Schrägstrich rhythmisierend.
Inhaltlich: Antithetische Bühne: Der Ort ihrer Wirkung ist nicht das neutrale Feld, sondern ein von Melancholie besetzter Raum — typisch barockes Affektpanorama.
4 Im innern Hertzen stecken:
Sprachlich: Lokalisierung ins innre Herz (orthographisch Hertzen) — Innerlichkeitssemantik; Verb stecken konkretisiert den Affekt als festgesetzt/verklemmt.
Rhetorisch: Metaphorik der Inklusion/Verhaftung (Affekte stecken fest). Kolon am Versende öffnet semantisch in V. 5–6.
Inhaltlich: Präzisierung: Die Negativaffekte sind nicht oberflächlich, sondern verwurzelt. Damit wächst Dulcindes Leistung aus V. 2 zur Heil-/Lösungs-Funktion.
5 Man sieht auff deinen Wangen
Sprachlich: Unpersönliches Man signalisiert sozialen Blick: Dulcindes Wirkung ist intersubjektiv verifizierbar. auff (für auf) + Wangen verlagern vom Inneren (V. 4) an die Oberfläche des Körpers.
Rhetorisch: Perspektivwechsel (innen → außen); Deixis deinen bindet den Blick des Publikums.
Inhaltlich: Übergang zur emblematischen Sichtbarkeit: Was innen gelöst wird, zeigt sich äußerlich als Zeichen (Teint/Erröten).
6 Narciß' und Rose prangen.
Sprachlich: Mythologem Narciß’ (für Narzissus) + Floronym Rose; prangen (glänzen, prunkvoll erscheinen) trägt höfische Schau-Semantik.
Rhetorisch: Emblematische Doppelfigur: Narzissus (blasse Lilien-/Narzissentönung) vs. Rose (Rot) bilden die traditionelle farbige Dualformel der Wangen. Antithetische Farbsymbolik (weiß/rot) als visuelle Pointe.
Inhaltlich: Sichtbarmachung der Tugend als Schönheitszeichen: Dulcindes Freundlichkeit materialisiert sich in der ikonischen Rot-Weiß-Mischung der Wangen; zugleich schweben Bedeutungen mit: Rose = Liebe/Eros, Narziss = Reflexion/Selbstbezogenheit, deren Balance Dulcindes bitter-süße Ambivalenz (Titel!) vorzeichnet.
7 Doch will ich was darvon
Sprachlich: Das adversative Doch markiert einen Gegenimpuls gegen zuvor Gesagtes (Skrupel, Gefahr, Verbot). was darvon (archaisch für etwas davon) ist bewusst unbestimmt: Andeutung statt Benennung.
Rhetorisch: Andeutungsstil/Apophasis: Der Sprecher umkreist den Gegenstand, ohne ihn auszusprechen. Das steigert Spannung und Anspielungsreichtum.
Inhaltlich: Trotz Bedenken beansprucht das Ich etwas von Dulcinde (Name und Titel spielen auf dulcis = süß an). Begehren setzt sich gegen Vorsicht durch.
8 Mit süssem Zwange brechen/
Sprachlich: Oxymoronische Fügung süssem Zwange: Süße (Anziehung) erscheint als Zwang (Unfreiheit). brechen ist doppeldeutig: (a) pflücken (Blume brechen), (b) übertreten (Norm/Schranke brechen).
Rhetorisch: Antithese/Oxymoron (Süße vs. Zwang). Metaphorik des Floralen korrespondiert mit dem Zyklustitel (Anemons und Adonis Blumen).
Inhaltlich: Begehren wird als zwanghafte Süßigkeit dargestellt: die Lust bindet. Zugleich kündigt der Sprecher eine Grenzüberschreitung an—er bricht etwas (moralisch/sozial, aber auch floristisches Bild: eine Blüte).
9 So pfleget mich zum Lohn
Sprachlich: Historisches Präsens mit pflegen zu (gewöhnlich sein): habitualisierende Färbung. zum Lohn ironisiert das Ergebnis—der Lohn ist nicht positiv.
Rhetorisch: Ironie/Paradoxon der Vergeltungslogik: Das erwartete Honorar der Liebe erweist sich als Gegenlohn.
Inhaltlich: Was als Belohnung des Begehrens erscheinen könnte, schlägt ins Gegenteil um; das Verhältnis folgt einem Gesetz von süßer Verheißung und bitterer Konsequenz.
10 Ein scharffer Dorn zu stechen.
Sprachlich: Archaische Schreibung scharffer. Harter Konsonantenklang (dorn / stechen) – Lautikonik, die Schmerz spürbar macht.
