Lo giorno se n’andava, e l’aere bruno
toglièva li animài che sono in terra
da le fatiche loro; e io sol uno
philologisch, möglichst wörtlich
Der Tag wich schon, und die dunkle Luft
entriss den Wesen, die auf Erden wohnen,
die Mühsal ihres Tags; und ich allein
poetisch-romantisierend
Der tag entwich – das dämmergrau der lüfte
nahm aller irdischen geschöpfe mühn –
ich aber stand allein
modern, dynamisch interpretierend
Der Tag verging, das dunkle Abendlicht
erlöste alle Tiere von der Arbeit –
nur ich war noch allein
Detaillierte Analyse (Philologisch und inhaltlich)
Vers 1: Lo giorno se n’andava, e l’aere bruno
Lo giorno se n’andava: »Der Tag ging dahin« – ein Motiv der Vergänglichkeit, das den Übergang zur Dunkelheit markiert. In mittelalterlicher Symbolik ist der Sonnenuntergang häufig Bild für das Verlassen des Bewusstseins, den Übergang in das Reich des Unbekannten (hier: die Unterwelt).
l’aere bruno: »die dunkle Luft« – bruno (braun/dunkel) verweist auf das Zwielicht des Abends, hat aber auch klanglich etwas dumpf-bedrückendes. Diese Atmosphäre ist Vorbote für die kommende seelische Prüfung Dantes.
Vers 2: toglièva li animai che sono in terra da le fatiche loro
toglièva: Imperfekt von togliere (nehmen, wegnehmen, aber auch: befreien). Die Luft »nimmt« die Tiere von ihrer Mühsal – eine poetische Umschreibung des Einschlafens oder Ruhens der Lebewesen nach dem Tagwerk.
li animai che sono in terra: Betonung auf der Universalität – nicht nur Menschen, sondern alle »Tiere, die auf Erden leben«, was die kosmische Ordnung der Ruhezeit unterstreicht.
le fatiche loro: »ihre Mühen« – im Mittelalter war die fatica Ausdruck der gefallenen Welt, der Mühsal des irdischen Lebens nach dem Sündenfall.
Vers 3: e io sol uno
Ein syntaktisch starker Einschnitt. Die umgebende Welt fällt in Ruhe, aber Dante ist allein, isoliert – ein existenzieller Moment. Die Einsamkeit signalisiert den seelischen Ernst seiner bevorstehenden Reise. Die Formulierung wirkt archaisch und betont (sol uno ≈ »ich ganz allein«), was seine Sonderstellung gegenüber dem ruhenden Naturganzen unterstreicht.
Thematische Einordnung
Die ersten Verse des 2. Gesangs führen uns an einen Schwellenmoment: Die äußere Welt tritt in den Abendfrieden – Ruhe, Einkehr, Ende des Tages. Doch Dante steht abseits dieser kosmischen Ruhe: er ist der Einzelne, der zu einer anderen »Tageszeit« aufbricht – einer inneren, geistigen Pilgerzeit.
Zentrale Themen:
Schwelle & Übergang: Abendzeit → Übergang in eine andere Welt (Hölle).
Isolierung & Berufung: Dante bleibt »allein« – betont seine Rolle als Erwählter für den Weg ins Jenseits.
Natur & Ordnung: Alle Tiere ruhen nach ihrer Ordnung – Dante bricht aus dieser Ordnung aus.
• Diese Einleitung verknüpft natürliche Rhythmen mit der existenziellen Ausnahme Dantes, was die metaphysische Tragweite seiner Reise markiert.
Theologische Einordnung
Die Verse berühren zentrale theologische Themen:
1. Ruhe nach der Arbeit (Genesis 02:02)
Der Rhythmus von Mühe und Ruhe ist tief biblisch geprägt: Gott selbst ruht nach seinem Werk – und auch die Geschöpfe sollen am Abend ruhen. Dante aber »verstößt« gegen diesen Zyklus – er betritt das Jenseits, weil seine Seele durch göttliche Fügung zum Sehen und Erkennen bestimmt ist.
2. Einsamkeit des Erwählten
In der biblischen Tradition sind Erwählte oft einsam in ihrer Berufung (z. B. Abraham, Mose, Christus in Gethsemane). Auch Dante wird aus der allgemeinen Ruhe »herausgerufen«, was seine Rolle als Prophet, als visionärer Zeuge kennzeichnet.
3. Dunkelheit als mystische Phase
Die »dunkle Luft« (aere bruno) hat in der Mystik (Johannes vom Kreuz: noche oscura del alma) eine doppelte Bedeutung: als Phase der Prüfung und des Übergangs, aber auch als notwendige Voraussetzung für das göttliche Licht, das am Ende wartet.
Poetologische Einordnung
Diese ersten drei Verse erfüllen eine klare poetologische Funktion:
1. Topos der Abendstunde
Der Beginn am Abend ist ein klassischer literarischer Einstiegspunkt für Traumgesichte und Visionen (z. B. Vergil, Aeneis VI, oder mittelalterliche Visionsliteratur). Die Dämmerung schafft den Rahmen für das Irreale, Transzendente.
