LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Gedicht 52 aus dem Zyklus
Anemons und Adonis Blumen

An ihre Augen

Ihr Augen/ die ihr mir so tieff ins Hertze scheint/1
Erkläret euch/ wies sey gemeynt/2
Was mir zu hoffen steht/ ob Sterben oder Leben?3
Seyd ihr geneigt/ ich bin bereit mich zu ergeben/4
Und auch bereit zu ehren euren Schein/5
Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn.6

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Ihr Augen/ die ihr mir so tieff ins Hertze scheint/

Analyse

1. Apostrophe und Personifikation: Die Strophe setzt mit einer direkten Anrede der Augen ein. Durch die Apostrophe werden die Augen als autonome, handelnde Instanz personifiziert; sie scheinen aktiv ins Hertze. Der Blick wird zur Handlungsmacht, nicht bloß zum passiven Reiz.

2. Licht-Metaphorik und Eindringbewegung: Das Verb scheinen entfaltet ein semantisches Feld von Strahlung, Erhellung und Offenbarung. Die Präzisierung so tieff markiert Intensität und Richtung: Das Licht durchdringt Schichten bis zum Innersten (Hertze). Körperliches und seelisches Zentrum fallen zusammen; das Auge der Geliebten wirkt wie ein Erkenntnis- oder Prüfstrahl.

3. Barocke Formsignale: Die druckgraphische Zäsur / erinnert an den barocken Alexandriner mit Mittelzäsur; sie spaltet Anruf (Ihr Augen) und Relativsatz (die ihr…) und erzeugt so den Eindruck eines feierlichen, rhetorisch gesetzten Auftakts.

4. Affektlogik: Durch die Verbindung von Blick und Herz entsteht eine Affektdynamik: Der Sprecher steht nicht außen, sondern ist innerlich betroffen. Das Herz ist Ort der Verletzung und der Erkenntnis zugleich.

Interpretation

1. Blick als Urteil und Gnade: Der Blick der Geliebten hat die Qualität eines Richterspruchs oder einer Epiphanie: Er bringt Verborgenes ans Licht und entscheidet über das Befinden des Liebenden.

2. Liebe als Erkenntniserfahrung: Das Bild des Hineinscheinens übersetzt Eros in ein kognitives Paradigma: geliebt werden heißt erkannt werden. Der Liebende erfährt sich im Spiegel des fremden Blicks – ein Selbst, das erst durch den Anderen erhellt wird.

3. Vorgriff auf Unterwerfungslogik: Indem der Blick schon so tieff trifft, ist die spätere Bereitschaft zur Ergebung (V. 4) vorgezeichnet: Die Machtverhältnisse sind zugunsten der Augen etabliert.

2 Erkläret euch/ wies sey gemeynt/

Analyse

1. Imperativ der Deutung: Der Sprecher fordert eine Erklärung und macht die Augen zu Sprech- oder Zeicheninstanzen. Damit wird Augensprache als codiertes Kommunikationssystem entworfen.

2. Semantik des Missverständnisses: Die Frage wies sey gemeynt unterstellt Ambiguität. Der Blick ist vieldeutig; es braucht Exegese. Rhetorisch entsteht Spannung zwischen Evidenz (das Licht dringt ein) und Unklarheit (die Intention bleibt verdeckt).

3. Dialogstruktur: Der Vers etabliert ein dialogisches Setting: Aus der Anrede wird eine Bitte um Auskunft. Die Zäsur trennt Aufforderung (Erkläret euch) und Interpretationsziel (wies sey gemeynt), wodurch der hermeneutische Akt betont wird.

Interpretation

1. Liebe als Hermeneutik: Der Sprecher rückt das Verhältnis ins Feld der Auslegung. Gefühle sind nicht unmittelbar; sie verlangen Zeichenkunde. Barocke Bewusstheit für Schein/Sein-Differenzen klingt an.

2. Machtverschiebung: Wer um Erklärung bittet, anerkennt die Deutungshoheit der Augen. Der Liebende ist abhängig von der Signatur des Anderen.

3. Ethos der Klarheit: Der Imperativ enthält auch ein moralisches Begehren: Deutlichkeit statt Koketterie. In einer Kultur der Andeutung wird Transparenz erbeten.

3 Was mir zu hoffen steht/ ob Sterben oder Leben?

Analyse

1. Alternationsfigur (Antithese): Sterben oder Leben setzt die stärkstmögliche Polarität. Der Hoffnungshorizont wird binär gefasst; Zwischenstufen fehlen.

2. Rhetorische Frage: Der Vers steigert die Dringlichkeit: Es geht nicht um Nuancen der Zuneigung, sondern um existenzielle Entscheidung.

3. Affekt-Hyperbel: Barocktypisch wird Liebesaffekt als Totalalternative gestaltet. Die Hyperbel legitimiert das Pathos der folgenden Selbstunterwerfung.

Interpretation

1. Eros als Eschatologie des Individuums: Die Liebe wird in Endlichkeitskategorien gedacht. Sterben kann sowohl die kleine erotisch-affektive Vernichtung (Ohnmacht, Verlassenheit) wie das soziale/innere Absterben bedeuten; Leben steht für Anerkennung, Gunst und affektive Belebung.

2. Entscheidungsadressat: Dass die Frage an die Augen gerichtet ist, verlegt Souveränität an die Geliebte: Sie spendet Leben oder spricht Tod.

3. Hoffen als Schwebe: Grammatisch bindet zu hoffen steht die Existenz des Sprechers an eine noch ausstehende Entscheidung – die Strophe bewegt sich im Modus des Noch-Nicht.

4 Seyd ihr geneigt/ ich bin bereit mich zu ergeben/

Analyse

1. Konditionalsyntax: Der Bedingungssatz (Seyd ihr geneigt) wird mit einer Bereitschaftsformel (ich bin bereit) gekoppelt. Die Parallelität (geneigt/bereit) erzeugt symmetrische Rhythmik.

