LITERATO •     Seiten für Literatur

Johann Wolfgang Goethe
Sämtliche Gedichte

Geniezeit
Volksballaden aus dem Elsass

(Volksballaden aus dem Elsass)

Das Lied vom Herrn von Falckenstein

Es reit der Herr von Falckenstein,
Wohl über ein' breite Haide.
Was sieht er an dem Weege stehn?
Ein Maidel mit weissem Kleide.

Wohin wonaus du schöne Magd?5
Was machen ihr hier alleine,
Wollen ihr die Nacht mein Schlafbule seyn,
So reiten ihr mit mir heime.

Mit euch heimreiten das thu ich nicht,
Kann euch doch nicht erkennen. 10
Ich binn der Herr von Falckenstein,
Und thu mich selber nennen.

Seyd ihr der Herr von Falckenstein,
Derselbe edle Herre,
So will ich euch beten um 'en Gefangnen mein, 15
Den will ich haben zur Ehe.

Den Gefangnen mein den geb ich dir nicht,
Im Turn muss er verfaulen;
Zu Falckenstein steht ein tiefer Turn,
Wohl zwischen zwo hohen Mauern.20

Steht zu Falckenstein ein tiefer Turn,
Wohl zwischen zwey hohen Mauern;
So will ich an die Mauern stehn,
Und will ihm helfen trauern.

Sie ging den Turm wohl um und wieder um, 25
Feinslieb bist du darinnen?
Und wenn ich dich nicht sehen kann,
So komm ich von meinen Sinnen.

Sic ging den Turm wohl um und wieder um,
Den Turn wollt sie aufschliessen.30
Und wenn die Nacht ein Jahr lang wär,
Keine Stund thät mich verdriessen.

Ey, dürfft ich scharfe Messer tragen,
Wie unsers Herrn sein Knechten
So thät ich mi'm Herrn von Falckenstein35
Um meinen Herzliebsten fechten.

Mit einer Jungfrau fecht ich nicht,
Das wär mir immer ein Schande,
Ich will dir deinen Gefangenen geben.
Zieh mit ihm aus dem Lande.40

Wohl aus dem Land da zieh ich nicht,
Hab niemand was gestohlen,
Und wenn ich was hab liegen lahn
So darf ich's wieder holen.

◀◀◀ 68 ▶▶▶
Home
chresmos@gmail.com