faust-1-02-1-vorspiel auf dem theater

Vorspiel auf dem Theater. (1)

Director, Theaterdichter, lustige Person.

Director.
Ihr beyden die ihr mir so oft,33
Dieser Vers ist die Anrede des Direktors an die beiden anderen Figuren: Dichter und Lustige Person.
»Ihr beyden« (heutige Schreibweise: ihr beiden) stellt eine direkte Anrede im vertraulichen Ton dar, was auf eine gewisse Nähe oder gemeinsame Geschichte hinweist.
»die ihr mir so oft«: Hier beginnt ein Relativsatz, der auf vergangene Erfahrungen verweist. Das Personalpronomen »mir« zeigt, dass der Sprecher subjektiv spricht – er ruft seine langjährigen Mitarbeiter oder Mitstreiter an, die ihm gedient haben.
Diese Formulierung baut eine emotionale oder kollegiale Beziehung auf, möglicherweise aber auch eine strategisch-inszenatorische Nähe, um Motivation zu erzeugen.

In Noth und Trübsal, beygestanden,34
Dieser Vers vervollständigt den Relativsatz aus dem vorigen Vers: »die ihr mir … beigestanden.«
»In Noth und Trübsal« signalisiert schwierige, möglicherweise existenzielle Krisen. Es sind stark emotional gefärbte Begriffe: Not steht für äußere Bedrängnis, Trübsal für innere Seelenschwere.
»beygestanden« (heute: beigestanden) meint wörtlich: Hilfe geleistet, Beistand gegeben. Dies verstärkt das Bild von Solidarität und Loyalität in schweren Zeiten.
Zusammenschau der Verse 33 und 34
Der Direktor appelliert an die Treue und vergangene Hilfe seiner Kollegen. Er beginnt das »Vorspiel auf dem Theater« mit einem Ton der Dankbarkeit oder zumindest Anerkennung. Zugleich erfüllt der Moment eine dramaturgische Funktion: Er öffnet die Szene als Metakommentar zum Theaterbetrieb selbst – mit einer Betonung auf gemeinsamer Erfahrung und der Bedeutung kollektiven Tuns, gerade in Krisenzeiten.

Sagt, was ihr wohl, in deutschen Landen,35
Hier spricht der Direktor, der im Vorspiel die wirtschaftlich-pragmatische Stimme im Theaterbetrieb verkörpert.
»Sagt«: Eine direkte Anrede, ein Appell. Der Direktor fordert seine Mitspieler (und indirekt auch das Publikum) auf, sich zu äußern. Dies unterstreicht den dialogischen Charakter des Theaters.
»was ihr wohl«: Diese Wendung klingt höflich, fast demütig, beinhaltet aber auch eine gewisse Erwartungshaltung. Das »wohl« signalisiert Unsicherheit oder Höflichkeitsdistanz.
»in deutschen Landen«: Diese Formulierung lokalisiert das Geschehen und gibt der Aussage nationale Dimension. Goethe verweist auf das damalige Deutschland als Kulisse und Adressat der Dichtung. Gleichzeitig ist es ein ironischer Verweis auf das zersplitterte, kulturhungrige, aber auch kritische Publikum deutscher Kleinstaaten zur Goethezeit.
Der Direktor interessiert sich nicht nur für ein Kunstideal, sondern für den Markt: Was wollen die Leute? Was verkauft sich in deutschen Landen?