2. Semantik der Ergebung: mich zu ergeben bündelt Unterwerfung, Hingabe und Loyalität. Es verschiebt das Liebesverhältnis in ein höfisch-politisches Register (Ergebenheit als Vasallität).

3. Tempo der Selbstbindung: Noch vor der erbetenen Erklärung (V. 2) gelobt der Sprecher Unterwerfung – ein performativer Vorgriff, der seine völlige Disponibilität ausstellt.

Interpretation

1. Höfische Liebesethik: Liebe wird als Dienst verstanden. Geneigtsein ist Gnadenakt; Ergebung ist Pflichtantwort. Das Modell transformiert Begehren in Ordnung.

2. Freiwillige Unfreiheit: Paradoxal erklärt der Sprecher seinen freien Willen zur Bereitschaft, um ihn anschließend zu verschenken. Autonomie wird als Gabe angeboten.

3. Rhetorische Strategie: Indem er Bereitschaft vorab verspricht, versucht er die Gunst zu praevenieren – eine höfische Taktik des Vorauseilens.

5 Und auch bereit zu ehren euren Schein/

Analyse

1. Anapher/Parallelismus: Die Wiederaufnahme von bereit schafft Kohäsion zu V. 4. Der Vers führt die Selbstbindung aus (zu ehren).

2. Polysemie des Scheins: Schein bedeutet Glanz/Licht des Blicks und zugleich Erscheinung/Äußerlichkeit. Es schließt an V. 1 (scheint) an und weitet das Lichtfeld ins ontologische Spannungsverhältnis von Schein und Sein.

3. Kultische Tonlage: ehren verlagert das Verhältnis in ein quasi-rituelles Register: Verehrung des Lichts als eines quasi-sakralen Attributs der Geliebten.

Interpretation

1. Ästhetische Theologie der Liebe: Die Verehrung gilt dem Schein, also der Phänomenalität. Liebe fixiert sich auf Erscheinung, macht sie jedoch würdig der Ehre – eine barocke Sublimierung des Sinnlichen.

2. Vorbehaltlose Loyalität: Das Ehren gilt unabhängig von Gegenleistung (V. 6 bereitet dies vor). Der Sprecher bindet sich nicht nur an die Person, sondern an deren Erscheinungskraft.

3. Schein/Sein-Reflexion: Indem Schein im Zentrum steht, bleibt die Frage nach gemeint (V. 2) offen: Vielleicht ist nur der Schein eindeutig, nicht die Intention.

6 Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn.

Analyse

1. Konzessivstruktur: gleich im frühneuhochdeutschen Sinn von obgleich markiert eine Einräumung. Selbst im Fall fehlender Gunst bleibt die zuvor gelobte Verehrung bestehen.

2. Schlusskadenz und Ruhepunkt: Der Punkt beendet die syntaktische Schwebe. Inhaltlich ist es die radikalste Zuspitzung: Treue ohne Gegengabe.

3. Antiklimax oder Kulmination?: Formal scheint der Vers das Pathos senken (nicht günstig), semantisch steigert er es zur höchsten, weil unerwiderten Hingabe.

Interpretation

1. Agape-Figur im höfischen Register: Unerwiderte Liebe wird nicht als Kränkung, sondern als Prüfstein von Beständigkeit gedeutet. Das ethische Ideal ist Standhaftigkeit.

2. Selbstlegitimation des Begehrens: Der Sprecher stiftet Sinn jenseits des Erfolgs: Die Ehre des Scheins genügt, um das eigene Verhalten zu begründen.

3. Ambivalente Demut: Was als Demut erscheint, kann auch subtile Macht sein: Er entzieht der Geliebten das letzte Dispositionsrecht über seine Würde, indem er Treue zur Selbstbestimmung macht.

Zusammenfassende Untersuchung

1. Struktur und Dynamik: Die Strophe entfaltet sich von der machtvollen Augen-Epiphanie (V. 1) über den hermeneutischen Appell (V. 2) zur existenziellen Alternative (V. 3) und mündet in eine doppelte Selbstbindung (V. 4–5), die durch eine konzessive Pointe (V. 6) radikalisiert wird. Die wiederholte Zäsur erzeugt eine feierlich-überlegte Progression; der Wortschatz (Schein, scheinen, geneigt, bereit, ergeben, ehren, günstig) verknüpft Licht-, Gnaden- und Dienstsemantik.

2. Semantische Zentren:

Licht/Blick: Der Blick der Geliebten ist Erkenntnis- und Machtmedium; er durchdringt das Herz und entscheidet über Sterben oder Leben.

Hermeneutik der Zeichen: Trotz der Evidenz des Lichts bleibt die Intention unklar – Liebe verlangt Deutung.

Ethik der Ergebenheit: Der Sprecher bietet freiwillige Unterwerfung und kultische Verehrung an; sein Pathos gründet nicht in Besitz, sondern in Treue.

3. Barocke Spannungen: Die Strophe spielt Schein gegen Sein, Gnade gegen Dienst, Freiheit gegen Ergebenheit aus. Die Liebe erscheint als höfisch überformte Religionsfigur: Die Augen sind zugleich Gnadenquelle und Gegenstand der Verehrung.

4. Affektlogik und Selbstentwurf: Der Liebende entwirft sich als Subjekt der Beständigkeit. Selbst im Mangel an Gunst hält er an der Ehre des Scheins fest – eine sublimierte Form des Begehrens, die die eigene Würde aus Treue, nicht aus Gegengunst, bezieht.

5. Schlussbild: Im Endeffekt steht eine paradoxe Souveränität: Indem er sich ergibt, behauptet der Sprecher eine unveräußerliche Entscheidungsmacht – die Wahl, zu ehren, auch ohne Erwiderung. Die Strophe bleibt so in einer edlen Schwebe zwischen Unterwerfung und Selbstbestimmung, zwischen strahlendem Schein und unentschlüsselter Meinung der Augen.

