Vorspiel auf dem Theater. (5)
Director, Theaterdichter, lustige Person.
Director.
Ein solcher Vorwurf läßt mich ungekränkt;108
Der Direktor antwortet hier auf die Kritik des Lustigen oder Dramaturgen. Der Vorwurf bezieht sich auf eine mögliche künstlerische oder ideelle Geringschätzung seiner Position. Doch statt beleidigt zu sein, behauptet der Direktor Selbstsicherheit: Er zeigt sich unempfindlich gegenüber intellektueller oder moralischer Kritik, da seine Rolle eine pragmatische ist. Das »ungekränkt« signalisiert einen Standpunkt fern künstlerischer Eitelkeit – vielleicht aber auch eine gewisse Ignoranz gegenüber höheren Ansprüchen.
Ein Mann, der recht zu wirken denkt,109
Der Direktor formuliert hier sein zentrales Selbstverständnis: Wirkung ist das Ziel. Es geht ihm nicht um Wahrheit oder Schönheit im idealistischen Sinne, sondern um Effekt, Einfluss – wohl auch um Publikumserfolg. »Recht« meint hier nicht moralisch »richtig«, sondern effizient, wirksam, praktisch tauglich. Damit stellt Goethe in der Figur des Direktors das Spannungsfeld zwischen Kunstideal (verkörpert etwa vom Dichter) und Theaterpraxis aus.
Muß auf das beste Werkzeug halten.110
Dieser Vers schließt unmittelbar an: Wer Wirkung erzielen will, muss auf Mittel setzen, die zuverlässig funktionieren – also auf das »Werkzeug«. Das Theater, so die Implikation, ist eine Werkstatt, keine Kathedrale. Gemeint sind Schauspieler, Bühnenmittel, Genres, Unterhaltungselemente – alles, was »funktioniert«. Der Begriff »Werkzeug« entzaubert den künstlerischen Prozess, reduziert ihn auf Mechanik und Instrumentalität. Diese Vorstellung steht im Kontrast zu einer idealistischen Kunstauffassung (z. B. des Dichters im Vorspiel).
Bedenkt, ihr habet weiches Holz zu spalten,111
Diese metaphorische Wendung spricht das Publikum an – nicht direkt, sondern durch den Appell an die anderen Theatermacher (wahrscheinlich den Dichter). »Weiches Holz« ist hier das einfache, vielleicht bildungsferne Publikum. Es sei leicht zu beeinflussen, aber zugleich verlangt es keine subtilen, tiefsinnigen Darbietungen. Die Metapher des »Spaltens« spielt auf die Tätigkeit des Theaterbetriebs an: Man muss das Material (Publikum) bearbeiten – aber ohne großen Widerstand. Darin liegt eine gewisse Arroganz, aber auch ein nüchternes Kalkül: Unterhaltung statt Erhebung, Zugänglichkeit statt Tiefe.
Zusammenfassend 108-111
In diesen vier Versen formuliert der Direktor ein pragmatisches, erfolgsorientiertes Kunstverständnis. Kunst ist Wirkung, Publikum ist Masse, Theater ist Werkzeuggebrauch. Goethes Vorspiel stellt damit gleich zu Beginn zentrale Spannungsfelder der Kunstproduktion aus: Idealismus versus Pragmatismus, Tiefsinn versus Unterhaltung, Wirkung versus Wahrheit.
Und seht nur hin für wen ihr schreibt!112
Der Direktor richtet diese Aufforderung an Dichter und Schauspieler. Sie ist programmatisch: Noch bevor ein Werk entsteht, muss bedacht werden, wer das Publikum ist. Die Kunst steht nicht allein für sich, sondern ist eingebunden in ein soziales Gefüge. Diese Mahnung verweist auf den praktischen Theaterbetrieb: Nicht allein ästhetischer Anspruch zählt, sondern Publikumserwartung und Unterhaltung.
Wenn diesen Langeweile treibt,113
Hier beginnt die Beschreibung des Publikums in verschiedenen psychologischen Zuständen. Der erste Typus ist von Langeweile getrieben – nicht aus künstlerischem Interesse. Das Theater fungiert für ihn als Fluchtort vor innerer Leere. Goethes Sprache betont dabei nicht nur das Bedürfnis des Publikums, sondern auch seine passive Haltung: »treibt« verweist auf eine gewisse Ziellosigkeit.
