Vorspiel auf dem Theater. (3)
Director, Theaterdichter, lustige Person.
Lustige Person.
Wenn ich nur nichts von Nachwelt hören sollte.75
Dieser Vers ist ein Ausdruck deutlicher Abwehrhaltung gegenüber der sogenannten »Nachwelt«. Die lustige Person äußert hier ironisch oder sogar resignativ ihren Unwillen, sich mit dem Urteil kommender Generationen zu beschäftigen.
»Wenn ich nur nichts … hören sollte«: Der Konjunktiv II betont einen Wunsch, eine hypothetische, aber nicht erfüllte Bedingung.
»Nachwelt« bezeichnet die spätere Öffentlichkeit, das zukünftige Publikum oder die Nachkommenschaft der Gegenwart.
Implizit ist Kritik an einer Überhöhung des »ewigen Ruhms« oder an einem übermäßigen Ernst, den manche Künstler dem Nachruhm beimessen.
Hier spricht ein Typus von Theatermensch, dem es eher um gegenwärtige Wirkung als um bleibende Bedeutung geht – ein Motiv, das im gesamten Vorspiel zwischen Direktor, Dichter und Lustiger Person verhandelt wird.
Gesetzt daß ich von Nachwelt reden wollte,76
»Gesetzt, daß …« ist eine Formulierung, die einem logischen Gedankenexperiment gleichkommt: eine Annahme, die der Sprecher aber nicht wirklich vertritt.
Dieser Vers stellt eine rein hypothetische Annäherung an das Thema der Nachwelt dar.
Die Aussage ist damit rein rhetorisch: selbst wenn er über Nachwelt reden wollte, was er de facto nicht will (siehe Vers 75), dann… (die Fortsetzung folgt im nächsten Vers).
Es handelt sich also um eine ironisch distanzierte Form der Argumentation. Die lustige Person parodiert hier auch den idealistischen Anspruch, Kunst müsse vor allem der Unsterblichkeit oder einem zukünftigen Publikum dienen. Ihr ist die unmittelbare Wirkung im Theaterraum wichtiger als das Urteil der Geschichte.
Zusammenschau der Verse 75 und 76
Diese beiden Verse eröffnen eine pointierte Kritik an einer Kunstauffassung, die sich zu sehr an zukünftigen Idealen orientiert, statt im Hier und Jetzt zu wirken. Damit bringt Goethe durch die lustige Person die Spannung zwischen idealistischer Kunst und publikumswirksamer Unterhaltung auf den Punkt – ein zentrales Thema des gesamten Vorspiels auf dem Theater.
Wer machte denn der Mitwelt Spaß?77
Rhetorische Frage: Die Lustige Person stellt eine Frage, auf die sie die Antwort bereits kennt oder rhetorisch vorbereitet. Diese Technik dient dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Zustimmung zu sichern.
»Mitwelt«: Ein bedeutungsschweres Wort – es meint sowohl die gegenwärtige Welt als auch das zeitgenössische Publikum. Goethe greift damit den Anspruch des Theaters auf, für das Hier und Jetzt zu wirken.
»Spaß«: Der Begriff weist auf das Bedürfnis nach Unterhaltung hin – das Theater soll Vergnügen bereiten.
Die Zeile stellt die Funktion des Künstlers infrage und zugleich heraus: Wer sorgt für Heiterkeit und Unterhaltung in einer ernsten, unruhigen Welt?
Die implizite Antwort lautet: Wir, das Theater! – der Künstler wird zum Vermittler von Lebensfreude.
Den will sie doch und soll ihn haben.78
»Den will sie doch«: Das Publikum verlangt Spaß. Der Wille der Mitwelt wird als Fakt konstatiert – sie fordert Vergnügen.
»und soll ihn haben«: Der zweite Teil drückt eine beinahe pädagogische Großzügigkeit aus: Was das Publikum will, soll es auch bekommen.
Im Subtext liegt aber auch Ironie: Ist es Aufgabe der Kunst, bloß zu geben, was gewünscht wird? Oder ist das Zugeständnis strategisch – um später mehr Tiefe einzuschmuggeln?
Es spricht die Spannung zwischen ästhetischer Ernsthaftigkeit und populärer Zugänglichkeit an – ein zentrales Thema des Vorspiels.
Zusammenschau der Verse 77 und 78
Diese beiden Verse gehören zur Stimme der »Lustigen Person«, die im Vorspiel auf dem Theater das Bedürfnis nach Unterhaltung gegen die höheren Ideale des Dichters verteidigt. Goethe macht hier auf unterhaltsame Weise ein grundsätzliches Problem des Theaters sichtbar: Wie kann Kunst gleichzeitig gefallen und erziehen?
