Vorspiel auf dem Theater. (6)
Director, Theaterdichter, lustige Person.
Dichter.
Geh hin und such dir einen andern Knecht!134
Der Dichter weist hier den Theaterdirektor (bzw. die von ihm vertretene Funktion des kommerziellen Theaters) scharf zurück. Das Wort »Knecht« deutet auf ein Herr-Knecht-Verhältnis hin, das der Dichter ablehnt: Er ist kein bloßer Dienstbote, der auf Befehl schreibt. Die Aufforderung »Geh hin« klingt hart, beinahe wie eine Vertreibung, was seine Unabhängigkeit unterstreicht.
Der Dichter sollte wohl das höchste Recht,135
Der Dichter beginnt, sich selbst zu verteidigen, indem er sich auf ein »höchstes Recht« beruft. Dieses ist nicht juristischer Natur, sondern ein moralisches und schöpferisches Recht – die Freiheit des dichterischen Schaffens. Es wird überhöht durch die Formulierung »das höchste Recht«, was die Sonderstellung der Kunst betont.
Das Menschenrecht, das ihm Natur vergönnt,136
Hier wird dieses höchste Recht weiter präzisiert: Es ist das Menschenrecht, das dem Dichter von der Natur verliehen ist. In der Aufklärung war die Idee des Naturrechts zentral – die Vorstellung, dass bestimmte Rechte dem Menschen von Natur aus zustehen. Goethe verbindet diese philosophische Tradition mit der Würde des künstlerischen Schaffens. Der Dichter besitzt das Recht zur freien Gestaltung, nicht durch Gesellschaft oder Staat, sondern durch seine Existenz als Mensch und Künstler.
Um deinetwillen freventlich verscherzen!137
Der Dichter lehnt es kategorisch ab, dieses von der Natur verliehene Menschenrecht für den Theaterdirektor (»um deinetwillen«) zu opfern. Das Wort »freventlich« betont den moralischen Tabubruch, der mit einem solchen Verrat einherginge – es hieße, das Heilige (die schöpferische Freiheit) zu entweihen. »Verscherzen« verweist auf Verlust durch eigenes Verschulden; der Dichter würde also sein eigenes ethisches Fundament preisgeben, wenn er sich fremden Zwecken unterordnete.
Zusammenfassend 134-137
Diese vier Verse sind ein leidenschaftliches Plädoyer für die Unabhängigkeit des Dichters. Goethe stellt hier die künstlerische Freiheit als Naturrecht dar, das sich nicht dem kommerziellen oder massentauglichen Theaterbetrieb unterwerfen darf. Die Haltung des Dichters bildet einen Kontrapunkt zu den Positionen des Direktors und Lustigen, die das Theater als Unterhaltung und Geschäft betrachten. Der Dichter dagegen verteidigt die Kunst als ernsthaften, ethisch fundierten Ausdruck menschlicher Freiheit.
Wodurch bewegt er alle Herzen?138
Der Dichter stellt hier eine rhetorische Frage: Was ist die Kraft, die das Publikum ergreift, was bringt es zum Mitfühlen, zum Beben? »Er« meint der Künstler oder vielleicht spezifischer: der Schauspieler oder Dichter selbst. Die Frage zielt auf das Geheimnis künstlerischer Wirkung – auf das, was Kunst im Innersten bewirken kann: die emotionale Bewegung.
Wodurch besiegt er jedes Element?139
Diese Frage steigert die erste: Nicht nur Menschen (»alle Herzen«) werden bewegt, sondern selbst die »Elemente« – also die Naturkräfte – werden überwunden oder »besiegt«. Die Kunst wird als eine Macht vorgestellt, die sogar über die physische Welt hinaus Einfluss hat. Dahinter steht eine fast mythologische Vorstellung von der schöpferischen Kraft des Dichters, wie sie schon in der antiken Poetik aufscheint.
Ist es der Einklang nicht? der aus dem Busen dringt,140
Nun folgt die Antwort auf die beiden Fragen: Es ist der »Einklang«, der alles bewirkt. Dieser Einklang ist mehrdeutig: Zum einen musikalisch – eine Harmonie, die durch Töne erzeugt wird – zum anderen innerlich und seelisch – eine Übereinstimmung zwischen Gefühl und Ausdruck, zwischen Innenwelt und Außenwelt. Dass er »aus dem Busen dringt«, verweist auf seine Herkunft aus dem Innersten des Menschen, aus dem emotionalen Zentrum, nicht bloß aus dem Verstand.