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,114
Ein zweiter Typus: der saturierte Bürger, der nach dem Essen Unterhaltung sucht. Der Ausdruck »übertischtes Mahle« spielt auf Überfluss und Maßlosigkeit an. Dieses Publikum ist gesättigt, vielleicht sogar träge, was die Gefahr birgt, dass die Kunst lediglich als Verdauungshilfe oder Gewohnheit konsumiert wird – ohne innere Beteiligung.
Und, was das allerschlimmste bleibt,115
Mit dieser Wendung steigert der Direktor seinen Ton: Jetzt kommt der schlimmste Fall – eine Spitze der Kritik. Das Adjektiv »allerschlimmste« zeigt seine Verachtung für eine bestimmte Haltung, die selbst noch über der bloßen Sattheit oder Langeweile steht. Es kündigt eine Degeneration des kritischen Geistes an.
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale.116
Diese letzte Beschreibung ist besonders brisant. Der Leser von »Journale\[n]« steht für denjenigen, der mit Meinungen aus zweiter Hand, mit vorgeformten Urteilen ins Theater kommt. Damit kritisiert Goethe (durch den Direktor) den Einfluss der öffentlichen Meinung, des Feuilletons und der Medienkritik. Der Zuschauer ist nicht mehr offen, sondern bringt bereits voreingenommene Maßstäbe mit – vielleicht sogar das Bedürfnis, sich selbst als Kritiker aufzuspielen.
Zusammenfassend 112-116
Diese fünf Verse spiegeln eine realistische, fast zynische Sicht auf das Theaterpublikum: Es ist zerstreut, gesättigt, gelangweilt oder voreingenommen. Der Direktor mahnt zur Anpassung der Kunst an diese Realitäten. Goethe nutzt diese Stelle aber auch zur Selbstkritik des Theaters: Kunst, so scheint es, muss sich mit einem Publikum auseinandersetzen, das oft nicht aus innerem Bedürfnis nach Wahrheit, sondern aus Oberflächlichkeit kommt. Die ästhetische Frage wird damit zur sozialen.
Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten,117
Dieser Vers beschreibt das Publikum und dessen Motivation. »Man eilt« suggeriert eine hastige, vielleicht oberflächliche Bewegung hin zum Theater. Das Adjektiv »zerstreut« ist doppeldeutig: Es meint sowohl die Ablenkung und Unkonzentriertheit des Publikums als auch die Absicht, Zerstreuung (im Sinne von Unterhaltung) zu suchen. Der Vergleich mit »Maskenfesten« verweist auf eine spielerische, oberflächliche und vielleicht sogar entlarvend-illusionäre Gesellschaftsform, bei der das Äußere (die Maske) zählt, nicht das Wesen.
Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt;118
Hier wird die Triebfeder des Theaterbesuchs als reine »Neugier« benannt. Das »nur« unterstreicht die Reduktion des Antriebs auf einen oberflächlichen Impuls – kein tiefes Kunstinteresse, sondern Sensationslust oder Unterhaltungsgier. Dass die Neugier »beflügelt«, zeigt, dass sie durchaus eine antreibende Kraft ist, wenn auch eine flatterhafte.
Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten119
Der Fokus richtet sich nun auf die weiblichen Zuschauer. »Sich geben« meint: Sie präsentieren sich selbst – als Objekt der Betrachtung. Der »Putz« (veralteter Ausdruck für Kleidung und Schmuck) ist dabei Teil der Selbstdarstellung. Der Ausdruck »zum besten geben« enthält ironisch eine doppelte Bedeutung: Einerseits heißt es »zeigen«, andererseits klingt darin auch eine Art von Darbietung an, als würden sie selbst zu Schauspielerinnen auf der sozialen Bühne.
Und spielen ohne Gage mit.120
Dieser Schlussvers schlägt den Bogen zurück zur Theatermetapher: Das Publikum, besonders die Damen, wird hier als Teil des Spiels, der Inszenierung dargestellt. Sie »spielen mit«, obwohl sie keine Bezahlung (»Gage«) erhalten – ihr Lohn ist offenbar die soziale Aufmerksamkeit. Goethe spielt hier auf die wechselseitige Durchdringung von Bühne und Zuschauerraum an: Das Theater ist nicht bloß Ort der Darbietung, sondern auch der gesellschaftlichen Selbstdarstellung.
Zusammenfassend 117-120
Diese vier Verse sind ein pointierter Kommentar auf das Theaterpublikum. Goethe lässt den Direktor in ironischem Ton die »oberflächliche« Motivation und Selbstinszenierung des Publikums kritisieren. Das Theater erscheint als Spiegel gesellschaftlicher Eitelkeiten, als Ort der Masken und Rollen, nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne. Der Gegensatz von Kunst und Unterhaltung, Ernst und Spiel, beginnt sich hier bereits abzuzeichnen – ein zentrales Thema im ganzen Faust.