Von unsrer Unternehmung hofft?36
»Von unsrer Unternehmung«: Der Begriff »Unternehmung« ist doppeldeutig. Einerseits meint er konkret das geplante Theaterstück – also »Faust«. Andererseits klingt das Wort wie ein Geschäftsprojekt oder Start-up: Kunst als ökonomisches Unternehmen. Dies verweist auf Goethes tiefes Bewusstsein für den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft.
»hofft«: Ein Schlüsselwort. Es geht um Erwartungen, Wünsche, Projektionen – also das, was das Publikum sich erhofft. Nicht: was es verdient, oder was gut für es wäre. Der Direktor stellt damit bewusst den kommerziellen Erfolg und die Erwartungshaltung des Publikums über die autonome Kunst.
Diese rhetorische Frage legt offen, dass Kunst im Theaterbetrieb von Hoffnungen des Publikums abhängig ist – und diese Hoffnungen gilt es zu bedienen, vielleicht sogar zu instrumentalisieren.
Zusammenschau der Verse 35 und 36
Goethe lässt den Direktor hier den Konflikt zwischen künstlerischem Anspruch und Publikumserwartung thematisieren. Der Ton ist geschäftstüchtig, höflich, aber berechnend. Die Dichtung wird zur Ware, der Zuschauer zum Kunden. Indem Goethe diesen Konflikt im »Vorspiel« ausstellt, reflektiert er die Bedingungen von Theater und Dichtung im späten 18. Jahrhundert – und schafft zugleich Raum für Selbstironie und Kritik an den Mechanismen der Kulturbühne.

Ich wünschte sehr der Menge zu behagen,37
Dieser Vers stammt aus dem Mund des Direktors und drückt das zentrale Anliegen eines Theaterunternehmers aus: die Gunst des Publikums zu gewinnen.
»Ich wünschte sehr« betont den starken Wunsch, nicht nur eine beiläufige Absicht.
»der Menge« steht hier für das breite Theaterpublikum, also das Volk, nicht die gebildete Elite. Es klingt leicht abwertend, aber aus Sicht des Direktors ist es eine realistische Zielgruppe.
»zu behagen« meint: gefallen, angenehm sein. Der Fokus liegt also auf Unterhaltung und Zustimmung, nicht auf Belehrung oder künstlerischer Tiefe.
Goethe legt dem Direktor damit eine pragmatische, kommerzielle Haltung in den Mund: Kunst soll nicht vorrangig erziehen oder erheben, sondern ankommen.

Besonders weil sie lebt und leben läßt.38
Dieser Vers ist raffinierter als er zunächst wirkt – er enthält eine subtile Argumentation für die Kompromisse mit dem Publikum.
»sie lebt«: Die Menge ist lebendig, voller Vitalität – ein Hinweis auf das bunte, unmittelbare Leben, das das Theater abbilden soll.
»und leben läßt«: Das bedeutet nicht nur, dass das Publikum tolerant sei, sondern dass es durch seinen Besuch das Theater überhaupt ermöglicht – es gibt dem Künstler »das Leben«, also die Existenzgrundlage.
In diesem Ausdruck steckt fast schon eine paradoxe Entschuldigung: Wer das Theater finanziell »am Leben lässt«, verdient es, dass man ihn nicht allzu sehr herausfordert. Der Vers kann sowohl als Ausdruck von Toleranz als auch von Abhängigkeit gelesen werden.
Zusammenschau der Verse 37 und 38
Diese beiden Verse stehen exemplarisch für die Spannung im »Vorspiel«: Kunstanspruch versus Publikumsgunst. Der Direktor argumentiert für eine volksnahe Kunst, die unterhält, nicht unbedingt erzieht. Goethe lässt hier die Diskussion um die Funktion der Kunst in einer bürgerlichen Gesellschaft lebendig werden – eine Diskussion, die sich durch das gesamte Werk zieht.

Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen,39
Dieser Vers spielt auf die physische Bühne an, also auf das Theater selbst: »Pfosten« und »Bretter« sind die tragenden Bauelemente, die den Bühnenraum definieren.
»Pfosten« symbolisieren das Gerüst, das den Bühnenraum trägt – damit auch die Struktur des gesamten Theaterspiels.
»Bretter« stehen in klassischer Theatersprache für »die Bretter, die die Welt bedeuten« – also für das Theater als Kunstform selbst.
»aufgeschlagen« bedeutet hier sowohl das physische Errichten der Bühne als auch das Aufschlagen eines Buches oder einer Geschichte: Das Schauspiel beginnt, die Welt der Fiktion wird geöffnet.
Insgesamt erzeugt der Vers eine Atmosphäre der Erwartung: Alles ist vorbereitet, der Raum der Kunst ist nun offen für das Kommende.