Gesamtschau
Organischer Aufbau und Verlauf

1. Einheit von Anrede und innerem Bekenntnis

Das Gedicht entfaltet sich aus einem einzigen, in sich kreisenden Bewegungsimpuls: die Augen der Geliebten werden angeredet, doch diese Anrede dient nicht bloß der Schilderung, sondern einer inneren Prüfung. Der Sprecher steht im Bann ihres Blickes und versucht, aus der Erfahrung des Scheinens eine Erkenntnis seines Schicksals zu gewinnen. Schon der erste Vers (Ihr Augen, die ihr mir so tieff ins Hertze scheint) setzt ein mit der doppelten Bewegung von Eindringen und Erleuchtung — das Äußere (Auge, Licht) dringt ins Innerste (Herz) und stiftet dort Unruhe und Bedeutung.

2. Von der Wahrnehmung zur Deutung

In Vers 2–3 folgt auf den Eindruck das Bedürfnis nach Deutung: Erkläret euch, wies sey gemeynt, / Was mir zu hoffen steht, ob Sterben oder Leben? Der Sprecher steht also zwischen zwei Polen: Hoffnung und Vernichtung. Damit wird das Gedicht dialogisch — nicht als tatsächlicher Austausch, sondern als seelische Bewegung: die Augen sollen sich erklären, also ihr Schweigen auflösen und den Sinn des Blicks offenbaren.

3. Übergang zur Entscheidung und Hingabe

Der vierte Vers (Seyd ihr geneigt, ich bin bereit mich zu ergeben) markiert den Übergang vom fragenden zum entscheidungsbereiten Zustand. Das Ergeben ist doppeldeutig: es meint sowohl Liebesergebenheit als auch Ergebung in das mögliche Leid. Damit öffnet sich der Sprecher vollständig der Macht des Blicks — er will keine Kontrolle, sondern Hingabe.

4. Abschluss in selbstbewusster Demut

Die letzten zwei Verse bilden eine Art ethisch-ästhetisches Gleichgewicht: Und auch bereit zu ehren euren Schein, / Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn. Der Sprecher ist bereit, auch ohne Erwiderung die Schönheit (Schein) der Geliebten zu ehren. Das Gedicht schließt also nicht in Klage, sondern in kontemplativer Anerkennung des unerreichbaren Lichts — eine Haltung, die zugleich Liebesverzicht und Verehrung ausdrückt. Der Aufbau verläuft so organisch vom Eindruck über Deutung und Entscheidung zur stillen Verehrung: Wahrnehmung → Frage → Hingabe → Transzendenz.

Psychologische Dimension

1. Das Blickerlebnis als seelischer Durchbruch

Der erste Vers beschreibt eine psychologisch präzise Erfahrung: der Blick der Geliebten trifft das Herz und erzeugt eine existentielle Erschütterung. Der Sprecher erlebt keine äußere Schönheit, sondern eine innere Durchdringung, die fast mystisch anmutet. Es ist ein Akt der Passivität: der Blick scheint in ihn hinein, er ist Objekt, nicht Subjekt.

2. Ambivalenz von Hoffnung und Angst

In der Frage ob Sterben oder Leben kulminiert die psychologische Spannung. Der Liebende schwankt zwischen der Hoffnung auf Erwiderung und der Furcht vor Zurückweisung. Diese Polarität erzeugt eine existentielle Unsicherheit: Liebe wird nicht als Freude, sondern als Prüfung erfahren. Der Blick wird so zur Quelle seelischer Instabilität — ein Moment barocker Ambiguität zwischen Eros und Thanatos.

3. Selbsthingabe als psychologische Lösung

Die Bereitschaft, sich zu ergeben, löst die innere Spannung, indem der Sprecher das Schicksal annimmt. Diese Hingabe ist psychologisch nicht Schwäche, sondern Selbstklärung: er entlässt sich aus der Qual des Ungewissen, indem er die Entscheidung an das Objekt seiner Liebe übergibt. So entsteht paradoxerweise Ruhe im Akt der Ergebung.

4. Verwandlung des Begehrens in Verehrung

Die Schlussverse zeigen eine psychologische Sublimierung: aus Begehren wird Bewunderung. Der Liebende erkennt, dass seine Zuneigung nicht von Gegenseitigkeit abhängt. Der Akt des Ehrens bedeutet, das Objekt der Liebe von der Forderung nach Besitz zu befreien. Der psychologische Weg führt also von Abhängigkeit zu innerer Freiheit durch Selbstverzicht.

Ethische Dimension

1. Ethische Läuterung durch Ergebung

Der Sprecher vollzieht eine moralische Transformation: aus dem Begehren nach Erwiderung entsteht ein Akt der Selbstdisziplin. Indem er sich ergibt, akzeptiert er die Freiheit der Geliebten und verzichtet auf Zwang oder Forderung. Diese Haltung entspricht einem barocken Ideal der Maßhaltung im Gefühl, einer Ethik der inneren Zucht.

2. Achtung des Anderen als autonomes Wesen

Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn ist ein Akt moralischer Größe: er akzeptiert die Möglichkeit der Ablehnung, ohne die Verehrung zurückzunehmen. Liebe wird hier nicht als Tauschgeschäft verstanden, sondern als selbstloses Gut. Das Gedicht formuliert eine Ethik der Würde — sowohl der Geliebten als auch des Liebenden.

3. Verbindung von Schönheit und Tugend

Das Ehren des Scheins weist über die erotische Dimension hinaus: Schönheit ist nicht Besitzobjekt, sondern Anlass zur moralischen Erhebung. Der Schein (im barocken Doppelsinn von Glanz und Erscheinung) wird als etwas Verehrungswürdiges anerkannt, das den Geist zum Guten anleitet. Ethik und Ästhetik verschmelzen in einer Haltung kontemplativer Verehrung.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

1. Das Auge als Medium des Göttlichen

Im barocken Weltbild ist das Auge nicht nur Sinnesorgan, sondern Spiegel der Seele und Vermittler zwischen Irdischem und Göttlichem. Der Blick der Geliebten wird so zum epiphanischen Moment: das in die Tiefe des Herzens dringende Licht erinnert an das göttliche Licht, das die Seele erleuchtet. Der Liebende erlebt den göttlichen Glanz im Antlitz der Geliebten — ein Echo platonischer und mystischer Lichtmetaphysik.