Rhetorisch: Emblematisches Bild (Rose–Dorn-Topos): das klassische dulce–amarum. Bildhafter Kontrast zu süssem Zwang – die Süße trägt den Stachel in sich.
Inhaltlich: Der Lohn ist der Stich. Der Liebesakt des Pflückens (V. 8) ruft den Abwehrmechanismus hervor: Wer bricht, wird gestochen. Moralische und erotische Lesart überlagern sich.
11 Ich darff nicht frey bekennen
Sprachlich: Modalverb darff (darf) signalisiert äußere/innere Beschränkung; frey akzentuiert das Fehlen ungehinderter Rede. Klangfigur: be-ken-nen ↔ bren-nen (Vorbereitung auf V. 12).
Rhetorisch: Litotes/Retizienz: das Ich behauptet, nicht frei sprechen zu dürfen – und sagt damit indirekt schon sehr viel. Sozialrhetorische Schranke (Konvenienz, Standesnorm).
Inhaltlich: Die Leidenschaft ist sozial oder moralisch nicht bekenntnisfähig. Verschwiegenheit steigert die innere Glut – das Verbot befeuert das Begehren.
12 Wie Hertz und Seele brennen.
Sprachlich: Hendiadyoin Hertz und Seele (Herz/Seele) weitet das Affektzentrum ins Ganze der Person. Starke Bildverben: brennen. Endreim/Assonanz auf -ennen mit V. 11 (bekennen/brennen) bindet semantisch Reden und Leiden.
Rhetorisch: Affektmetaphorik des Feuers (barockes Gemeinmotiv), Klimax der inneren Erregung; lautliche Paronomasie (be-ken-nen / bren-nen).
Inhaltlich: Endpunkt ist totale Innerlichkeitsglut: Nicht nur das Herz (Affekt), auch die Seele (Spiritualität) steht in Flammen – die Liebe ist ganzheitlich, zugleich schmerzhaft.
13 Wilt du mit gutem Recht
Sprachlich: Barocke Orthographie (Wilt), modale Frageform als konditionale Anrede. Die Rechtsformel mit gutem Recht aktiviert juristische Semantik.
Rhetorisch: Apostrophe an Dulcinde; praeparatio eines Forderungs-/Bedingungssatzes, der Erwartung erzeugt. Der Vers wirkt wie ein Anlauf vor der Zuweisung einer Bedingung.
Inhaltlich: Die Sprecherinstanz setzt den Maßstab legitimer Benennung/Beziehung: Anerkennung soll begründet sein, nicht bloß willkürlich.
14 Dulcindens Nahmen führen/
Sprachlich: Namen führen = einen Titel/Bekanntheitsnamen tragen; Dulcinden(s): Kunstname mit lat. Wurzel dulcis (süß) + femininer Endung; barocke Genitiv-/Schreibung.
Rhetorisch: Onomastische Figur: der Name als Bedeutungsträger; implizite etymologische Figur (Sinn des Namens = Verpflichtung).
Inhaltlich: Wer Dulcinde heißt, muss dem programmatischen Süße-Anspruch entsprechen; der Name wird zur Norm für Verhalten und Affekt.
15 Laß deinen treuen Knecht
Sprachlich: Knecht = demütiger Selbsttitel des Liebenden; Höflichkeitsimperativ Laß markiert bittendes Begehren.
Rhetorisch: Selbsterniedrigungstopos aus Minnetradition/Hofkontext; ethos-Appell: Treue als Ausweis der Würdigkeit.
Inhaltlich: Rollenordnung: Herrin vs. Diener; die Beziehung wird als Dienstverhältnis codiert, das Gegengaben erwartet.
16 Genad und Gunst verspüren.
Sprachlich: Paarformel Genad und Gunst (alliterierender Doppelausdruck); verspüren betont sinnliche, leibliche Wahrnehmung.
Rhetorisch: Diatypische Doppelformel (Recht-/Hofsprache); sanfte Alliteration (G-G).
Inhaltlich: Bitte um Gnadenbeweis der Dame: affektive und soziale Anerkennung; Liebesbeziehung wird als Gnadenökonomie modelliert.
17 Den Honig auff dem Munde
Sprachlich: Bildwort Honig = Süße/Schmeichelei; auff barock. Lokalisierung auf dem Munde: vordergründige, äußere Süße.
Rhetorisch: Metapher und Synekdoche (Mund steht für Sprache/Kuss); Auftakt eines Antithesen-Distichons.