Was träumet ihr auf eurer Dichter-Höhe?121
Der Direktor wendet sich an den Dichter (und auch an den Lustigen), den er für weltfremd und überhöht hält.
Mit dem Bild der »Dichter-Höhe« spielt Goethe auf das romantische Ideal des Genies an, das entrückt über dem Alltäglichen schwebt. Der Direktor stellt dieses Ideal infrage: Was nützt diese träumerische Entrückung für das Theater und dessen Zweck? Das Verb »träumen« unterstreicht die Distanz zur Realität, impliziert auch Naivität oder Realitätsflucht.
Was macht ein volles Haus euch froh?122
Hier problematisiert der Direktor die Haltung des Dichters weiter: Geht es ihm überhaupt um das Publikum?
Die rhetorische Frage impliziert Zweifel daran, ob der Dichter sich über praktischen Erfolg (ein »volles Haus«) freut oder ob er sich eher der Kunst um ihrer selbst willen widmet. Der Direktor stellt damit das Spannungsverhältnis zwischen Kunstanspruch und Publikumswirksamkeit ins Zentrum.
Beseht die Gönner in der Nähe!123
Jetzt fordert der Direktor zur realistischen Einschätzung des Publikums auf.
»Gönner« ist doppeldeutig: Einerseits meint es Mäzene oder Unterstützer, andererseits ironisch jene, die mit Mühe ein Stück wohlwollend verfolgen. Der Appell »Beseht...!« ist imperativ und ruft zur Bodenhaftung auf: Nicht träumen, sondern beobachten, erkennen, was wirklich zählt.
Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.124
Ein desillusionierender Befund: Das Publikum ist weder leidenschaftlich noch kultiviert.
»Kalt« steht für emotionale Teilnahmslosigkeit, »roh« für einen Mangel an Bildung, Empathie oder Sensibilität. Der Vers bildet das nüchterne Resümee der vorangehenden Kritik: Wer Theater macht, muss die Schwächen des Publikums kennen und berücksichtigen, wenn er Erfolg haben will.
Zusammenfassend 121-124
In diesen vier Versen artikuliert der Direktor eine pragmatische, ja ernüchterte Sicht auf Kunstproduktion: Erfolg misst sich an Wirkung, nicht an Idealismus. Goethe stellt hier das klassische Spannungsfeld zwischen künstlerischem Anspruch (Dichter) und öffentlicher Wirkung (Direktor) in prägnanter Form zur Diskussion.
Der, nach dem Schauspiel, hofft ein Kartenspiel,125
Der Direktor beschreibt hier einen Teil des Publikums: Menschen, die das Theater nicht aus ideellem Interesse besuchen, sondern es bloß als Vorspiel oder Zwischenspiel zu anderen Vergnügungen betrachten. Das »Kartenspiel« steht symbolisch für banale Unterhaltung, die keinerlei geistige Tiefe verlangt. Es entlarvt eine oberflächliche Haltung gegenüber der Kunst: Sie dient lediglich als Lückenfüller zwischen anderen Zerstreuungen.
Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen.126
Auch dieser Vers thematisiert ein hedonistisch ausgerichtetes Publikum. Der »eine« sucht seine Erfüllung nicht in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Drama, sondern in einer »wilden Nacht« – einem Bild sexueller Ausschweifung. »Dirne« ist abwertend und verweist auf eine käufliche Frau. In Kombination mit dem ersten Vers ergibt sich ein Bild des Theaters als bloßer gesellschaftlicher Ort, eingebettet in eine Abfolge banaler oder triebhafter Vergnügungen.
Was plagt ihr armen Thoren viel,127
Mit diesem Vers beginnt eine direkte Anrede an Dichter oder Künstler. Der Direktor kommentiert mit einem Anflug von Spott: »Was plagt ihr euch nur so sehr?« Das Adjektiv »arm« bringt Mitleid oder Ironie zum Ausdruck; »Thoren« verweist auf eine gewisse Torheit, also eine vergebliche Mühe. Er spricht jene an, die sich bemühen, echte Kunst zu schaffen – und hält das im Kontext des oben beschriebenen Publikums für vergeblich.