Und jedermann erwartet sich ein Fest.40
Hier wird die Stimmung des Publikums beschrieben: eine gespannte, freudige Erwartung.
»jedermann« betont die Universalität des Theaters: Es spricht nicht nur eine Elite an, sondern die ganze Gesellschaft.
»erwartet sich« zeigt, dass das Publikum nicht passiv ist, sondern sich aktiv Genuss, Erhebung, Unterhaltung verspricht.
»ein Fest« ist eine doppeldeutige Metapher: Zum einen verweist sie auf Unterhaltung und Vergnügen, zum anderen auf die Kunst als Feier des Geistes. Das Theater wird also nicht als bloße Ablenkung, sondern als bedeutungsvolles Ereignis dargestellt.
Es schwingt hier auch ein leichter ironischer Unterton mit: Die hohe Erwartungshaltung des Publikums stellt eine Herausforderung für das Theater dar – und verweist auf die zentrale Frage des Vorspiels: Welche Kunst soll dargeboten werden?
Zusammenschau der Verse und
In ihrer Verbindung zeigen beide Verse: Die Bühne ist bereitet, das Publikum voller Vorfreude – doch dies ist nur der Auftakt zu der Diskussion über Inhalt, Anspruch und Wirkung des Theaters, die das Vorspiel auf dem Theater entfalten wird.

Sie sitzen schon, mit hohen Augenbraunen,41
»Sie sitzen schon«: Gemeint ist das Publikum, das bereits im Theater Platz genommen hat. Die Formulierung hebt hervor, dass das Publikum bereit ist – physisch anwesend, aber auch in einer Erwartungshaltung.
»mit hohen Augenbraunen«: Diese ungewöhnliche Wendung beschreibt einen Gesichtsausdruck des Publikums. Hochgezogene Augenbrauen können mehrere Dinge andeuten: Skepsis, Überraschung, kritische Erwartung oder ironische Distanz.
Es klingt, als seien die Zuschauer einerseits reserviert, andererseits bereit zu staunen – aber nicht naiv begeistert, sondern mit einer gewissen kultivierten, vielleicht sogar überheblichen Attitüde.
Die Formulierung ist auch leicht ironisch: Das Theaterpersonal – in diesem Fall der Direktor – ist sich bewusst, dass es ein anspruchsvolles oder verwöhntes Publikum ist, das schwer zu beeindrucken sein könnte.

Gelassen da und möchten gern erstaunen.42
»Gelassen da«: Das Publikum verhält sich ruhig, fast unbewegt – wiederum eine Beschreibung distanzierter Beobachtung. »Gelassenheit« kann hier doppeldeutig sein: Einerseits bedeutet es innere Ruhe, andererseits auch emotionale Abgeklärtheit oder Desinteresse.
»und möchten gern erstaunen«: Diese Wendung ist paradox und psychologisch fein: Die Zuschauer wollen erstaunt werden – sie sehnen sich nach einem Erlebnis, das sie aus ihrer Gelassenheit herausreißt.
Das Verb »möchten gern« zeigt eine passive Bereitschaft zum Staunen, aber keine aktive Offenheit: Das Erstaunen soll ihnen geboten werden.
Zusammenschau der Verse 41 und 42
Goethe beschreibt hier mit ironischer Präzision ein typisches bürgerliches Theaterpublikum: intellektuell anspruchsvoll, distanziert, aber dennoch hungrig nach geistigem und emotionalem Erleben.
Die Szene wirft auch die Frage auf, wie ein Kunstwerk beschaffen sein muss, um dieses Publikum zu erreichen – eine zentrale Fragestellung des gesamten Vorspiels auf dem Theater und letztlich des ganzen Dramas.
Es handelt sich also nicht nur um eine Beobachtung, sondern auch um eine Meta-Reflexion über Theater, Publikumserwartung und künstlerische Verantwortung.