Die Figur argumentiert pragmatisch: Das Theater soll das Publikum erfreuen – sonst bleibt es leer. Doch zwischen den Zeilen spürt man, dass diese Forderung mehr ist als bloße Oberflächlichkeit: Sie ist ein Aufruf, das Leben – trotz aller Tiefe – nicht ohne Heiterkeit zu denken.
Die Gegenwart von einem braven Knaben79
Dieser Vers wird von der lustigen Person gesprochen, einer Figur des Theater-Vorspiels, die für das unterhaltungsorientierte Element im Spiel steht. Der Ausdruck »braver Knabe« verweist nicht nur auf einen anständigen, vielleicht sittsamen oder angenehmen jungen Mann, sondern trägt eine Doppelschicht: Einerseits verweist er auf die Tugendhaftigkeit (»brav« im Sinne von artig, moralisch), andererseits auch auf eine gewisse Unbedenklichkeit, eine nicht-komplexe, womöglich einfältige Gemütlichkeit, die dem Publikum gefallen könnte.
Die »Gegenwart« dieses Knaben steht im Zentrum. »Gegenwart« kann hier doppeldeutig verstanden werden: als körperliches Dasein auf der Bühne, aber auch im übertragenen Sinn als Präsenz, als Wirkung seiner Person. Die Redeweise ist bewusst schlicht gehalten und hat etwas umgangssprachlich-lapidars, was zur volkstümlichen Haltung der lustigen Person passt.
Ist, dächt’ ich, immer auch schon was.80
Die Formulierung »dächt’ ich« (= »dächte ich«) weist auf eine subjektive, nicht fest behauptete, sondern eher gesprächsweise geäußerte Meinung hin – ein typischer Zug der lustigen Person, die sich nicht dogmatisch, sondern einladend, fast kumpelhaft äußert. »Immer auch schon was« ist eine reduzierte, salopp-affirmative Aussage. Sie sagt nicht viel – und will auch nicht viel sagen: Es sei eben etwas, wenn ein braver Knabe anwesend ist. Das »auch schon« verleiht dem Ganzen einen Hauch von Resignation oder pragmatischer Genügsamkeit: Man darf nicht zu viel verlangen – aber etwas ist es doch.
Diese Aussage bringt die Haltung der lustigen Person auf den Punkt: Sie sucht keine überhöhte Kunst oder komplexe seelische Konflikte, sondern schlichtes, angenehmes Vergnügen, das sich bereits durch eine sympathische Bühnenfigur einstellt.
Zusammenschau der Verse 79 und 80
Die beiden Verse zeichnen ein Bild vom einfachen Theatergenuss, wie ihn die lustige Person befürwortet. Es geht nicht um große geistige Tiefe, sondern um Unterhaltung durch vertraute, volkstümliche Figuren. Damit spiegelt Goethe in dieser Rolle die Erwartungshaltung eines Teils des zeitgenössischen Publikums wider – ein zentrales Thema des Vorspiels insgesamt.
Wer sich behaglich mitzutheilen weiß,81
Dieser Vers betont das Ideal einer gelungenen Kommunikation mit dem Publikum.
»Wer sich behaglich«: Das Adjektiv behaglich evoziert Wärme, Gemütlichkeit und eine ungekünstelte Natürlichkeit. Es beschreibt eine Art des Auftretens, das weder geziert noch zwanghaft ist, sondern entspannt und menschennah.
»mitzutheilen weiß«: Das Mitteilen steht hier nicht nur für bloßes Sprechen, sondern für ein teilnehmendes, affektives Einlassen – eine Kunst der Kommunikation, die emotional wie intellektuell »greift«. Die Kombination mit weiß (im Sinne von »versteht«) hebt den bewussten Umgang mit dieser Fähigkeit hervor.
Es wird ein Schauspiel-Ideal beschrieben, das nicht auf Pathos oder bloßen Effekt setzt, sondern auf einen wohltuenden, nahbaren Dialog mit dem Publikum.
Den wird des Volkes Laune nicht erbittern;82
Die Aussage enthält eine Art Trost oder Versicherung.
»Des Volkes Laune«: Das Volk steht hier für das Publikum im Theater. Laune bedeutet nicht nur Stimmung, sondern auch Unbeständigkeit, Launenhaftigkeit, möglicherweise Kritik oder Ablehnung.