2. Lichtsymbolik als theologische Struktur

Der Ausdruck scheint so tieff ins Hertze ruft die Vorstellung des lumen gratiae auf, des inneren Gnadenlichts, das in mystischer Erfahrung die Seele durchdringt. Doch der Sprecher weiß nicht, ob dieses Licht zum Leben (Erlösung) oder Sterben (Verdammnis, Liebestod) führt. Darin zeigt sich das barocke Bewusstsein der Ambiguität: jedes Licht kann zugleich Gnade und Gefahr sein. Der Liebesblick steht im Zwischenbereich von Eros und Agape.

3. Ergebung als Akt des Glaubens

Ich bin bereit, mich zu ergeben hat eine theologische Resonanz: es erinnert an die christliche Ergebung in Gottes Willen. Die Liebe wird zum Ort der Glaubensprobe; der Liebende verhält sich wie der Gläubige, der den göttlichen Willen annimmt, auch wenn er unverständlich bleibt. Damit verbindet das Gedicht weltliche Liebe mit religiöser Hingabe.

4. Verehrung des Scheins als barocke Theologie der Erscheinung

Der Schein ist im Barock kein bloß oberflächlicher Glanz, sondern Ausdruck des göttlichen Ursprungs in der sichtbaren Welt. Das Ehren des Scheins ist daher theologisch als Anerkennung der göttlichen Schönheit in der Schöpfung zu lesen. Auch wenn die Geliebte nicht günstig ist, bleibt ihr Schein eine Spur des Göttlichen — eine Schönheit, die um ihrer selbst willen verehrt wird.

5. Anthropologische Tiefendimension: der Mensch zwischen Licht und Schatten

Der Sprecher steht im Spannungsfeld von Erkenntnis und Dunkel, Liebe und Leid, Leben und Tod. In dieser Schwebe liegt die barocke Anthropologie: der Mensch ist Geschöpf des Lichts, aber in der Endlichkeit gefangen. Das Gedicht wird so zu einer kleinen Meditation über das Verhältnis von göttlichem Licht und menschlicher Begrenztheit — das Herz empfängt Strahlen, doch ihr Ursprung bleibt ungreifbar.

Gesamtheitliche Zusammenfassung

Hans Aßmann von Abschatz’ Gedicht An ihre Augen entfaltet auf kleinstem Raum eine vollkommen geschlossene Bewegung von sinnlicher Erfahrung zu geistiger Transzendenz.

Aus einem Blick wird ein metaphysisches Ereignis: das Licht der Augen verwandelt sich in ein Symbol der göttlichen Gnade und Prüfung zugleich. Psychologisch vollzieht sich eine innere Läuterung vom Begehren zur Ergebung, ethisch eine Anerkennung der Freiheit des Anderen, theologisch die Erkenntnis, dass wahre Liebe im Verzicht und in der Verehrung wurzelt.

Das Gedicht verkörpert damit den barocken Grundimpuls, das Irdische als Zeichen des Göttlichen zu lesen, und macht die Augen der Geliebten zum Spiegel eines Lichts, das zugleich Liebe, Gefahr und Offenbarung bedeutet.

Moralische Dimension

1. Das Ethos der Hingabe und des Respekts

Der Sprecher tritt den Augen der Geliebten nicht mit Besitzanspruch oder Begierde entgegen, sondern mit einer Haltung ehrender Unterwerfung. Die Wendung ich bin bereit mich zu ergeben zeigt eine moralische Selbstzähmung: Liebe wird nicht als Eroberung verstanden, sondern als freiwillige Hingabe an das Gute und Schöne, das in den Augen der Geliebten aufscheint. In dieser Selbstbegrenzung liegt eine Tugend des Maßes, die den Affekt der Leidenschaft in moralische Ordnung überführt.

2. Wahrhaftigkeit des Gefühls

Der Sprecher verlangt von den Augen eine Erklärung – Erkläret euch, wies sey gemeint. Diese Bitte deutet auf eine moralische Forderung nach Aufrichtigkeit und Klarheit. Das Gedicht verknüpft die Leidenschaft mit dem Ethos der Wahrheit: der Liebende will wissen, woran er ist, ob Sterben oder Leben auf ihn wartet. In dieser Spannung wird Liebe als existenziell-moralische Prüfung dargestellt.

3. Selbstüberwindung als moralischer Akt

Indem der Sprecher sagt, er sei bereit zu ehren, Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn, vollzieht sich eine innere Läuterung. Die Liebe verliert den Charakter des Begehrens und wird zu einer sittlichen Haltung der Achtung. Der Mensch erkennt das Recht des anderen auf Freiheit und bleibt dennoch dem Ideal treu. Das Gedicht hebt somit die Liebe in eine Sphäre moralischer Selbstbeherrschung.

Anthroposophische Dimension

1. Die Augen als Spiegel des Geistigen

In anthroposophischem Sinn gelten die Augen als Tore der Seele, durch die das Ich die geistige Welt erahnt. Der Vers Ihr Augen, die ihr mir so tief ins Hertze scheint deutet eine Durchdringung des inneren und äußeren Bereichs an. Der Glanz der Augen ist hier nicht bloß sinnlich, sondern ein Ausdruck geistiger Wesenheit – das Licht, das vom anderen ausgeht, berührt das Herz des Betrachters als geistige Offenbarung.