Ich weiß wie man den Geist des Volks versöhnt;43
Der Direktor bringt hier seine Erfahrung im Umgang mit dem Publikum zum Ausdruck. Das »Versöhnen« des Geistes des Volks meint nicht etwa einen moralischen oder philosophischen Ausgleich, sondern zielt auf die Kunst des Theaters, ein möglichst breites Publikum zufriedenzustellen.
»Ich weiß« betont Selbstsicherheit und Kompetenz. Der Direktor stellt sich als jemand dar, der sein Handwerk versteht.
»den Geist des Volks« verweist auf die kollektive Mentalität oder Stimmungslage der Zuschauer. Goethe spielt hier mit der Idee eines »Volksgeistes«, der lenkbar ist.
»versöhnt« suggeriert, dass zwischen Bühne und Publikum ein potenzieller Konflikt oder eine Spannung besteht, die durch das richtige Theaterstück beigelegt werden kann.
Goethe reflektiert hier metatheatral über die Frage: Wie kann Theater das Publikum berühren oder zufriedenstellen? Der Direktor steht für das populäre Theater, das unterhalten soll.

Doch so verlegen bin ich nie gewesen;44
Dieser Vers stellt einen Kontrast zum vorherigen dar. Obwohl der Direktor sich seiner Fähigkeit sicher ist, den »Geist des Volks« zu versöhnen, gesteht er eine ungewöhnliche Unsicherheit.
»Doch« leitet den Gegensatz ein: Trotz seiner Erfahrung herrscht nun Ratlosigkeit.
»so verlegen« bedeutet: in einer misslichen Lage, ohne Ausweg, peinlich berührt, unsicher.
»nie gewesen« unterstreicht, dass diese Situation selbst für ihn als erfahrenen Praktiker neu und beunruhigend ist.
Die Aussage ist doppeldeutig: Einerseits wirkt sie wie ein rhetorischer Kunstgriff, um Spannung aufzubauen und die Dringlichkeit der Lage zu betonen; andererseits zeigt sie, dass das bevorstehende Werk – eben »Faust« – keine gewöhnliche Unterhaltung ist, sondern eine Herausforderung.
Zusammenschau der Verse 43 und 44
Diese Zeilen spiegeln den inneren Zwiespalt des Theaters wider: Zwischen künstlerischem Anspruch (repräsentiert durch den Dichter), technischer Umsetzung (der Lustige) und dem pragmatischen Bedürfnis nach Publikumserfolg (der Direktor). Der Direktor bewegt sich zwischen Selbstbewusstsein und Verlegenheit – ein Bild für den Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, das Goethe selbst als Theaterleiter nur zu gut kannte.

Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt,45
Dieser Vers bringt eine kritische Einschätzung des Publikums zum Ausdruck. Der Direktor spricht hier über die Zuschauer, vermutlich ein bürgerliches Theaterpublikum. Das Wort »zwar« signalisiert eine Einschränkung oder ein Zugeständnis.
»An das Beste nicht gewöhnt« heißt, dass das Publikum bislang nicht mit besonders hoher künstlerischer Qualität konfrontiert wurde – zumindest nach Meinung des Direktors. Es klingt eine gewisse Herablassung an: Die Leute kennen keine anspruchsvolle Kunst, daher muss man auch nicht allzu hohe Maßstäbe anlegen, um sie zufriedenzustellen.

