Geniezeit
Erste Weimarer Gedichtsammlung
Der Wandrer
Wandrer
Gott segne dich junge Frau,
Und den säugenden Knaben
An deiner Brust!
Laß mich, an der Felsenwand hier
In des Ulmbaums Schatten
5
Meine Bürde werfen,
Neben dir ausruhn.
Frau
Welch Gewerbe treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den sandigen Pfad her?
10
Bringst du Waren aus der Stadt
Im Land herum?
Lächelst Fremdling
Über meine Frage?
Wandrer
Ich bringe keine Waren
15
Aus der Stadt.
Schwül ist schwer der Abend
Zeige mir den Brunnen
Draus du trinkest
Liebes junges Weib.
20
Frau
Hier den Felsenpfad hinauf!
Geh voran! Durchs Gebüsche
Geht der Pfad nach der Hütte
Drin ich wohne
Zu dem Brunnen
25
Da ich trinke draus.
Wandrer
Spuren ordnender Menschenhand
Zwischen dem Gesträuch —!
Diese Steine hast du nicht gefügt
Reich hinstreuende Natur
30
Frau
Weiter 'nauf.
Wandrer
Von dem Moos gedeckt ein Architrav!
Ich erkenne dich. Bildender Geist,
Hast dein Siegel in den Stein geprägt.
Frau
Weiter Fremdling
35
Wandrer
Eine Inschrift, über die ich trete!
Der Venus — und ihr übrigen
Seid verloschen,
Weggewandelt, ihr Gesellen,
Die ihr eures Meisters Andacht
40
Tausend Enkeln zeugen solltet.
Frau
Staunest Fremdling
Diese Stein an?
Droben sind der Steine viel
Um meine Hütte.
45
Wandrer
Droben?
Frau
Gleich zur Linken
Durchs Gebüsch hinan!
Hier!
Wandrer
Ihr Musen und Grazien.
50
Frau
Das ist meine Hütte!
Wandrer
Eines Tempels Trümmern!
Frau
Da zur Seit hinab
Quillt der Brunnen
Da ich trinke draus.
55
Wandrer
Glühend webst du über deinem Grabe
Genius! Über dir
Ist zusammengestürzt
Dein Meisterstück
O du unsterblicher.
60
Frau
Wart! ich will ein
Schöpfgefäß dir holen.
Wandrer
Efeu hat deine schlanke
Götterbildung umkleidet!
Wie du emporstrebst
65
Aus dem Schutte
Säulenpaar!
Und du einsame Schwester dort
Wie ihr,
Düstres Moos auf dem heiligen Haupt,
70
Majestätisch traurend herabschaut
Auf die zertrümmerten
Zu euren Füßen
Eure Geschwister!
In des Brombeergesträuches Schatten
75
Deckt sie Schutt und Erde;
Und hohes Gras wankt drüber hin
Schätzest du so Natur
Deines Meisterstücks Meisterstück?
Unempfindlich zertrümmerst
80
Du dein Heiligtum
Säst Disteln drein.
Frau
Wie der Knabe schläft!
Willst du in der Hütte ruhn
Fremdling willst du hier
85
Untern Pappelbaum dich setzen?
Hier ist's kühl! Nimm den Knaben,
Daß ich Wasser schöpfen hinabgeh.
Schlaf Lieber schlaf.
Wandrer
Süß ist deine Ruh.
90
Wie's in himmlischer Gesundheit schwimmend
Ruhig atmet!
Du, geboren über Resten
Heiliger Vergangenheit
Ruh ihr Geist auf dir!
95
Welchen der umschwebt
Wird in Götter selbstgefühl
Jedes Tags genießen.
Voller Keim blüh auf
Lieblich dämmernden Lenzes Schmuck
100
Scheinend vor deinen Gesellen!
Und welkt die Blütenhülle weg
Dann steig aus deinem Busen
Die volle Frucht, und reif der Sonn entgegen.
Frau
Gesegn' es Gott! — Und schläft er noch?
105
Ich habe nichts zum frischen Trunk
Als ein Stück Brot
Das ich dir bieten kann.
Wandrer
Ich danke dir.
Wie herrlich alles blüht umher
110
Und grünt.
Frau
Mein Mann wird bald
Nach Hause sein
Vom Feld; bleib Mann
Und iß mit uns
115
Das Abendbrot.
Wandrer
Ihr wohnet hier?
Frau
Hier zwischen das Gemäuer her
Die Hütte baute noch mein Vater
Aus Ziegeln und des Schuttes Steinen.
120
Hier wohnen wir.
Er gab mich einem Ackersmann
Und starb in unsern Armen.
Hast du geschlafen liebes Herz?
Wie er munter ist und spielen will!
125
Du Schelm.
Wandrer
Natur du ewig keimende
Schaffst jeden zum Genuß des Lebens
Deine Kinder all
Hast mütterlich mit einem
130
Erbteil ausgestattet
Einer Hütte.
Hoch baut die Schwalb an Architrav
Unfühlend welchen Zierrat
Sie verklebt,
135
Die Raup' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus für ihre Brut;
Und du flickst zwischen der Vergangenheit
Erhabne Trümmer
Für dein Bedürfnis
140
Eine Hütt', o Mensch
Genießest über Gräbern.
Leb wohl du glücklich Weib!
Frau
Du willst nicht bleiben!
Wandrer
Gott erhalt euch
145
Segn' euren Knaben!
Frau
Glück auf den Weg
Wandrer
Wohin führt mich der Weg
Dort übern Berg
Frau
Nach Cuma.
150
Wandrer
Wie weit ists hin?
Frau
Drei Meilen gut.
Wandrer
Leb wohl!
O leite meinen Gang
Natur; den Fremdlingsreisetritt
155
Den über Gräber
Heiliger Vergangenheit
Ich wandle;
Leit ihn zum Schutzort,
Vorm Nord geschützet
160
Wo dem Mittagsstrahl
Ein Pappelwäldgen wehrt.
Und kehr ich dann
Am Abend heim
Zur Hütte vergoldet
165
Vom letzten Sonnenstrahl,
Laß mich empfangen solch ein Weib
Den Knaben auf dem Arm
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