Inhaltlich: Ankündigung einer Diskrepanz: äußere Lieblichkeit (Rede, Lächeln, Kuss) als Oberfläche.
18 Verderbt die Gall im Grunde.
Sprachlich: Gal(l)e = Bitterkeit, Galle; im Grunde = in der Tiefe/Wesensmitte. Starke antithetische Lexik: Honig ↔ Galle, Mund ↔ Grund.
Rhetorisch: Antithese/Oxymoron im größeren Topos des Gedichttitels (bitter-süss); Chiasmus auf Bedeutungsebene (äußere Süße ↔ innere Bitterkeit).
Inhaltlich: Enthüllung des moralisch-affektiven Kerns: scheinbare Süße korrumpiert die innerste Wahrheit. Kritik an Schmeichelei/Simulatio; ethische Warnung an Dulcinde, den Namen (süß) nicht performativ zu dementieren.
1. Exordium (Vv. 1–6): Lobpreis der Erscheinung. Die Freundligkeit (V. 1) der Geliebten besitzt affektive Macht: Sie weckt Freud und Lust selbst dort, wo Trauren/ Sorg und Leyd im Innern lasten (V. 2–4). Auf den Wangen prangen Narziss und Rose (V. 5–6): ein emblematisches Doppelbild – Selbstspiegelung/Anmut (Narziss) und Liebe/Schönheit samt Dornen (Rose).
2. Begehren und Verletzung (Vv. 7–10): Der Sprecher wagt den süssen Zwang (V. 8) – das paradoxe barocke dolce-amaro der Liebe: der Impuls, etwas darvon … zu brechen (ein Kuss? eine Gunst?), wird zum Lohn mit dem Dorn bestraft (V. 9–10). Freude kippt organisch in Schmerz.
3. Hemmschwelle und Innenbrand (Vv. 11–12): Psychische Gegenbewegung: Ich darff nicht frey bekennen/ Wie Hertz und Seele brennen. Externes Verbot/innere Scham trifft auf übermächtige Affekte – das Begehren wird interiorisiert.
4. Normativer Appell (Vv. 13–16): Die Anrede wendet sich vom Loben zum Fordern: Wilt du mit gutem Recht/ Dulcindens Nahmen führen – also dem Namen (die Süße) gerecht werden –, dann gewähre Genad und Gunst dem treuen Knecht. Hier verschiebt sich die Optik vom rein Erotischen ins ethisch-normative: Süße verpflichtet.
5. Gnomischer Schluss (Vv. 17–18): Sentenz: Den Honig auff dem Munde/ Verderbt die Gall im Grunde. Der Schluss bündelt die vorangegangenen Antithesen (Freude/Leid, Rose/Dorn, Zwang/Gnade) in ein bitter-süsses Essenzbild: Oberfläche vs. Inneres, Schein vs. Sein.
Der Verlauf ist damit zyklisch-antithetisch: äußere Anmut → tastender Zugriff → Verwundung → verhaltenes Geständnis → ethische Mahnung → moralisierende Pointe. Nichts wirkt additiv; jedes Bild entfaltet das vorige und treibt es dialektisch um.
Affektregie der Liebe: Die Geliebte besitzt affektive Souveränität (V. 1–4). Der Sprecher erlebt Liebe als Zwang (V. 8), nicht als autonome Entscheidung – ein klassisch barockes Erleben des Eros als Übermacht.
Ambivalenz des Begehrens: Süsser Zwang und scharffer Dorn modellieren die Koinzidenz von Lust und Schmerz. Die Belohnung ist die Verwundung – das Ich rationalisiert den Schmerz als notwendige Kehrseite der Süße.
Scham und Sprachhemmung: V. 11–12 markieren das psychische Stoppschild: Er darf das Brennen nicht frei bekennen. Konvention, Furcht vor Zurückweisung oder internalisierte Normen stauen den Affekt – Innenbrand statt Entladung.
Reframing durch Normappell: Um die Hilflosigkeit zu kompensieren, greift das Ich zur Rhetorik der Verpflichtung (mit gutem Recht) und verlegt die Verantwortung an die Geliebte: Sie solle dem Namen entsprechen. Das ist psychologisch zugleich Bitte und subtiler Druck.
Enttäuschungsmanagement: Die Endsentenz externalisiert die Dissonanz: Honig (Kuss, Worte) vs. Galle (verborgene Bitterkeit/Abweisung). Der Sprecher stabilisiert sein Selbstbild, indem er das Scheitern dem Grund der Geliebten zuschreibt.