2. Enargeia & Stimmung
Die Verse erzeugen ein starkes atmosphärisches Bild – die sinnliche Wahrnehmung des Abends (Farbwert bruno, Bewegungsverben wie se n’andava, toglièva) schafft ein lebendiges Bild, das zugleich eine seelische Stimmung ausdrückt: das Gefühl des Verlorenseins und der Schwelle.
3. Zäsur und Monolog
Mit io sol uno beginnt ein innerer Monolog, ein Reflexionsgang, der zur Selbstbefragung wird: »Bin ich wirklich würdig, diesen Weg zu gehen?« Der zweite Canto ist insgesamt ein Prooemium interior, eine Selbstzweifel-Episode – was sich schon in diesem Versanschnitt andeutet.
Fazit
Diese drei Verse gehören zu den eindrucksvollsten, wenn auch scheinbar unspektakulären Stellen der Commedia. Sie eröffnen nicht nur einen neuen Gesang, sondern leiten eine existenzielle Situation ein: die Erfahrung des Alleinseins an der Schwelle zwischen natürlicher Ordnung und übernatürlicher Berufung.
Sie sind poetisch verdichtet, theologisch aufgeladen und dramaturgisch exakt gesetzt: Ein Mensch steht im Übergang – zwischen Tag und Nacht, zwischen Welt und Unterwelt, zwischen eigener Angst und göttlicher Führung.
Gesamtschau
Der zweite Gesang ist keine äußere Bewegung, sondern ein innerer Reifungsprozess, in dem Dante vom Zweifelnden zum Berufenen wird – ein entscheidender Schritt für den Beginn der eigentlichen Commedia.
Er dient als feierlicher Auftakt zur eigentlichen Höllenreise und ist dramaturgisch wie rhetorisch sorgfältig aufgebaut. Man kann ihn in vier Hauptabschnitte gliedern, die jeweils unterschiedliche Funktionen innerhalb der Gesamtstruktur erfüllen:
1. Proömium / Invocatione (Verse 1–9)
Dante beginnt mit einer Anrufung der Musen und des Geistes, die ihm beistehen sollen:
»O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate;
o mente che scrivesti ciò ch’io vidi,
qui si parrà la tua nobilitate.«
Dies ist eine bewusste Rückwendung zur epischen Tradition, die Dante mit christlich-theologischen Elementen überformt. Er sieht sich vor einem so gewaltigen Unternehmen, dass er göttliche Hilfe braucht.
2. Dantes Zweifel und Selbsteinschätzung (Verse 10–42)
Dante wendet sich an Vergil und fragt in tiefer Verunsicherung, warum er auserwählt wurde, diesen Weg zu gehen:
»Ma io, perché venirvi? o chi 'l concede?
Io non Enea, io non Paulo sono:
me degno a ciò né io né altri 'l crede.«
Hier bringt Dante seine Selbstzweifel zum Ausdruck, indem er sich mit Aeneas und dem Apostel Paulus vergleicht – zwei mythologisch bzw. christlich legitimierte Unterweltbesucher. Dieser Abschnitt ist zentral für Dantes Selbstbild: Er sieht sich als sündiger Mensch, nicht als Heiliger oder Heroe.
3. Die Erklärung des göttlichen Rettungsplans (Verse 43–126)
Vergil reagiert auf Dantes Zweifel mit einer ausführlichen Erzählung dreier aufeinanderfolgender Fürbitten:
Beatrice kommt zu Vergil und bittet ihn, Dante zu helfen.
Sie wurde von Lucia geschickt, die wiederum von der Madonna bewegt wurde.
»Tre donne benedette« (V. 124) – Maria, Lucia und Beatrice – stehen für die göttliche Gnade, das Licht der erleuchteten Vernunft und die theologische Liebe.
Dieser Abschnitt zeigt ein typisches Beispiel für die mittelalterliche Kaskadenstruktur der Fürbitte, die von Gott zur individuellen Seele führt. Es wird eine theologische Legitimation für Dantes Reise konstruiert.
4. Aufbruch und neue Entschlossenheit (Verse 127–142)
Am Ende des Gesangs ist Dante von Vergils Worten ermutigt und bereit:
»O donna di virtù, sola per cui
l’umana spezie eccede ogne contento
di quel ciel c’ha minor li cerchi sui!...« (über Beatrice)
Der Gesang endet mit dem gemeinsamen Aufbruch in die Unterwelt.
Fazit zur Struktur
• 1. Proömium | 1–9 | Epische Invocatione / Bitte um Beistand
• 2. Selbstzweifel | 10–42 | Dantes menschliche Unzulänglichkeit
• 3. Vision / Rettungsplan | 43–126 | Theologische Legitimation durch Beatrice und himmlische Frauen
• 4. Entscheidung | 127–142 | Ermutigung und Entschluss zum Abstieg