LITERATOSeiten für Literatur

Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts
in ihren Hauptströmungen dargestellt von
Georg Brandes

Fünfter Band
Die romantische Schule in Frankreich
Der politische Hintergrund - Seite 4

dadurch der vorherrschende Wunsch jedes Einzelnen zu werden. Nach der Julirevolution ersetzt allmählich die Geldmacht die Adelsherrschaft und macht das Königtum sich unterthan. Der Reiche läßt sich in den Adelsstand erheben, erwirbt sich Pairsrechte und gebraucht durch die Verfassung immer mehr die monarchische Staatsform zu seinem Besten. So wird die Jagd nach dem Gelde, der Kampf ums Geld, die Verwendung des Geldes zu großen industriellen und kaufmännischen Unternehmungen der vorherrschende soziale Zug der Zeit, und diese Prosa, die gegen die revolutionäre und kriegerische Begeisterung des vorigen Zeitraums so stark absticht, schreckt in auffallender Weise die Dichter und Künstler von dem Leben und Treiben der Zeitgenossen zurück und trägt das ihrige bei, der Poesie dieses Zeitalters ihr romantisches, d. h. der umgebenden Wirklichkeit entfremdetes Gepräge zu geben. Man suchte und fand Poesie in der Vorzeit und der Fremde, oder man schuf, ungestört durch die unmittelbaren Umgebungen, erträumte Helden und Ideale. Nur ein einziger der um das Jahr 1830 auftauchenden Dichter, einer der größten, Balzac, fühlte sich nicht von dem Zeitalter abgestoßen, sondern machte unerschrocken die neugeborene Kapitalmacht, den neuen Beherrscher der Seelen, das Geld, zum Helden einer großen Epopöe; die übrigen Künstler der Zeit entfernten sich, wie scharf sie auch selbst manchmal ihren Vorteil ins Auge faßten, in ihren Schwärmereien und Poesien so viel wie möglich von der neuen Wirklichkeit.

Das Decennium vor und nach 1830, das litterarisch und künstlerisch der merkwürdigste und fruchtbarste Zeitraum ist, war, politisch betrachtet, eine glanz- und farblose Zeit. Es gruppiert sich um die Julirevolution, aber diese bildet, so zu sagen, nur einen Blutflecken in all dem Grau.

Die erste Hälfte des Decenniums, die Regierungszeit Karls X., ist das Zeitalter der klerikalen Reaktion. Unter Karl X. bezeichnen die drei Ministerien Villèle, Martignac und Polignac nicht sowohl

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