Allein sie haben schrecklich viel gelesen.46
»Allein« bedeutet hier so viel wie »aber« oder »doch« – ein Gegensatz zur ersten Zeile. Trotz ihrer mangelnden Gewöhnung an »das Beste«, haben sie »schrecklich viel gelesen«.
Die Formulierung »schrecklich viel« ist doppeldeutig: Sie kann sowohl die Menge (»sehr viel«) als auch eine qualitative Wertung andeuten (»auf erschreckende Weise viel«, mit negativer Konnotation).
Das Publikum hat sich also eine gewisse Belesenheit angeeignet, vermutlich autodidaktisch – vielleicht sogar oberflächlich oder unkritisch, was ihre Urteilsfähigkeit infrage stellt.
Im Subtext steckt Kritik an einer gebildeten, aber nicht differenziert urteilenden Zuschauerschaft: Sie kennen viele Texte, aber haben kein Gespür für Qualität oder künstlerischen Rang.
Zusammenschau der Verse 45 und 46
Diese beiden Verse spiegeln Goethes ironisch-distanziertes Spiel mit dem Theaterbetrieb wider. Der Direktor steht für die pragmatische Seite des Theaters: Er muss die Zuschauer unterhalten und will sie zufriedenstellen, ohne sich mit künstlerischen Idealen zu sehr zu belasten. Die Einschätzung des Publikums schwankt zwischen Geringschätzung und Anerkennung ihres theoretischen (aber nicht künstlerischen) Anspruchs. Die Zeilen gehören zum Metadiskurs über Kunst und Publikum, der sich durch das ganze Vorspiel zieht.

Wie machen wir’s? daß alles frisch und neu47
Dieser Vers eröffnet mit einer rhetorischen Frage. Der Direktor stellt die zentrale Herausforderung des Theaters vor: Wie kann man das Publikum immer wieder überraschen, unterhalten und begeistern?
»Wie machen wir’s?« – Diese Wendung signalisiert praktischen Handlungswillen. Der Direktor denkt in Kategorien der Umsetzung, nicht der Theorie.
»daß alles frisch und neu« – Die Forderung nach »Frische« und »Neuheit« verweist auf das zeitlose Bedürfnis nach Innovation in der Kunst. Das Publikum soll etwas erleben, das noch nicht abgenutzt ist, das es noch nicht kennt.
Goethe reflektiert hier eine Spannung, die bis heute in Kunst und Theater besteht: Originalität als Erwartungshaltung.

Und mit Bedeutung auch gefällig sey.48
Hier fügt der Direktor eine Doppelanforderung hinzu: Nicht nur Neuheit, sondern auch SinnBedeutung«) und gleichzeitig Gefälligkeit.
»mit Bedeutung« – Dies verweist auf einen Anspruch an inhaltliche Tiefe, geistige Substanz oder moralischen Gehalt. Theater soll nicht nur unterhalten, sondern auch etwas vermitteln.
»auch gefällig« – Hier zeigt sich ein Spannungsfeld: Das Bedeutungsvolle soll nicht zu schwer oder abgehoben sein, sondern dem Publikum gefallen – also zugänglich, unterhaltsam, ansprechend inszeniert werden.
Diese Verszeile bringt auf den Punkt, was Kunst – besonders auf der Bühne – oft leisten soll: Kluge Unterhaltung, also das Gleichgewicht zwischen Anspruch und Genuss.
Zusammenschau der Verse 47 und 48
Goethe legt dem Direktor hier programmatisch das Spannungsverhältnis von ästhetischem Anspruch, Publikumserwartung und künstlerischer Umsetzung in den Mund. Schon im Vorspiel formuliert sich damit ein zentrales Thema des ganzen Werks: Die Dialektik zwischen Inhalt und Form, Geist und Wirkung, Kunst und Publikum.

