Geniezeit
Erste Weimarer Gedichtsammlung
Ein Gleichnis
Es hatt ein Knab eine Taube zart
Gar schön von Farben und bunt
Gar herzlich lieb nach Knaben Art
Geätzet aus seinem Mund
Und hatte so Freud am Täubgen sein
5
Daß er nicht konnte sich freuen allein
Da lebte nicht weit ein Altfuchs herum
Erfahren und lehrreich und schwätzig darum
Der hatte dem Knaben manch Stündlein ergötzt
Mit Wundern und Lügen verprahlt und verschwätzt.
10
»Muß meinem Fuchs doch mein Täubelein zeigen!«
Er lief und fand ihn strecken in Sträuchen.
»Sieh Fuchs mein lieb Täublein mein Täubgen so schön!
Hast du dein Tag so ein Täubgen gesehn!«
»Zeig her!« Der Knabe reichts. — »Geht wohl an.
15
Aber es fehlt noch manches dran,
Die Federn zum Exempel sind zu kurz geraten!«
Da fing er an rupft sich den Braten.
Der Knabe schrie. - »Du mußt stärkre einsetzen
Sonst zierts nicht, schwingt nicht!«
20
Da war’s nackt! »Mißgeburt!« Und in Fetzen.
Dem Knaben das Herze bricht.
Wer sich erkennt im Knaben gut
Der sei für Füchsen auf seiner Hut.
◀◀◀ 158
▶▶▶
Home
chresmos@gmail.com