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt.141
Der Dichter beschreibt, wie dieser Einklang eine Umkehrbewegung bewirkt: Aus dem Inneren des Künstlers kommt etwas hervor (Vers 140), das nun wiederum die ganze Welt zurück in das Herz des Einzelnen zieht. Eine Art metaphysischer Kreislauf entsteht: Der Künstler schöpft aus sich, bringt etwas hervor – und dieses Erzeugte zieht die Welt wiederum in die Tiefe des Herzens zurück. Es ist ein bildmächtiger Ausdruck für Empathie, Kunstwirkung und universale Verbindung.
Zusammenfassend 138-141
Diese vier Verse enthalten Goethes poetologisches Selbstverständnis: Kunst ist nicht bloße Darstellung, sondern eine geistige Macht, die durch »Einklang« – also durch harmonische, wahrhaftige Ausstrahlung aus dem Innersten – die Menschen und sogar die Natur selbst berühren, formen und verwandeln kann. Der Dichter ist hier mehr als ein Unterhalter: Er ist Mittler zwischen Mensch und Welt.
Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge,142
Dieser Vers beginnt mit einer hypothetischen Bedingung (»Wenn …«) und evoziert ein Bild aus dem Bereich des Spinnens bzw. der Textilkunst. »Die Natur des Fadens« steht metaphorisch für das Dasein oder den Weltlauf – eine alte Metapher, die bereits in der griechischen Mythologie (Schicksalsfäden der Moiren) oder im Mittelalter (Gottes Webstuhl) verwendet wurde.
Die »ew’ge Länge« des Fadens kann als Sinnbild für die Unendlichkeit oder Eintönigkeit des Weltgeschehens gelesen werden, das sich ohne Ziel und Sinn entfaltet – ein Bild für die Monotonie oder die Leere der bloßen Weltbeschreibung.
Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt,143
Hier wird das Bild fortgesetzt: Der Faden wird von einer »gleichgültig« wirkenden Macht – sei es Natur, Schicksal oder das mechanische Weltprinzip – auf die Spindel gezwungen.
»Gleichgültig drehend« verstärkt die Vorstellung einer entseelten Weltmaschine. Es fehlt an Sinn, an Zweck, an Zielgerichtetheit – und vor allem: an Kunst. Diese Zeile vermittelt Resignation gegenüber einer Welt, die ohne Bedeutung oder Gefühl fortläuft.
Das Bild der Spindel evoziert wieder antike Schicksalsvorstellungen, aber hier ohne göttliche oder tragische Würde – nur mechanisches Weiterdrehen.
Wenn aller Wesen unharmon’sche Menge144
Der Dichter erweitert nun den Horizont: Nicht nur der Weltfaden läuft gleichgültig ab, auch die Vielheit der Wesen ist »unharmonisch«.
Die »Menge« erinnert an die moderne Erfahrung des Chaos, der Vielheit, des Durcheinanders – eine Welt ohne innere Ordnung, ohne Kosmos (im griechischen Sinn von »geschmückter Ordnung«).
Der Begriff »unharmon’sch« ist ein Neologismus oder eine absichtsvoll verkürzte Form von »unharmonisch«, was das Künstliche, Dissonante betont. Die Welt ist nicht nur ohne Sinn – sie klingt auch falsch, ist dissonant, verworren.
Verdrießlich durch einander klingt;145
Das klangliche Bild kulminiert: Die Welt ist eine Kakophonie, ein mürrisches, verdrießliches Durcheinander.
Die Dissonanz ist nicht nur abstrakt – sie wird zur Klangmetapher. Es fehlt an Melodie, an Harmonie – also auch an Kunst. Der Dichter beklagt die Welt als einen Ort, an dem es kein ästhetisches Maß, kein inneres Gesetz mehr gibt.
Das Adjektiv »verdrießlich« spricht dabei zugleich emotional von der Reaktion des lyrischen Subjekts: Die Weltlage ist nicht nur chaotisch, sie ist auch unangenehm, verdrießlich – ja fast beleidigend für den Künstler.