Schein und Verantwortung: Der Text problematisiert, ob äußere Anmut zur inneren Güte verpflichtet. Die Formel mit gutem Recht … den Namen führen setzt einen Nominal-Ethos: Namen (Dulcinde = die Süße) binden moralisch.
Maß des Begehrens: Das Bild des Brechens (V. 7–8) stößt an eine Grenzethik: Begehren darf nicht übergriffig werden; der Dorn sanktioniert den ungebührlichen Zugriff. In höfischer Konvention heißt das: Gunst ist Gabe, nicht Anspruch.
Gnade vs. Verdienst: Genad und Gunst stehen dem treuen Knecht gegenüber. Der Sprecher reklamiert Treue (Dienst) – doch Gunst bleibt Gabe. Ethisch bleibt das Gedicht auf der Seite der Freiwilligkeit der Geliebten, auch wenn der Appell scharf formuliert ist.
Integrität statt bloßer Süßigkeit: Die Pointe verurteilt bloßes Süß-Sein an der Oberfläche. Ethik verlangt Kohärenz: Lippen-Honig darf nicht durch Grund-Galle dementiert werden.
1. Barocke Antithetik und dolce-amaro: Die Liebeserfahrung erscheint als Einheit der Gegensätze: Freude/Leid, Süße/Bitterkeit, Rose/Dorn. Das entspricht der barocken Erkenntnisfigur, dass Wahrheit paradox erscheint und Welt als vanitas strukturiert ist: Alles Liebliche trägt seinen Stachel.
2. Narziss & Rose – zwei Modi der Liebe: Narziss (V. 5) codiert Selbstbezug, Spiegelung, Eitelkeit – die Gefahr, dass die Geliebte (oder das Begehren) sich im Eigenbild verliert.
Rose bringt Agape/Eros und Vergänglichkeit zusammen: Schönheit mit Dornen. Philosophisch: Bonum delectabile ist nie ohne malum passivum (die Möglichkeit des Leidens).
3. Zwang und Freiheit: Süsser Zwang ist eine barocke Chiffre für die Unfreiheit im Begehren. Theologisch erinnert das an die Ambivalenz von concupiscentia: Begehrlichkeit ist süß und bindend – und bedarf Gnade zur Ordnung; daher die Bitte um Genad und Gunst.
4. Gnade und Recht: Mit gutem Recht … den Namen führen juxtapositioniert iustitia (Recht, Angemessenheit) und gratia (Gnade). In der Logik des Gedichts kann Dulcinde ihren Namen nur wahrhaft tragen, wenn Gnade konkret wird. Das ist eine feine barocke Pointe: Wahrheit eines Namens hängt an der Tat (Werden des Wortes im Werk) – eine säkularisierte Parallele zur Theologie des verbum caro (Wort, das Fleisch wird).
5. Honig und Galle – biblisch-gnomische Tiefenschicht: Galle (fel) ist biblisches Bitterkeits- und Gerichtssymbol; Honig steht für Süße, Gesetz/Lobpreis (Ps 19: süßer als Honig). Das Resümee V. 17–18 stellt eine Hermeneutik des Herzens auf: äußerer Honig täuscht, wenn der Grund (Herzensgrund) von Bitterkeit durchzogen ist. Wahrheit ist Herzens-Einheit.
6. Servitium amoris als Existenzform: Der Sprecher als treuer Knecht liest die Liebe als Dienstverhältnis – eine anthropologische Grundfigur: Der Mensch ist gebunden (servus), sein Wollen wird von einem Höheren (der Geliebten/Gnade) freigesetzt. Philosophisch erinnert das an die Frage, ob Freiheit primär empfangen (Gnade/Gunst) statt gemacht wird.
7. Schein/Sein-Dialektik: Die gesamte Komposition ist eine Meditation über Integrität: Es genügt nicht, anzusehen (Narziss, Wangen) oder zu klingen (Honig auf dem Mund). Wahrheit verlangt Entsprechung von Oberfläche und Grund – ein Ethos der Wahrhaftigkeit gegen barocke Maskenspiele.
Das Gedicht bewegt sich zwischen dem sinnlichen Eindruck (Blume, Rose, Narziß, Honig) und der seelischen Realität (Herz, Seele, brennen). Der Mensch erscheint als ein Wesen, das im Zwischenraum von Natur und Geist lebt: äußerliche Schönheit weckt innere Resonanzen.
Dulcinde als Name trägt eine archetypische Funktion: sie wird zur Verkörperung des zweifach gemischten Prinzips von Süsse und Bitterkeit, das in der anthroposophischen Lesart den polaren Aufbau der Welt widerspiegelt (Licht/Schatten, Lust/Schmerz, Geist/Materie).