»nicht erbittern«: Das Verb erbittern verweist auf eine Reaktion des Künstlers – nämlich Verbitterung oder Groll aufgrund abweisender oder missgünstiger Publikumsreaktion.
Wer sich souverän und freundlich ausdrücken kann, bleibt gegenüber wechselhafter oder ablehnender Publikumsstimmung gefeit. Die Laune des Volkes vermag ihn nicht zu erbittern, da seine Haltung innerlich gefestigt und kommunikativ offen ist.
Zusammenschau der Verse 81 und 82
Diese beiden Verse bringen eine zentrale Theatermaxime zum Ausdruck: Gelungene Darstellung liegt weniger in Effekten oder künstlicher Erhabenheit, sondern in einer behaglichen, menschenzugewandten Mitteilungsweise. Wer diese Kunst beherrscht, verliert nicht den Mut, selbst wenn das Publikum einmal ungnädig ist. Es klingt auch ein Stoizismus an – eine gelassene Selbstsicherheit im Umgang mit öffentlicher Meinung.
Er wünscht sich einen großen Kreis,83
Das Personalpronomen »Er« verweist auf den Dichter oder Künstler im Allgemeinen – oder auch auf den Theaterdichter im besonderen Kontext dieses Vorspiels. Der »große Kreis« ist metonymisch zu verstehen: Gemeint ist ein zahlreiches Publikum. Die Verwendung von »wünscht sich« betont das Streben des Künstlers nach Wirkung, nach einem weiten Wirkungskreis. Das Bild des »Kreises« verweist zugleich auf die räumliche Situation des klassischen Theaters (Zuschauer im Rund) und auf das soziale Kollektiv, das erreicht werden soll. Es geht also um die Sehnsucht nach Breitenwirkung: Kunst soll nicht elitär bleiben, sondern ein großes, möglichst heterogenes Publikum ansprechen.
Um ihn gewisser zu erschüttern.84
Das Ziel dieser Wunschäußerung ist die »Erschütterung« des Publikums – und zwar gewisser, also mit größerer Sicherheit, tiefer, nachhaltiger. Der Begriff »erschüttern« trägt eine doppelte Bedeutungsschicht: Zum einen verweist er auf emotionale Bewegung (Rührung, Ergriffenheit), zum anderen auf eine Art geistiger Aufruhr oder Herausforderung. Der Dichter will nicht nur unterhalten, sondern das Publikum innerlich bewegen – bis hin zur Erschütterung ihrer bisherigen Wahrnehmung oder Haltung. Durch das größere Publikum wird die Wirkung nicht abgeschwächt, sondern gerade verstärkt – weil sich der Effekt durch die Masse bestätigt.
Zusammenschau der Verse 83 und 84
Die beiden Verse formulieren ein ästhetisches Grundmotiv Goethes: Die Kunst soll nicht nur gefallen, sondern wirken – und zwar mit Kraft. Die Lustige Person bringt damit (wenn auch komisch zugespitzt) ein ernstes Ideal zur Sprache: Die Verbindung von Wirkung und Reichweite. Im Kontext des Vorspiels, das verschiedene Positionen über das Theater (Direktor, Dichter, Lustige Person) aufeinandertreffen lässt, steht dieser Ausspruch für eine Position zwischen Kunstanspruch und Publikumswirksamkeit. Die Lustige Person nimmt den Effekt ernst, auch wenn sie das Ganze komödiantisch formuliert.
Drum seyd nur brav und zeigt euch musterhaft,85
»Drum« verweist kausal auf das zuvor Gesagte – die Aufforderung, sich dem Publikum mit aller Kunst zu präsentieren. Das »Drum« bedeutet also: Aus diesem Grund sollt ihr euch jetzt entsprechend verhalten.
»seyd nur brav« bedeutet hier nicht brav im modernen Sinne von gehorsam oder artig, sondern eher: seid tüchtig, seid tapfer, seid beherzt. Es ist eine Ermunterung, Mut und Engagement zu zeigen.
»zeigt euch musterhaft« ruft zur Vorbildlichkeit auf: Die Schauspieler sollen ein Ideal darstellen – in ihrem künstlerischen Ausdruck ebenso wie im moralischen Anspruch der Darstellung.
Insgesamt liegt in dieser Zeile eine Mischung aus Aufruf und Appell: sich der Aufgabe mit Ernsthaftigkeit, Engagement und Würde zu widmen – das Theater als moralische Bühne.