Zu solchem Zweck, die holden Musen?128
Die rhetorische Frage bringt den Zynismus des Direktors auf den Punkt: Warum bemüht man sich überhaupt, die »holden Musen« (Inspiration, künstlerischer Geist, göttliche Eingebung) anzurufen, wenn das Publikum letztlich nur banale Ablenkung sucht? Die »Musen« stehen hier für die hohe, idealistische Kunst, deren Zweck hier ironisch als sinnlos erscheint, da sie auf kein empfängliches Publikum trifft.
Zusammenfassend 125-128
Diese vier Verse sind eine zynisch-pragmatische Stellungnahme des Direktors zur Rolle der Kunst im Theaterbetrieb. Er macht deutlich, dass viele Zuschauer das Theater nicht als Ort der geistigen oder seelischen Erhebung verstehen, sondern als bloße Etappe im Streben nach weltlichen Genüssen. Die Künstler, die dennoch in idealistischer Weise die Musen anrufen, erscheinen ihm wie »arme Thoren«. Damit stellt Goethe früh im Drama die Spannung zwischen Kunstideal und realer Wirkung beim Publikum heraus – ein zentrales Thema nicht nur in Faust, sondern in der Kunstauffassung der Weimarer Klassik insgesamt.
Ich sag’ euch, gebt nur mehr, und immer, immer mehr,129
Der Direktor beginnt mit einer imperativen Mahnung an die Schauspieler oder Autoren: Sie sollen dem Publikum immer mehr bieten – mehr Spektakel, mehr Reiz, mehr Unterhaltung.
Die Wiederholung »immer, immer« verstärkt das Prinzip der Steigerung und suggeriert einen nie endenden Leistungsdruck, der auf dem Theater lastet. Gleichzeitig wird eine ökonomische Logik sichtbar: Der Erfolg bemisst sich an der Quantität des Gebotenen.
So könnt ihr euch vom Ziele nie verirren,130
Das »Ziel« ist für den Direktor nicht künstlerische Tiefe oder Wahrheit, sondern Publikumserfolg. Wer dem Publikum »immer mehr« bietet, bleibt – nach seiner Logik – auf dem rechten Weg.
Verirren impliziert, dass es leicht wäre, sich im Labyrinth künstlerischer Ambition zu verlieren, wenn man nicht pragmatisch bleibt.
Sucht nur die Menschen zu verwirren,131
Dieser Vers wirkt auf den ersten Blick paradox: Warum soll man das Publikum verwirren?
Doch »verwirren« meint hier nicht unbedingt »verunsichern« im intellektuellen Sinn, sondern eher: emotional aufwühlen, verblüffen, bannen, vielleicht auch blenden.
Der Direktor empfiehlt eine Strategie der Effekte, der Sensationen, um Aufmerksamkeit zu sichern. Tiefe Reflexion ist für ihn sekundär – es geht um unmittelbare Wirkung.
Sie zu befriedigen ist schwer – –132
Ein halb resignierter Nachsatz: Das Publikum ist schwer zufriedenzustellen.
Der Gedankenstrich am Ende suggeriert, dass der Direktor darüber hinaus noch mehr sagen könnte, aber auch, dass hinter seiner Strategie eine gewisse Frustration steckt – man muss immer mehr leisten, um überhaupt einen Effekt zu erzielen.
Das Publikum wird als launisch dargestellt, schwer zufriedenzustellen – was seine manipulative Behandlung zu rechtfertigen scheint.
Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen?133
Diese rhetorische Frage stellt das Theater vor eine Zuspitzung: Was wollt ihr dem Publikum bieten? Rauschhafte Freude (Entzückung) oder leidenschaftliches Mit-Leiden (Schmerzen)?
Beide Optionen sind starke Affekte – es geht um extremes emotionales Erleben. Der Direktor betont hier erneut: Das Theater soll affizieren, bewegen, rühren – ganz gleich in welche Richtung.
Zusammenfassend 129-133
Diese Passage bringt die Haltung des Direktors als Vertreter eines publikumsorientierten, effektgeladenen Theaters auf den Punkt. Er steht im Kontrast zum Dichter (der Kunstwahrheit sucht) und dem Lustigen (der zur Unterhaltung neigt), indem er betont: Wirkung ist alles – Tiefe ist zweitrangig, solange das Publikum beeindruckt wird. Das Thema Kunst versus Kommerz wird hier in prägnanter Form entfaltet.