Das Erlebnis der Rose mit Dorn verweist auf die Initiationsidee: der, der wahre Schönheit empfangen will, muss den Schmerz ertragen. Damit erscheint Dulcinde fast als Gestalt der Sophia, die seelische Reifung durch Leiden vermittelt.
Das Gedicht spielt kunstvoll mit der Opposition von sinnlicher Anmut (Freundlichkeit, Rose, Narziß, Honig) und der Erfahrung von Verletzung (Dorn, Gall, brennen).
Die Ästhetik ist barocke Mischung der Gegensätze – das Concetto lebt vom paradoxen Zusammenfallen von Anziehung und Gefahr.
Visuell und akustisch wird das Bildfeld Blume – Dorn – Honig – Galle in einer harmonischen Spannung gehalten: es ist eine kleine Miniatur der barocken Bildsprache, die Schönheit nicht rein, sondern stets im Kontrast denkt.
Auffällig sind die Antithesen: Freude ↔ Leid (V. 2–3), Rose ↔ Dorn (V. 6–10), Honig ↔ Gall (V. 17–18). Diese Gegensätze sind nicht nur Schmuck, sondern Grundstruktur.
Der Sprecher nutzt Direktansprache (Kind, deine Freundlichkeit; Wilt du …?), wodurch die Rede zum Werben, ja fast zum Flehen wird.
Metaphern und Allegorien: Die Geliebte erscheint nicht unmittelbar, sondern in Bildgestalten (Rose, Narziß, Honig). Dadurch verschiebt sich der Text vom Realen ins Symbolische.
Klangführung: der Binnenreim und die Wechsel von kurzen Imperativen (Laß deinen treuen Knecht…) verstärken den emotionalen Druck.
Hinter dem Text steht die barocke Reflexion über die Unvereinbarkeit von Ideal und Realität: die Geliebte ist Inbild von Schönheit, aber zugleich Quelle von Schmerz.
Die Namensgebung Dulcinde (lat. dulcis = süß, indus → evtl. Beiname) ist selbst schon ein Programm der Ambivalenz. Die Metaebene ist: die Sprache selbst erzeugt das Paradox – die Geliebte existiert im Text durch das Oxymoron bitter-süß.
Das Gedicht reflektiert, wie Dichtung Schönheit überhaupt nur durch Gegensatz und Kontrast erschaffen kann. Damit wird das Paradoxon nicht nur Thema, sondern auch poetologisches Prinzip.
Die Dichtung zeigt sich als ein Spiel mit barocken Topoi: Rose und Dorn, Honig und Galle, Feuer des Herzens. Diese Motive sind nicht bloß Schmuck, sondern tragen die Idee der Ambivalenz als poetisches Gesetz.
Das Gedicht selbst ist ein Exempel für das barocke Concettismo: das überraschende Zusammenführen von Gegensätzen (süß ↔ bitter) in einer pointierten Pointe (V. 17–18).
Poetologisch erklärt sich die Funktion von Lyrik hier als Verwandlung der Liebeserfahrung in ein Bild- und Klanggewebe, das das Paradoxe der menschlichen Erfahrung (Eros als süß-bitter) gestaltet.
Damit steht das Gedicht im barocken Diskurs über ars poetica als ars paradoxorum: Wahrheit zeigt sich in Bildern, die Spannung statt Auflösung betonen.
Abschatz‘ Gedicht verdichtet in 18 Versen die barocke Grundfigur der bitter-süßen Liebe: Eine Affektdialektik von Lust und Wunde, gebändigt durch einen ethischen Anspruch auf Kohärenz (Name und Wesen) und durch eine theologisch getönte Bitte um Gnade.
Die Bildfolge (Narziss/Rose → Dorn → Honig/Galle) baut nicht additiv, sondern organisch steigernd: vom Schein der Süße über die Erfahrung des Stachels hin zur Prüfung des Herzensgrundes.
So erweist sich Dulcinde als Prüfstein: Süße ist erst dann wahr, wenn sie den Grund süßt. Ohne diese innere Wahrheit bleibt sie bloß Honig auf den Lippen – und wird vom Gallen-Grund dementiert.
Abschatz’ Dulcinde-Gedicht inszeniert auf nur 18 Versen ein kompaktes barockes Weltbild: die Schönheit als gleichzeitig beglückend und verletzend, das Herz als Ort der Spannung zwischen Lust und Leid, die Sprache als Medium, das genau diese Ambivalenz formt.