2. Polarität von Leben und Tod als Initiationserfahrung

Die Frage Was mir zu hoffen steht, ob Sterben oder Leben? besitzt eine tief anthroposophische Bedeutung: sie verweist auf das Bewusstsein, dass jede wahre Begegnung zwischen Seelen an der Grenze von Tod und Leben stattfindet. Sterben ist nicht nur physisch gemeint, sondern als Auflösung des niederen Selbst, das in der Hingabe vergeht, um in einer höheren Bewusstseinssphäre wiedergeboren zu werden.

3. Ergebung als Weg zur geistigen Erkenntnis

Die Bereitschaft, sich zu ergeben, bedeutet in diesem Zusammenhang nicht bloß emotionale Unterwerfung, sondern eine spirituelle Öffnung: das Ich tritt zurück, damit das Geistige im anderen erkannt werden kann. Diese Geste ist verwandt mit der anthroposophischen Idee, dass das wahre Erkennen auf innerer Demut beruht – einer Hingabe an das Wesenhafte, das im anderen leuchtet.

4. Der Schein als geistige Erscheinung

Der Begriff Schein in den Versen 1 und 5 besitzt eine doppelte Bedeutung: sinnlicher Glanz und geistige Erscheinung. Anthroposophisch verstanden verweist er auf das Lichtprinzip des Geistigen in der Welt, das sich durch Schönheit offenbart. Den Schein zu ehren heißt, den göttlichen Ursprung des Lichts im Menschen anzuerkennen.

Ästhetische Dimension

1. Formale Konzentration und Klarheit

Das Gedicht besteht aus einer einzigen, sechzeiligen Strophe – eine Form, die eine konzentrierte, fast epigrammatische Wirkung erzeugt. Die Kürze zwingt zu prägnanter Aussage; die ganze seelische Bewegung – vom Ergriffensein über das Fragen bis zur Ergebung – vollzieht sich in einem Atemzug. Diese Verdichtung ist Ausdruck barocker Ästhetik, in der Emotion und Kontrolle eine kunstvolle Einheit bilden.

2. Harmonie von Klang und Inhalt

Der Rhythmus folgt der regelmäßigen Syntax alter deutscher Dichtung, getragen von weichen, gleichmäßigen Kadenzen (scheint, gemeint, Leben / ergeben, Schein, seyn). Diese klangliche Korrespondenz spiegelt die innere Bewegung des Gedichts: der Sprecher wird von Ungewissheit zur Ruhe geführt. Die Klangstruktur wirkt damit wie ein ästhetisches Gleichgewicht zwischen Leidenschaft und Maß.

3. Barocke Lichtmetaphorik

Der Schein der Augen gehört zur zentralen Symbolik des Barock: Licht als Zeichen göttlicher Wahrheit und zugleich als Träger der sinnlichen Schönheit. Ästhetisch verbindet der Text somit die Theologie des Lichts (lux divina) mit der höfischen Liebessprache. Die Schönheit wird zum Medium der Erkenntnis.

4. Eleganz der höfischen Diktion

Die Redeweise ist höfisch-kultiviert, fern jeder rohen Leidenschaft. Der ästhetische Reiz liegt im Maß, in der kontrollierten Sprache des Gefühls. Abschatz gelingt es, das Pathos der Liebe in die Form einer gemessenen, beinahe musikalischen Ordnung zu bringen – eine Kunst des seelischen Gleichgewichts, typisch für den frühen deutschen Barock.

Rhetorische Dimension

1. Direkte Anrede und Apostrophe

Gleich der erste Vers wendet sich mit Ihr Augen direkt an das Objekt der Empfindung. Diese rhetorische Figur der Apostrophe verleiht dem Gedicht unmittelbare Lebendigkeit und erweckt den Eindruck eines innigen Zwiegesprächs zwischen Ich und Du. Sie verwandelt das Gedicht in eine performative Situation des Sprechens und Hörens.

2. Fragen als Ausdruck innerer Bewegung

Zwei zentrale Fragen – Erkläret euch, wies sey gemeint und Was mir zu hoffen steht, ob Sterben oder Leben? – strukturieren das Gedicht. Diese interrogativen Wendungen sind rhetorische Mittel, um das innere Ringen des Liebenden auszudrücken. Sie erzeugen Spannung, Unsicherheit und Erwartung, die erst in der Ergebung des vierten Verses gelöst werden.

3. Antithetische Struktur: Sterben / Leben, geneigt / nicht günstig

Die Rede bewegt sich zwischen Gegensätzen, wie es für die barocke Rhetorik typisch ist. Diese Antithese verleiht dem Gedicht dialektische Tiefe: es zeigt, dass Liebe immer zwischen Extremen schwingt – Hoffnung und Verzweiflung, Gunst und Ablehnung. Rhetorisch schafft diese Struktur Dynamik und gedankliche Prägnanz.

4. Klimax der seelischen Entwicklung

Die syntaktische Bewegung führt von der Ansprache über die Bitte und Frage zur doppelten Bereitschaft: ich bin bereit mich zu ergebenUnd auch bereit zu ehren euren Schein. Diese Steigerung bildet eine rhetorische Klimax, die im letzten Vers (Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn) eine ruhige Auflösung findet. Das Gedicht schließt nicht mit Verzweiflung, sondern mit gefasster Demut – ein Kunstgriff, der emotionale Tiefe mit sprachlicher Ökonomie verbindet.

Gesamtschau

Hans Aßmann von Abschatz gestaltet in diesem kurzen Gedicht ein ganzes seelisches Drama: der Blick der Geliebten entzündet Liebe, führt zur Prüfung zwischen Hoffnung und Tod und endet in der sittlichen und geistigen Selbstüberwindung.

Moralisch zeigt das Gedicht den Weg von Begierde zu Achtung, anthroposophisch den Übergang vom sinnlichen zum geistigen Licht, ästhetisch die barocke Harmonie von Form und Gefühl, rhetorisch die kunstvolle Bewegung von Anrufung, Frage und Ergebung.