Zusammenfassend 142-145
Der Dichter steht hier am Beginn des »Vorspiels auf dem Theater« und artikuliert eine existenzielle Klage: In einer Welt, die nur noch mechanisch fortläuft (»gleichgültig drehend«) und voller Dissonanzen ist (»unharmon’sche Menge«), ist es schwer, Kunst zu schaffen.
Diese Passage bildet den Hintergrund für die nachfolgende Diskussion zwischen Direktor, Lustige Person und Dichter: Wie soll Theater heute aussehen? Was ist Kunst noch wert in einer desillusionierten Welt?
Der Dichter sehnt sich offenbar nach Ordnung, Harmonie und Sinn – nach einer künstlerischen Gegenwelt zur gleichgültigen, chaotischen Realität.
Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe146
Der Dichter stellt eine rhetorische Frage, die auf das dichterische Schaffen selbst zielt. Die »fließend immer gleiche Reihe« verweist auf den gleichförmigen Strom des Lebens oder des Geschehens – oder auch auf den bloßen Sprachfluss, der noch ungeformt ist. Es braucht jemanden, der diese Flut strukturiert, unterteilt – also künstlerisch gestaltet.
→ Thema: Dichtung als Formgebung des amorphen Lebensstroms.
Belebend ab, daß sie sich rythmisch regt?147
Hier wird die Tätigkeit weiter konkretisiert: Die bloße Teilung ist nicht mechanisch, sondern »belebend« – der Dichter verleiht dem Strom Leben, Rhythmus, Bewegung. Dies beschreibt die künstlerische Leistung, Rohmaterial in ästhetische Ordnung zu bringen, das heißt: in Versmaß, Klang und innere Dynamik.
→ Poetisches Gestalten bedeutet Lebenseinfluss – durch Rhythmus und Gestaltung.
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe?148
Nun geht es um das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit: Das »Einzelne« kann profan, alltäglich sein. Doch der Dichter hebt es empor zur »Weihe«, das heißt zur Sinnhaftigkeit, zur Einbindung in das Große und Ganze. Er verleiht dem Vereinzelten Bedeutung durch symbolische oder ästhetische Einbettung.
→ Der Dichter heiligt das Alltägliche, macht es bedeutungsvoll für alle.
Wo es in herrlichen Accorden schlägt,149
Das Gedicht oder Drama ist nicht bloß durchdacht – es klingt. »Accorde« verweist auf Harmonie, Musik, Zusammenklang. Die künstlerische Sprache wird zu einem musikalischen Ereignis. Dies erinnert an Goethes Nähe zur Musik als Sinnbild des Höheren, der göttlichen Ordnung.
→ Die dichterische Sprache soll harmonisch erklingen, wie Musik das Gemüt ergreifen.
Zusammenfassend 146-149
Diese vier Verse sind ein poetisches Selbstverständnis des Dichters. Er beschreibt sich als Gestalter, Erwecker, Vermittler, Harmoniker und zugleich als jemand, der emotionale Kräfte entfesselt. Die Kunst ist hier nicht bloß Dekoration, sondern schöpferische Macht – eine geistige Ordnung, die das Chaos in Rhythmus, Bedeutung und Bewegung verwandelt, aber auch das Untergründige zur Sprache bringt.
Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen?150
Der Dichter beginnt mit einer rhetorischen Frage. Der »Sturm« steht metaphorisch für heftige emotionale Bewegungen – gemeint sind hier menschliche Leidenschaften wie Liebe, Hass, Eifersucht, Zorn.
Das Verb »wüthen« verstärkt diese Bewegung ins Exzessive: Es geht nicht um bloß dargestellte Emotionen, sondern um eine entfesselte, überwältigende Kraft, die das Publikum erschüttert.
Der Dichter fragt also: Wer ist es, der diese intensive emotionale Wirkung ermöglicht?
Antwort: der Dichter selbst – doch er stellt sich hier bescheiden, stellvertretend für die schöpferische Macht der Kunst.
Das Abendroth im ernsten Sinne glühn?151
Auch dieser Vers ist eine rhetorische Frage und schließt sich der ersten unmittelbar an.
Das »Abendroth« verweist auf ein stimmungsvolles Bild: den Sonnenuntergang – traditionell Symbol für Abschied, Tod, Transzendenz.
»Im ernsten Sinne glühn« bedeutet: Das Rot des Abends wird hier nicht bloß als dekorativer Effekt gemeint, sondern mit Tiefe, Bedeutung, Gravitas aufgeladen.