Laßt Phantasie, mit allen ihren Chören,86
Der Satz ist elliptisch und bleibt grammatisch unvollständig – er wird erst im Folgevers ergänzt, aber hier bereits liegt ein zentraler poetischer Appell vor.
»Laßt Phantasie« heißt: Gebt der Phantasie Raum, gestattet ihr den Auftritt, öffnet euch ihr. Der Imperativ hat fast beschwörenden Charakter: Die Vorstellungskraft, das Imaginäre, soll sich entfalten dürfen.
»mit allen ihren Chören« ist eine poetische Erweiterung: Die Phantasie erscheint nicht isoliert, sondern begleitet von »Chören« – also von einer Vielzahl von Stimmen, Figuren, Bildern, Empfindungen. Dies evoziert eine sinnesreiche, polyphone, fast theatralische Phantasie, die sich in Szenen, Rollen, Vielstimmigkeit ausdrückt.
Zusammenschau der Verse 85 und 86
Die Lustige Person ruft das Theaterpersonal dazu auf, sich engagiert und beispielhaft zu zeigen. Gleichzeitig soll der Bühne die volle Macht der Phantasie erlaubt sein – nicht als nüchterne Darstellung, sondern als festlicher, vielstimmiger Auftritt der Vorstellungskraft.
Der Beginn von Goethes Faust betont also nicht nur die ästhetische Dimension der Kunst, sondern auch ihre imaginative und moralische Funktion. Die Phantasie erscheint als schöpferische Macht – aber ihr Gelingen hängt ab von der Haltung der Künstler.
Hier ist eine Vers-für-Vers-Analyse von Goethes Faust I, Vorspiel auf dem Theater, Verse 87–88:
Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,87
Dieser Vers ist eine Aufzählung von vier fundamentalen Kräften oder Fähigkeiten des Menschen. Sie werden gleichwertig nebeneinandergestellt und bilden ein Spektrum geistiger und seelischer Potenziale:
Vernunft steht für das reflektierende, moralisch-ethische Denken.
Verstand verweist auf die analytische, logische Urteilsfähigkeit.
Empfindung bringt das emotionale Mitgefühl und die Sinnlichkeit ins Spiel.
Leidenschaft schließlich steht für die innere Glut, das vitale Streben, auch für das exzessive, überwältigende Moment.
Diese vier Begriffe bilden gemeinsam eine Art anthropologische Grundausstattung des Menschen – zugleich aber auch einen Kanon der Theatermittel: Sie stehen für das, was ein Schauspiel inhaltlich wie ästhetisch bieten soll.
Im Kontext des Theaters heißt das: Das Stück soll nicht nur belehren oder bewegen, sondern alle Facetten des menschlichen Daseins spiegeln. Diese Forderung lässt sich als programmatischer Anspruch an die Dichtung deuten – ganz im Sinne Goethes und Schillers, die das Theater als moralisch-ästhetische Erziehungsanstalt des Menschen sahen.
Doch, merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören.88
Mit diesem Vers wird die vorherige Ernsthaftigkeit gebrochen und ein Gegenakzent gesetzt:
»Doch« ist ein einschränkendes Konjunktionaladverb und signalisiert eine Korrektur oder Ergänzung.
»merkt euch wohl!« ist eine imperativische Aufforderung, fast belehrend: Das Publikum soll diesen Zusatz besonders beachten.
»nicht ohne Narrheit«: Hier wird betont, dass bei allem Tiefsinn und Ernst auch das Komische, Absurde oder Überdrehte – eben die Narrheit – nicht fehlen darf.
»hören« bezieht sich nicht nur auf das akustische Erfassen, sondern auf das Erleben des Stückes insgesamt.
Goethe verankert hier die Notwendigkeit des Humors, der Ironie oder sogar der Groteske im Theater: Ohne Narrheit bleibt das Spiel unvollständig. Das erinnert an die Tradition des »narrenweisen Sprechens«, wie es z. B. im Hofnarren des elisabethanischen Theaters, aber auch im deutschen Fastnachtsspiel begegnet.
Zusammenschau der Verse 87 und 88
Diese zwei Verse bringen einen zentralen poetologischen Anspruch Goethes auf den Punkt: Ein gutes Drama soll sowohl intellektuell fordern als auch emotional berühren, es soll leidenschaftlich sein – aber nicht ohne Humor, Selbstironie und das Spiel mit dem Absurden auskommen.
Gerade im Kontext des »Vorspiels auf dem Theater« wird hier das ästhetische Programm umrissen: Das Theater braucht Tiefsinn, aber auch Unterhaltung – Weisheit und Witz, Philosophie und Narrheit.