Diese fünf Verse (Faust I, Vorspiel auf dem Theater, V. 129–133) sprechen in dichter Verdichtung zentrale psychologische und philosophische Fragen des Theaters, der Kunst und der menschlichen Natur an. Goethes Direktor steht dabei für eine spezifische Perspektive auf Kunstproduktion im Spannungsfeld zwischen Wirkung, Publikumserwartung und Wahrheit.
Psychologische Dimension
Psychologisch formuliert der Direktor eine zutiefst ambivalente Sicht auf das Verhältnis zwischen Publikum und Kunst:
Reizüberflutung als Prinzip: »Gebt nur mehr, und immer, immer mehr« ist die Maxime einer auf permanente Reizsteigerung setzenden Unterhaltung. Der Direktor spricht hier das Prinzip der Steigerung an, das psychologisch einem suchthaften Mechanismus ähnelt: Die Menschen brauchen immer stärkere Reize, um überhaupt zu reagieren. Das verweist auf Sensationslust, aber auch auf eine tiefere Unruhe des modernen Subjekts, das ohne Überreizung keine Erfahrung mehr machen kann.
Verwirrung statt Orientierung: »Sucht nur die Menschen zu verwirren« zeigt ein bewusstes Spiel mit Desorientierung – im Gegensatz zum klassischen Bildungsideal, das auf Klarheit, Ordnung und Einsicht zielte. Der Direktor setzt auf emotionale und kognitive Desorientierung als Mittel der Bindung: Das Publikum wird durch Irritation gefesselt.
Unstillbarkeit des Publikums: »Sie zu befriedigen ist schwer« deutet eine Grundunzufriedenheit des Menschen an – ein Motiv, das Fausts Streben durch das ganze Drama hindurch charakterisiert. Psychologisch betrachtet, spricht der Vers die Unmöglichkeit vollständiger Sättigung des menschlichen Begehrens an – ein Vorgriff auf die zentrale Faust-Thematik.
Affektiver Umschlag: Mit der Frage »Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen?« wird ein polarer Spannungsbogen aufgerufen, der zeigt, dass Kunst nicht bloß erfreuen will, sondern die gesamte Bandbreite affektiver Reaktionen – bis hin zum Schmerz – in Kauf nehmen muss. Die Reaktion des Publikums ist nicht rational steuerbar, sondern affektiv geprägt.
Philosophische Dimension
Philosophisch steht diese Passage im Spannungsfeld zwischen Kunst als Unterhaltung und Kunst als existenzieller Herausforderung:
Ästhetik der Wirkung vs. Wahrheit: Der Direktor denkt pragmatisch und utilitaristisch: Die Wirkung zählt, nicht Wahrheit oder Erkenntnis. Dies steht im Gegensatz zur idealistischen Kunstauffassung eines Schiller oder Goethe selbst, für die Kunst Bildung, Läuterung und Erhebung bedeutet.
Kritik an der Massenkultur: Der Direktor ist Vorläufer moderner Theorien der Massenästhetik. Er geht davon aus, dass das Publikum nicht durch Tiefe, sondern durch Effekt gewonnen wird. Das verweist auf eine frühe Diagnose der Oberflächlichkeit massenkultureller Unterhaltung, die später Adorno und Benjamin aufnehmen.
Anthropologische Konstante der Unruhe: Die Schwierigkeit, »die Menschen zu befriedigen«, lässt sich als Verweis auf eine strukturelle Unruhe des Menschen lesen – wie sie etwa bei Schopenhauer (Wille ohne Ziel) oder in der Moderne bei Freud (Triebstruktur) thematisiert wird. Der Mensch ist ein Wesen, das aus dem Mangel lebt – und Kunst muss diesen Mangel bedienen oder spiegeln.
Affekt als ästhetische Wahrheit: Entzückung und Schmerzen stehen nicht nur für Reaktionen, sondern für den Grundcharakter künstlerischer Erfahrung. Hier klingt eine tragische Kunstauffassung an: Wahre Kunst erzeugt Schmerz – oder wenigstens Erschütterung. Das lässt sich bis zur antiken Katharsis-Theorie zurückverfolgen.
Diese fünf Verse spiegeln in verdichteter Form Goethes Reflexion über die Ambivalenz der Theaterkunst: zwischen Manipulation und Menschenkenntnis, zwischen Unterhaltung und Wahrheit, zwischen Chaos und Ordnung. Der Direktor vertritt nicht nur eine Bühnenfigur, sondern eine ganze Haltung zur Welt und zur Kunst – psychologisch als Spieler mit der Unruhe des Menschen, philosophisch als Vertreter einer auf Wirkung getrimmten Ästhetik.