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Johann Wolfgang Goethe
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Brief an Lottchen

Mitten im Getümmel mancher Freuden,
Mancher Sorgen, mancher Herzensnot,
Denk ich Dein, o Lottchen; denken Dein die Beiden;
Denken an das Abendbrot
Das Du ihnen freundlich reichtest,5
Da du mir auf reichgebauter Flur,
In dem Schoße herrlicher Natur,
Manche leichtverhüllte Spur
Einer lieben Seele zeigtest.
Wohl ist mirs daß ich Dich nicht verkannt,10
Daß ich gleich Dich in der ersten Stunde,
Ganz den vollen Herzensausdruck in dem Munde,
Dich ein gutes gutes Kind genannt.

Still und eng und ruhig auferzogen
Wirft man uns auf einmal in die Welt;15
Uns umspülen hundert tausend Wogen,
Alles reizt uns, mancherlei gefällt,
Mancherlei verdrießt uns, und von Stund zu Stunden
Schwankt das leicht', unruhige Gefühl:
Wir empfinden, und was wir empfunden20
Spült hinweg das bunte Welt-Gewühl.

Wohl ich weiß es, da durchschleicht uns innen
Manche Hoffnung, mancher Schmerz;
Lottchen, wer kennt unsre Sinnen?
Lottchen, wer kennt unser Herz?25
Ach! es möchte gern gekannt sein, überfließen
In das Mitempfinden einer Creatur,
Und, vertrauend, zwiefach neu genießen
Alles Leid und Freude der Natur.

Und da sucht das Aug’ oft so vergebens30
Rings umher, und findet alles zu.
So vertaumelt sich der schönste Teil des Lebens
Ohne Sturm und ohne Ruh;
Und, zu deinem ew’gen Unbehagen,
Stößt dich heute, was dich gestern zog.35
Kannst du zu der Welt Vertrauen tragen,
Die so oft dich trog,
Und bei Deinem Weh' und Glücke
Blieb in eigenwill'ger starrer Ruh?
Sieh, da tritt der Geist in sich zurücke40
Und das Herze schließt sich zu.
* * *
So fand ich Dich, und ging Dir frei entgegen;
O Sie ist wert zu sein geliebt,
Rief ich, erflehte Dir des Himmels reinsten Segen,
Den er Dir nun in Deiner Freundin gibt.45

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