So offenbart sich in sechs Versen eine Miniatur barocker Weltanschauung: das Herz als Ort des Lichts, die Liebe als Läuterung, und das Wort als Spiegel innerer Ordnung.

Metaebene

1. Dialogische Grundstruktur

Das Gedicht inszeniert einen inneren Dialog zwischen dem lyrischen Ich und den Augen der Geliebten. Die Anredeform (Ihr Augen) stellt die Augen als autonome, quasi beseelte Instanz dar, die über Leben und Tod des Sprechers zu entscheiden vermag. Damit wird das Gedicht zu einer Art mikrokosmischem Gerichtsszene der Liebe, in der das Subjekt sich selbst der Macht des Blicks unterwirft.

2. Erkenntnismotiv und Selbstreflexivität

Auf der Metaebene ist das Gedicht eine Reflexion über die Möglichkeit, den Blick der Geliebten – als Zeichen oder Medium ihrer inneren Haltung – zu deuten. Das lyrische Ich fragt nach der Meinung (Vers 2) des Blickes, nach seiner semantischen Richtung (wies sey gemeynt). Der Blick wird zum Text, den es zu lesen gilt, und der Liebesdialog wird zu einem Akt hermeneutischer Unsicherheit.

3. Ambivalenz zwischen Offenbarung und Undurchsichtigkeit

Obwohl der Blick tief ins Hertze scheint, also durchdringend und erhellend wirkt, bleibt sein Sinn unklar. Diese Spannung zwischen Sichtbarkeit und Undeutlichkeit verweist auf ein zentrales barockes Erkenntnisproblem: Das Sichtbare enthüllt und verbirgt zugleich das Wahre.

Poetologische Dimension

1. Der Blick als poetisches Erkenntnisinstrument

In der barocken Liebesdichtung fungieren Augen häufig als Quelle der Inspiration und als Medium poetischer Erleuchtung. Auch hier wird der Blick der Geliebten nicht nur als Gegenstand, sondern als Auslöser dichterischer Reflexion behandelt: Der Dichter spricht das Du an, um über sich selbst und seine Lage zu dichten – der Blick der Geliebten wird zur Projektionsfläche poetischer Produktion.

2. Selbstreflexion der Sprache

Das Gedicht thematisiert zugleich die Grenze der Sprache: Das lyrische Ich bittet die Augen, sich zu erklären. Damit wird implizit auf das Problem poetischer Ausdruckskraft verwiesen: Das Unsagbare (Liebe, Leidenschaft, Gnade oder Ablehnung) soll in Worte gefasst werden, obwohl es sich dem eindeutigen Ausdruck entzieht. Die Dichtung selbst erscheint somit als Versuch, das Unaussprechliche zu fixieren.

3. Poetische Ökonomie der Kürze und Klarheit

Die knappe, sechzeilige Form entspricht dem barocken Ideal der concinnitas: Dichtkunst als Verdichtung und Präzision. In wenigen Versen wird eine existentielle Entscheidungssituation entworfen, was die sprachliche Disziplin und die poetische Selbstbeherrschung des Sprechers spiegelt.

Metaphorische Dimension

1. Das Licht- und Sehmetaphorik

Zentral ist das Bild des Scheins: die Augen scheinen ins Herz und Schein wird zugleich zur Bezeichnung für äußere Schönheit und innere Wirkung. Licht ist hier ambivalent – es erleuchtet, aber es kann auch verletzen. Das Herz als Ort der Emotion und das Licht als Medium der Erkenntnis werden metaphorisch verschränkt.

2. Sterben und Leben als Liebesmetaphern

Die Frage Was mir zu hoffen steht/ ob Sterben oder Leben? transformiert das Liebeserlebnis in ein existentielles Schicksalsspiel. Das Sterben steht im barocken Liebesdiskurs sowohl für den erotischen Höhepunkt (la petite mort) als auch für das seelische Vergehen an der Unerreichbarkeit der Geliebten. Der Dichter lebt oder stirbt im Urteil des Blicks – ein Bild für die totale Abhängigkeit des Liebenden.

3. Unterwerfungs- und Kultmetapher

In den Versen 4–6 formuliert der Sprecher seine Bereitschaft zur Ergebung und Ehrung des Scheins. Hier wird die Beziehung zum Du religiös aufgeladen: der Blick der Geliebten wird zum göttlichen Licht, der Liebende zum gläubigen Verehrer. Diese Metaphorik der Devotion verweist auf eine barocke Sakralisierung der Liebe.

Literaturgeschichtliche Dimension

1. Einordnung in die barocke Liebeslyrik

Das Gedicht steht in der Tradition des höfischen und petrarkistischen Liebesgedichts, das den Blick als zentrales Medium der Leidenschaft begreift. Gleichzeitig zeigt sich in der Reflexivität des Textes ein Übergang von der konventionellen Liebestopik zur frühaufklärerischen Innerlichkeit.

2. Bezüge zu Martin Opitz und Andreas Gryphius

Wie bei Opitz ist die formale Klarheit und metrische Strenge ein Ausdruck der poetischen Disziplin. Zugleich erinnert die affektive Spannung zwischen Hingabe und Verzweiflung an Gryphius’ Liebeslyrik, in der Eros und Thanatos untrennbar verwoben sind.

3. Position innerhalb von Abschatz’ Werk

Innerhalb des Zyklus Anemons und Adonis Blumen steht das Gedicht exemplarisch für Abschatz’ Fähigkeit, barocke Konventionen mit psychologischer Differenzierung zu verbinden. Es zeigt den Übergang vom rhetorisch überformten Liebesgedicht zu einer subtilen, fast introspektiven Empfindungslyrik.

Literaturwissenschaftliche Dimension

1. Rhetorische Struktur und Argumentationsführung

Der Text ist syntaktisch geschlossen und argumentativ aufgebaut: Anrede – Frage – Selbstbestimmung – Konsequenz. Diese Struktur folgt der barocken ordo artificialis, in der die emotionale Bewegung des Sprechers zugleich eine logische Progression bildet. Das rhetorische Zentrum ist die Frage (Vers 3), um die sich alles dreht.