Denn freylich mag ich gern die Menge sehen,49
»Denn freylich«: Das altmodische »freylich« (heute: »freilich«) ist eine Bekräftigung und signalisiert Zustimmung oder Selbstverständlichkeit. Der Direktor beginnt mit einem einlenkenden Ton – er gibt gerne zu:
Ja, natürlich...
»mag ich gern«: Doppelte Bekundung von Neigung: »mögen« + »gern« = Verstärkung seiner Freude.
»die Menge«: Gemeint ist das Theaterpublikum, die anonyme Masse der Zuschauer. Es geht nicht um individuelle Wertschätzung, sondern um das Kollektiv, das als wirtschaftlicher Faktor zählt.
»sehen«: Der Direktor ist nicht an innerer Wirkung interessiert, sondern an Sichtbarkeit, an äußerem Erfolg.
→ Dieser Vers bringt auf den Punkt, was den Direktor bewegt: das Vergnügen am Anblick eines großen, zahlenden Publikums – Ausdruck seines kommerziellen Interesses am Theaterbetrieb.

Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt,50
»der Strom«: Metaphorisch für die Menschenmenge – ein dichter, drängender Fluss von Leibern. Diese Bildsprache betont nicht Individualität, sondern Masse, Bewegung, Ansturm.
»nach unsrer Bude«: Abwertung des Theaters als »Bude« – ein fast jahrmarktsartiger Begriff. Der Direktor spricht nicht ehrfurchtsvoll vom Tempel der Kunst, sondern vom Betrieb, vom Veranstaltungsort.
»drängt«: Aktiv, fast gewaltsam. Das Publikum ist nicht kontemplativ, sondern schiebt sich gierig in den Raum – es kommt mit Erwartungen, mit Konsumwillen.
→ Der Vers bringt die Spannung zwischen Kunst und Kommerz auf den Punkt: Das Theater wird nicht als Ort der edlen Bildung präsentiert, sondern als populäre Attraktion, die möglichst viele Menschen anlocken soll.
Zusammenschau der Verse 49 und 50
Diese beiden Verse kennzeichnen exemplarisch die Haltung des Direktors im »Vorspiel auf dem Theater«. Er steht für den praktisch-ökonomischen Zugang zur Kunst: Was zählt, ist der Erfolg beim Publikum – nicht die Tiefe der Aussage, sondern die Masse, die zahlt. Diese Haltung kontrastiert später mit der des Dichters, der auf Wahrheit und Schönheit pocht, und des Lustigen, der Unterhaltung und Effekt will. Damit wird bereits das Spannungsfeld angedeutet, in dem sich Faust als Ganzes bewegt: Kunst zwischen Anspruch, Wirkung und Markt.

Und mit gewaltig wiederholten Wehen,51
Dieser Vers evoziert das Bild einer Geburt – konkret durch die Formulierung »gewaltig wiederholte Wehen«.
»Wehen« meint hier sowohl den physischen Geburtsvorgang als auch metaphorisch jede Form des kraftvollen, schmerzhaften Entstehens.
»Gewaltig« betont die Intensität, während »wiederholt« die Dauer und den Rhythmus des Vorgangs andeutet.
Im Theaterkontext steht dies für den dramatischen Schöpfungsakt – die Geburt des Kunstwerks (hier: des Theaterstücks) aus dem schöpferischen Schmerz des Künstlers bzw. Autors.
Es ist auch ein Bild für den mühsamen, aber notwendigen Prozess der ästhetischen und geistigen Hervorbringung: ein Akt der Kunstgeburt.

Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt;52
Hier wird das Bild der Geburt weitergeführt – mit dem Übergang durch eine »enge Pforte«, nun aber theologisch und symbolisch aufgeladen:
Die »Gnadenpforte« verweist auf einen religiösen Begriff: Im christlichen Sinn ist sie der symbolische Eingang zum Heil, zur göttlichen Sphäre oder zum ewigen Leben.
Dass sich der künstlerische Ausdruck oder das dramatische Werk »hindurchzwängt«, unterstreicht den Widerstand, die Enge und Schwierigkeit, durch die der »geistige Funke« oder die künstlerische Inspiration zu den Menschen gelangt.
Der Begriff »Gnade« kann außerdem bedeuten, dass das Kunstwerk selbst nur durch göttliche oder höhere Eingebung entstehen kann – nicht allein aus menschlicher Anstrengung.
Der Akt des »Zwängens« verleiht dem Vers eine starke Körperlichkeit, fast Leidenshaftigkeit, was auf die Passion und Intensität des künstlerischen Schaffens verweist.
Zusammenschau der Verse 51 und 52
Die Verse beschreiben in metaphorischer Sprache den dramatischen Schöpfungsakt – die schwierige Geburt eines Theaterstücks, die sowohl körperlich (»Wehen«) als auch geistlich (»Gnadenpforte«) verstanden wird. Die Regiefigur beschreibt hier die Kunst als ein Ringen – mit den Kräften des Lebens, der Form, der Inspiration – und positioniert die Bühne als Ort dieses existenziellen Durchgangs.