Der Dichter fragt also: Wer verleiht solchen Naturbildern ernsthafte Bedeutung – wer macht aus bloßer Erscheinung Symbol?
Wieder lautet die implizite Antwort: die dichterische Kunst.
Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüten152
In diesem Bild wird der Frühling mit seiner Blütenfülle heraufbeschworen – Symbol für Jugend, Schönheit, Liebe, Hoffnung.
Das Verb »schüttet« ist auffällig – es suggeriert ein Übermaß, eine verschwenderische Fülle.
Die Frühlingsblüten stehen hier für ästhetische und emotionale Reize, für alles Schöne, was ein Stück dem Publikum bieten kann.
Die rhetorische Frage lautet: Wer ist es, der diese Fülle in die Welt (oder auf die Bühne) bringt?
Auf der Geliebten Pfade hin?153
Die Antwort auf die vorige Frage wird hier konkretisiert: Die Blüten werden nicht irgendwo verstreut, sondern gezielt »auf der Geliebten Pfade«.
Die Geliebte – eine archetypische Figur romantischer Dichtung – steht hier für das Ideal, das Ziel, das Zentrum der Sehnsucht.
Der Dichter deutet an: Er ist es, der durch seine Kunst eine Welt erschafft, in der solche Pfade überhaupt erst entstehen – er formt sie und schmückt sie.
Dabei klingt eine gewisse Sakralität mit: Das Liebesverhältnis als heiliger Weg, der durch die Dichtung verklärt wird.
Zusammenfassend 150-153
Diese vier Verse sind ein emphatisches Selbstbekenntnis des Dichters zur Macht der Poesie. In der Gestalt der rhetorischen Frage ruft er in Erinnerung, dass er – der Dichter – es ist, der durch seine Kunst das Innerste des Menschen bewegt, Natur mit Bedeutung auflädt und eine Welt emotionaler Schönheit erschafft. Damit grenzt er sich zugleich ab von den eher unterhaltungsorientierten Ansprüchen der anderen Figuren (Direktor, Lustige Person), die im Vorspiel eine pragmatischere Auffassung von Theater vertreten. Der Dichter steht hier als Verteidiger der tiefgründigen, erhabenen Kunst.
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter154
Der Dichter stellt hier eine rhetorische Frage und spricht vom Kranz aus »unbedeutend grünen Blättern« – also einem Lorbeerkranz, dem traditionellen Zeichen des Ruhmes. Die »unbedeutenden« Blätter sind materiell wertlos, erhalten aber durch ihre symbolische Funktion eine überragende Bedeutung. Der Vers spielt auf die Macht der Kunst an, etwas Einfaches (Grünzeug) mit Bedeutung aufzuladen.
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?155
Die Frage wird weitergeführt: Wer verwandelt Leistungen (»Verdienste«) aller Art in symbolische Ehre? Der Lorbeerkranz wird hier zur Metapher für gesellschaftliche oder göttliche Anerkennung, die durch den Dichter verliehen wird. Der Dichter wird zum Vermittler von Ruhm und Erinnerung.
Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?156
Die nächste rhetorische Frage hebt den Dichter auf eine quasi-schöpferische Ebene: Wer »sichert« den Olymp, also das Reich der Götter, und bringt diese göttlichen Figuren zusammen? Der Dichter wird hier als Hüter und Schöpfer des Mythischen inszeniert, der die Welt der Götter durch Dichtung bewahrt und strukturiert.
Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.157
Die Auflösung: All diese Leistungen – Ehrung, Sinngebung, Mythenbildung – geschehen durch den Dichter. In ihm verdichtet sich die »Kraft« des Menschen schlechthin. Die Kunst wird hier zur höchsten Manifestation menschlicher Wirksamkeit erklärt: Der Dichter erschafft Bedeutung, Mythos und Anerkennung – das ist seine gottähnliche Funktion.
Zusammenfassend 154-157
In diesen vier Versen beschreibt Goethe programmatisch die zentrale Stellung des Dichters. Er ist nicht nur künstlerischer Gestalter, sondern Sinngeber, Ehrenspender und Mythenschöpfer. Durch ihn erhält das Menschliche seine höchste Form. Das Selbstverständnis des Dichters wird hier auf eine fast priesterliche Ebene gehoben.