2. Semantische Polarität

Das Gedicht operiert durchgängig mit binären Oppositionen: Herz ↔ Augen, Leben ↔ Sterben, Gunst ↔ Ungunst, Licht ↔ Dunkel. Diese Polarität ist charakteristisch für den barocken Denkstil, der die Welt als Spannungsfeld zwischen Gegensätzen begreift, die nur durch göttliche oder ästhetische Vermittlung aufgehoben werden können.

3. Subjektkonstitution durch Fremdheit

Das lyrische Ich definiert sich nicht autonom, sondern in der völligen Abhängigkeit vom Du. Der Blick der Geliebten wird zum konstitutiven Spiegel des Selbst – ein frühes Beispiel der barocken Subjektproblematik, in der Selbsterkenntnis immer durch den Anderen vermittelt ist.

Gesamtschau

Das Gedicht An ihre Augen kondensiert in sechs Versen das zentrale barocke Spannungsfeld zwischen Erkenntnis und Undurchsichtigkeit, Liebe und Tod, Sprache und Schweigen. Auf der Oberfläche erscheint es als schlichtes Liebesgedicht, doch auf der tieferen Ebene ist es eine Reflexion über das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung, von Blick und Sinn, von poetischer Inspiration und existentieller Auslieferung.

Abschatz gelingt es, den Augenblick der Ungewissheit – das Zwischen von Gunst und Ungunst, Leben und Sterben – zum poetischen Prinzip zu erheben. So wird der Blick der Geliebten zum Symbol des barocken Weltgefühls selbst: klar und rätselhaft zugleich, schön und gefährlich, göttlich und menschlich.

Assoziative Dimensionen

1. Das Blickmotiv als seelisches Durchdringen

Die Augen erscheinen hier nicht als bloß äußerliche Schönheitsattribute, sondern als durchdringende Instanzen, die so tieff ins Hertze scheint. Dieses Bild ruft die Assoziation einer seelischen Transparenz hervor: Das Herz, traditionell Sitz des Empfindens und der Wahrheit, wird vom Licht des Blicks durchdrungen. Das Scheinen der Augen nimmt hier fast metaphysische Züge an – es wirkt wie ein geistiges Licht, das das Innerste des lyrischen Ichs erhellt oder entblößt.

2. Zwischen Liebe und Gericht

Das lyrische Ich erfährt den Blick zugleich als Gnade und als Gericht. Die Augen entscheiden über Sterben oder Leben – eine Formulierung, die an den frühbarocken Dualismus von Eros und Thanatos, von himmlischer Erhebung und irdischer Vernichtung erinnert. Das Gefühl der Liebe wird in existentielle Kategorien übersetzt: Der Liebesblick ist zugleich Lebensspender und Todesurteil.

3. Ergebenheit und Selbstaufgabe

In den Versen Seyd ihr geneigt/ ich bin bereit mich zu ergeben erscheint das Motiv der Unterwerfung. Diese Hingabe hat zugleich erotische, höfisch-galante und religiöse Untertöne: Der Liebende ist bereit, sich dem Willen der Geliebten – oder ihrem Blick – völlig zu unterwerfen. In der barocken Denkfigur könnte dies auch als ein Spiegel des Verhältnisses zwischen Mensch und göttlicher Gnade gelesen werden.

4. Ambivalenz von Licht und Schatten

Das Lichtmotiv (Schein) trägt eine doppelte Bedeutung: es steht einerseits für Schönheit, Erleuchtung, Offenbarung; andererseits kann der Schein auch Trug und Unerreichbarkeit bedeuten. Diese Ambivalenz macht den inneren Konflikt des lyrischen Ichs aus – die Augen, die er zu ehren bereit ist, können ihm dennoch nicht günstig seyn.

5. Spiegelung des Selbst im Blick des Anderen

Der Blick der Geliebten fungiert als Spiegel des Ichs: Erst durch ihn gewinnt das Ich Erkenntnis über sich selbst – sei es als Liebender, als Leidender oder als Sünder. Der Blick hat eine aufklärende, ja offenbarende Funktion, die mit dem inneren Gericht über das eigene Begehren einhergeht.

Formale Dimension

1. Strophenform und Metrum

Das Gedicht besteht aus einer Strophe mit sechs Versen, die eine geschlossene, rhetorisch verdichtete Form bildet. Das Metrum bewegt sich im Bereich des regelmäßigen vier- bis fünffüßigen Jambus, typisch für die barocke Liebeslyrik, wobei die rhythmische Struktur den dialogischen Charakter des Gedichts unterstützt.

2. Reimschema

Das Reimschema ist aabbcc, also paarweise gereimt. Diese symmetrische Struktur verstärkt den Eindruck einer klar geordneten, höfischen Redeweise – der formale Gleichklang kontrastiert zur inneren Unruhe des Ichs.

3. Rhetorische Struktur

Der Text entfaltet sich als Frage- und Antwortbewegung:

Zunächst stellt das Ich eine anklagende Frage (Erkläret euch, wies sey gemeynt).

Dann folgt die existentielle Alternative (Sterben oder Leben).

Schließlich mündet die Strophe in eine selbstreflexive Bekräftigung der Bereitschaft zur Hingabe (ich bin bereit mich zu ergeben) und in resignative Akzeptanz (Wollt ihr mir gleich nicht günstig seyn).

Diese Struktur gleicht einem Miniatur-Dialog, der aber innerlich, in der Seele des Liebenden, geführt wird.

4. Sprachliche Figuren

Antithese: Sterben oder Leben bringt die Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung auf den Punkt.

Personifikation: Die Augen werden als handelnde Wesen angesprochen, fähig zu richten und zu entscheiden.