Bey hellem Tage, schon vor Vieren,53
Dieser Vers beschreibt die ungewöhnlich frühe und intensive Erwartung des Publikums.
»Bey hellem Tage« betont, dass das Gedränge bereits bei Tageslicht beginnt – also lange vor der eigentlichen Vorstellung. Das Theater zieht also nicht nur nächtliche, sondern schon frühzeitig tagsüber begeisterte Zuschauer an.
»schon vor Vieren« verweist auf eine konkrete Uhrzeit am Nachmittag (wohl 4 Uhr), was nahelegt, dass sich das Publikum bereits deutlich vor dem Abend drängt. Diese Zeitangabe ist für das 18. Jahrhundert sehr spezifisch und verweist auf den bürgerlichen Tagesrhythmus.
→ Der Vers zeichnet ein Bild vom enormen Andrang und der Attraktivität des Theaters.

Mit Stößen sich bis an die Kasse ficht54
Hier wird die Dynamik und Körperlichkeit des Zuschauerandrangs gesteigert.
»Mit Stößen«: Die Menschenmenge drängt nicht gesittet, sondern mit Körpereinsatz. Das Wort hat eine physische und auch leicht aggressive Konnotation.
»sich ... ficht«: Das Verb »fechten« evoziert das Bild eines Kampfes – nicht mit Waffen, aber doch mit Ellbogen und Körper.
»bis an die Kasse«: Der Kampf gilt dem Zugang zur Vorstellung – das Theater ist so beliebt, dass der Eintritt fast erkämpft werden muss.
→ Die Szene wird lebendig, ja fast komisch überzeichnet: ein kampfähnliches Gedränge um Theaterkarten.
Zusammenschau der Verse 53 und 54
Goethe charakterisiert hier ironisch das Publikum als leidenschaftlich, fast übertrieben theaterbegeistert. Die beiden Verse dienen nicht nur der Situationsbeschreibung, sondern bereiten mit feiner Ironie die Metaebene des Theaterstücks vor: Das Theater ist ein Ort menschlicher Dränge, Projektionen und Illusionen – und gerade das macht es so faszinierend.

Und, wie in Hungersnoth um Brot an Beckerthüren,55
»Und, wie in Hungersnot«: Der Direktor greift auf ein drastisches Bild aus existenzieller Not zurück – die Hungersnot –, um den Ernst und die Dringlichkeit der Theaterbesucher zu betonen.
→ Vergleich mit lebensbedrohlichem Mangel: Das Publikum ist so begierig auf Unterhaltung wie Hungernde auf Brot.
»um Brot an Beckerthüren«: Die »Beckerthüren« (Bäckertüren) stehen sinnbildlich für die Quellen der Nahrung – hier: das Theater als geistige Nahrung.
Doppelte Metaphorik: Theaterkarten entsprechen dem Brot, das die Seelen der Zuschauer nährt.
→ Auch ein Hinweis auf die ökonomische Dimension: Theater als Ware, das Publikum als Konsument.