Diese Passage (Verse 134–157) ist eine leidenschaftliche Verteidigungsrede des Dichters für seine Kunst – und damit für eine bestimmte Idee von Dichtung als schöpferischer, beinahe göttlicher Kraft. Ihre philosophische Dimension ist tief in der deutschen Idealismus- und Romantiktradition verwurzelt, steht aber auch in kritischem Bezug zu aufkommenden utilitaristischen, bürgerlich-pragmatischen Tendenzen des Theaters der Goethezeit.
1. Dichtung als schöpferische Weltvermittlung
Gleich zu Beginn erhebt der Dichter Anspruch auf ein »höchstes Recht, / Das Menschenrecht, das ihm Natur vergönnt«. Gemeint ist nicht nur die Freiheit der Kunst, sondern eine metaphysische Würde: Der Dichter tritt als Repräsentant des Menschlichen auf, in dem sich Natur und Geist vereinen. Der Ausdruck »Menschenrecht« ist hier nicht im juristischen Sinne gemeint, sondern als das höchste Vermögen des Menschen zur geistigen Erfassung und Umgestaltung der Welt.
Wodurch bewegt er alle Herzen? / Wodurch besiegt er jedes Element?
Die Dichtung wird zur universellen Macht erklärt – sie bewegt Affekte und ordnet die kosmischen Elemente (Anspielung auf die antike Lehre von den vier Elementen). Dichtung ist hier nicht Spielerei, sondern Wirk-Kraft.
2. Dichtung als Prinzip der Ordnung und Harmonie
In einer kosmologischen Metapher wird die »ew’ge Länge« des Lebensfadens geschildert, den die Natur gleichgültig auf die Spindel zwingt – eine klare Anspielung auf das Bild der Moiren (Schicksalsgöttinnen). Diese Gleichgültigkeit der Natur wird als »unharmon’sche Menge« beschrieben, als ungestaltetes Chaos.
Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe / Belebend ab, daß sie sich rythmisch regt?
Der Dichter ist es, der Ordnung ins Chaos bringt, das Einzelne in das Allgemeine erhebt, Harmonie stiftet, wo vorher Dissonanz war. Das ist eine klassische romantische Idee: Dichtung als Medium, durch das das Weltganze als ein geordnetes Ganzes erfahrbar wird – nicht analytisch, sondern ästhetisch.
3. Symbolische Vermittlung zwischen Natur, Gefühl und Sinn
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe? / Wo es in herrlichen Accorden schlägt
Die Dichtung weihe das Einzelne – das Alltägliche – zur Bedeutung. Das spricht eine stark symbolische Funktion der Kunst an: Sie transformiert das bloß Vorhandene in ein Sinngefüge. Sie hat eine »sakralisierende« Funktion – eine Weihe –, in der das Profane in das Bedeutsame überführt wird.
Die Beispiele, die folgen, sind aus Natur (Abendrot, Frühling), Affekt (Leidenschaft), Liebe (Pfad der Geliebten), Ethik (Ehrenkranz für Verdienste) und Mythos (Olymp, Götter). Diese Spannweite zeigt: Der Dichter erschafft Verbindung und Sinn in allen Lebensbereichen.
4. Der Dichter als Offenbarer des Menschen
Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.
Dieser Schlusssatz bringt die Essenz der ganzen Passage: Der Dichter verkörpert nicht nur eine individuelle Fähigkeit, sondern die schöpferische Kraft des Menschseins schlechthin. Er ist der Ort, an dem sich das Wesen des Menschen zur Geltung bringt – ein Gedanke, der stark an den deutschen Idealismus (v.a. Schelling und Fichte) erinnert: Der Mensch kommt durch Selbsttätigkeit zur Welt, zur Ordnung, zur Freiheit.
Die Passage ist ein emphatisches Bekenntnis zur Dichtung als Weltformungskraft. In einem tief idealistischen Weltbild ist der Dichter kein bloßer Unterhalter oder Moralist, sondern ein metaphysischer Mittler: Er offenbart das Menschliche, stiftet Sinn im Chaos der Natur und hebt das Einzelne ins Allgemeine. Goethes Dichter steht damit in der Tradition des »Poeta vates« – des Sehers, der durch schöpferisches Erkennen den Menschen zu sich selbst führt.