Metaphorik des Lichts: Das Scheinen der Augen steht für Wirkung, Offenbarung und Macht.

Parallelismus und Symmetrie: Das syntaktische Gleichgewicht betont die kontrollierte, fast höfische Haltung des lyrischen Ichs trotz der inneren Erregung.

5. Klang und Tonfall

Der Ton ist höfisch, aber innerlich erregt, die Diktion vereint galante Anmut und religiöse Tiefe. Durch die weichen Vokale (ihr mir so tieff ins Hertze scheint) entsteht eine lyrische Klangfülle, die dem Text zarte Melancholie verleiht.

Topoi

1. Liebesblick / Augen als Spiegel der Seele

Der Blick als Medium des Gefühls und Instrument der Macht über den Liebenden ist ein zentraler Topos der barocken Liebesdichtung, von Petrarca bis Opitz.

2. Sterben aus Liebe

Das Motiv des amor mortis – der Tod als Folge der unerfüllten Liebe – ist ebenfalls barocktypisch und wird hier als existentielle Alternative formuliert.

3. Dienende Liebe

Der Topos der servitium amoris, also der demütigen Unterwerfung unter die Geliebte, bestimmt den Ton der Verse (ich bin bereit mich zu ergeben).

4. Schein und Wahrheit

Der doppeldeutige Begriff des Scheins verweist auf den barocken Dualismus von Erscheinung und Sein, Schönheit und Vergänglichkeit, Licht und Trug.

5. Herz als Sitz des Affekts

Das Herz steht für das Zentrum der Empfindung, aber auch der geistigen Läuterung. Es ist das Ziel des Blickes und zugleich Ort des Konflikts.

Literaturepochentypische Kontextualisierung

1. Barocke Affektpoetik

Das Gedicht folgt den Prinzipien der barocken poetica affectuum: Dichtung soll Affekte wecken, lenken und in Form bringen. Die Emotion der Liebe wird nicht spontan ausgedrückt, sondern in rhetorisch-kontrollierte Form gebracht.

2. Höfische Galanterie und Petrarkismus

Abschatz steht in der Tradition des galanten, petrarkistischen Liebesgedichts, das die Frau idealisiert, aber zugleich die Distanz zwischen Verehrer und Geliebter wahrt. Der Liebende bleibt in höfischer Demut – seine Leidenschaft äußert sich in Unterwerfung und Selbstdisziplin.

3. Religiöse Tiefenschicht des Erotischen

Wie häufig im Barock durchdringen sich sakrale und erotische Semantiken: Der Schein der Augen erinnert an göttliches Licht, das zugleich Gnade und Gericht ist. Diese Doppeldeutigkeit entspricht dem barocken Weltgefühl von Vanitas und göttlicher Ordnung.

4. Kontext der Sammlung Anemons und Adonis Blumen

Der Zyklus selbst ist in der Tradition mythologisch-galanten Blumengedichts verankert: Adonis steht für leidenschaftliche Liebe und Sterblichkeit, Anemone für zarte Schönheit und Vergänglichkeit. Dieses Gedicht fügt sich als eine meditative Miniatur über das Machtverhältnis zwischen Schönheit und Liebe in dieses Gesamtbild ein.

5. Barocke Dialektik von Gefühl und Form

Die strenge Form (Paarreim, geschlossene Strophe) steht im Spannungsverhältnis zum emotionalen Gehalt. Der barocke Mensch erlebt das Gefühl nur innerhalb der Ordnung der Form – eine geistige Disziplinierung des Affekts.

Abschließende Gesamtsynthese

1. Zentrum des Gedichts: der Blick als Macht- und Erkenntnisinstrument

Das Gedicht ist eine kleine seelische Szene, in der der Blick der Geliebten eine alles entscheidende Funktion erhält: er offenbart, richtet, tötet oder belebt. Der Liebende ist nicht mehr autonom, sondern Spiegelbild dieses Blickes.

2. Die Liebe als existenzieller Prüfstein

Der Text steigert den Liebesaffekt zur existenziellen Frage: Der Blick entscheidet über das Sein des Ichs. Damit wird die höfische Liebessituation zum Symbol einer metaphysischen Abhängigkeit – eine barocke Variante des Seins durch den Anderen.

3. Ambivalenz zwischen Eros und Theologie

Hinter der galanten Fassade schwingt ein religiöses Pathos: Der Schein der Augen wird zum Sinnbild des göttlichen Lichts, das den Menschen erleuchtet, aber auch richtet. Das Gedicht oszilliert zwischen sinnlicher und geistlicher Lesart.

4. Form als Ausdruck der Affektkontrolle

Die geordnete Struktur wirkt wie ein rhetorischer Rahmen, der das innere Chaos zähmt. Gerade durch die kunstvolle Fügung der Verse gewinnt das Gedicht jene barocke Spannung zwischen Gefühl und Form, Verzweiflung und Würde.

5. Barocke Weltanschauung: Zwischen Gnade und Vergeblichkeit

Abschatz’ Gedicht spiegelt das zentrale barocke Bewusstsein der Ungewissheit des menschlichen Schicksals: Leben und Tod, Gunst und Ungunst, Gnade und Verwerfung liegen dicht beieinander. Das Gedicht ist damit nicht nur Liebeslyrik, sondern ein Gleichnis über die existentielle Abhängigkeit des Menschen von einer höheren Instanz – sei sie göttlich oder irdisch-weiblich.

Gesamturteil:

Hans Aßmann von Abschatz’ An ihre Augen ist ein meisterhaft verdichtetes barockes Liebesgedicht, das in sechs Versen die ganze Dialektik von Liebe, Macht, Abhängigkeit und Gnade entfaltet. Hinter der höfischen Eleganz und dem galanten Ton liegt ein tiefes metaphysisches Erschauern vor der Möglichkeit des Verlusts – ein Moment, in dem der erotische Blick zur Allegorie des göttlichen Scheins wird.

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