Um ein Billet sich fast die Hälse bricht.56
»Um ein Billet«: Das Billet (die Eintrittskarte) ist das Objekt der Begierde – wie früher Brot, nun die Eintrittskarte.
→ Der Ausdruck weist auf den massiven Andrang hin, möglicherweise auch auf soziale Verhältnisse, in denen Theaterbesuch ein begehrtes, vielleicht seltenes Gut ist.
»sich fast die Hälse bricht«: Hyperbolischer Ausdruck für Gier, Konkurrenz und rücksichtslose Drängelei.
→ Ironisch überzeichnete Darstellung des Publikums, das sich buchstäblich in Gefahr begibt, um dabei zu sein.
→ Kritischer Unterton: Das Theater wird zum Spektakel, zur Massenattraktion – möglicherweise zum Nachteil der Kunst.
Zusammenschau der Verse 55 und 56
Der Direktor rechtfertigt mit diesen Bildern seinen Wunsch, ein unterhaltsames, publikumswirksames Stück aufzuführen. Seine Sprache zeichnet sich durch eine drastische Bildhaftigkeit aus, die zeigen soll, wie sehr das Publikum nach Ablenkung, Unterhaltung oder geistiger Nahrung lechzt – selbst wenn es dabei Würde und Rücksicht verliert. Die Verse setzen früh ein Thema des gesamten Dramas: Spannung zwischen Kunst und Markt, Ernst und Spektakel, und bereiten damit auf den späteren »Pakt« zwischen höherem Streben (Faust) und niederen Bedürfnissen (Mephisto, Masse) vor.

Dieß Wunder wirkt auf so verschiedne Leute57
Der Direktor spricht hier vom »Wunder«, das durch ein Theaterstück vollbracht wird – gemeint ist die Wirkung der Dichtung, der Theaterkunst.
»Wunder«: ein Ausdruck für das Staunen und die Ergriffenheit, die ein gelungenes Theaterstück hervorrufen kann.
»wirkt«: betont, dass das Theater nicht nur ästhetisch schön ist, sondern eine Wirkung auf das Publikum hat – es verändert, bewegt, beeinflusst.
»so verschiedne Leute«: verweist auf das gemischte Publikum des Theaters. Der Direktor denkt nicht an eine gebildete Elite, sondern an ein breites Spektrum: arm und reich, jung und alt, gebildet und ungebildet. Das Theater muss alle ansprechen.
→ Die Zeile bringt die Erwartung des Direktors zum Ausdruck, dass das Theater wirkungsvoll und zugänglich sein soll – ein Appell an die Praxis, nicht an elitäre Kunst.

Der Dichter nur; mein Freund, o! thu es heute.58
»Der Dichter nur«: Nur der Dichter (gemeint: der Theaterdichter oder Autor des Stücks) ist in der Lage, dieses Wunder hervorzubringen. Hier schwingt Bewunderung mit, aber auch eine Forderung.
»mein Freund«: eine Anrede an den Dichter im Vorspiel (also den Poeten), betont Nähe, aber auch einen leicht belehrenden oder auffordernden Ton.
»o! thu es heute.«: eine dringende Bitte oder Aufforderung – der Direktor ruft den Dichter auf, jetzt, »heute«, dieses Wunder zu vollbringen: ein Stück zu schreiben bzw. zur Aufführung zu bringen, das das Publikum bewegt.
→ Der Vers ist performativ und drängt zur konkreten Umsetzung. Die Kunst soll nicht abstrakt bleiben, sondern heute, jetzt, in der Gegenwart wirksam werden.
Zusammenschau der Verse 57 und 58
Diese beiden Verse sind zentral für das Spannungsfeld, das Goethe im Vorspiel auf dem Theater entfaltet: Die Interessen von Direktor (Publikumserfolg), Schauspieler (Darstellungskunst) und Dichter (künstlerischer Anspruch) stehen in Spannung. Der Direktor steht für die ökonomische und populäre Seite des Theaters: die Notwendigkeit, ein breites Publikum zu erreichen. Seine Worte appellieren an den Dichter, sich dieser Realität nicht zu entziehen, sondern aktiv zur Wirkung beizutragen.

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