LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Anemons und Adonis Blumen

Die stumme Sprache

Wenn ich nicht reden darff/ nimm meine Seufftzer hin;1
Sie werden dir in ihrer Sprache sagen:2
Wenn Glück und Himmel hätten meinen Sinn/3
Ich wolte dir mehr Opffer tragen.4

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Wenn ich nicht reden darff/ nimm meine Seufftzer hin;

Der Sprecher beklagt eine Situation, in der ihm das offene Sprechen verwehrt ist. Dies kann sowohl sozial (Verbot, Standesunterschied, gesellschaftliche Schranken) als auch emotional (Schüchternheit, Angst vor Zurückweisung) verstanden werden.

Die Seufftzer sind ein typisches Motiv der barocken Liebeslyrik: Sie gelten als körperlicher Ausdruck innerer Leidenschaft, als unwillkürliches Ausströmen der Seele.

Damit wird eine stumme Sprache eingeführt – eine Kommunikation jenseits der Worte.

2 Sie werden dir in ihrer Sprache sagen:

Hier wird der paradox klingende Gedanke entfaltet: die Seufzer selbst haben eine Sprache.

Das Motiv erinnert an petrarkistische Traditionen, in denen Blicke, Tränen, Seufzer und Gesten als Ersatzsprache der Liebenden fungieren.

Die stumme Sprache ist zugleich universell verständlich – die Geliebte braucht keine Übersetzung, sondern erkennt den Affekt direkt.

3 Wenn Glück und Himmel hätten meinen Sinn/

Der Sprecher bedient sich einer hypothetischen Wendung: Wären sein Geschick (Glück) und das göttliche Weltgefüge (Himmel) mit seiner inneren Sehnsucht im Einklang, könnte er mehr tun.

Das verweist auf eine barocke Spannung zwischen Schicksalsmacht und individuellem Willen.

Der Ausdruck macht deutlich: die Liebe steht unter kosmischer Bedingung, nicht bloß menschlicher Möglichkeit.

4 Ich wolte dir mehr Opffer tragen.

Der Liebesdienst wird in religiöser Terminologie beschrieben: das Opfer knüpft an den kultischen, ja sakralen Bereich an.

Die Liebe erhält so einen quasi-religiösen Charakter – der Sprecher stellt sich als Opfernder vor, der der Geliebten Verehrung schuldet.

Zugleich klingt hier die Begrenztheit an: nur die äußeren Umstände verhindern das größere Opfer. Das Gedicht bleibt in der Schwebe zwischen Versagung und Hingabe.

Organischer Aufbau und Verlauf

Das Gedicht ist nur eine Strophe mit vier Versen, aber hochkonzentriert gebaut:

Vers 1 eröffnet mit der Einschränkung (Wenn ich nicht reden darff) und führt unmittelbar die Ersatzsprache ein (nimm meine Seufftzer hin). Es wird ein Mangel (Verbot, Unfähigkeit, Hemmung) und zugleich eine Alternative vorgestellt.

Vers 2 erläutert, wie diese Seufzer wirken: Sie sprechen in einer eigenen, nonverbalen Sprache.

Vers 3–4 steigern den inneren Konflikt: Wären Glück und Himmel dem Dichter günstiger, könnte er mehr äußern, mehr opfern. Hier wird die Begrenztheit des Ausdrucks auf den Seufzer tragisch kontrastiert mit einer Fülle, die unzugänglich bleibt.

→ Organisch wächst die Strophe von Mangel → Ersatzsprache → Sehnsucht nach Fülle. Ein kleiner dramatischer Bogen: vom Verbot zum inneren Überschuss.

Philosophische Dimension

Die Frage nach Sprache und Ausdruck: Was geschieht, wenn das Wort versagt? Der Seufzer wird zu einer Metasprache, die auf vor-sprachlicher Ebene Sinn vermittelt.

Das Gedicht thematisiert Grenze und Möglichkeit des Menschen: Sprache ist begrenzt, während das Gefühl unendlich bleibt.

Der Rekurs auf Glück und Himmel verweist auf eine transzendente Instanz, die den menschlichen Ausdruck reguliert – Sprache wird nicht nur psychologisch, sondern auch kosmologisch beschränkt.

Opfergabe als Metapher zeigt: Kommunikation ist zugleich Hingabe, Ethos, Transzendenz.

Psychologische Dimension

Seufzen ist Ausdruck unterdrückter Emotion, meist Schmerz, Liebesverlangen oder Sehnsucht. Es signalisiert ein psychisches Übermaß, das nicht in Worten gefasst werden kann.

Das lyrische Ich zeigt einen Zustand der Sprachhemmung oder des Verbotenseins: möglicherweise ein Verweis auf Standesunterschied, soziale Konvention, unausgesprochene Liebe.

Der Wunsch, mehr Opffer zu tragen, zeigt die innere Spannung zwischen Fülle und Ohnmacht – das psychische Bedürfnis nach Entäußerung findet nur im Seufzer seine minimale Bahn.

Ethische Dimension

Das Opffer ist moralisch konnotiert: Hingabe wird als ethischer Akt verstanden.

Es zeigt ein Verständnis von Liebe als Pflicht und Opferbereitschaft, nicht bloß als Gefühl.

Zugleich wird durch die Resignation (wenn Glück und Himmel hätten meinen Sinn) eine demütige Haltung sichtbar: das Ich akzeptiert die höhere Ordnung, auch wenn sie das eigene Glück beschränkt.

Anthroposophische Dimension

In anthroposophischer Lesart ist der Seufzer mehr als bloße Physiologie: er ist Ausdruck einer ätherischen, seelischen Sprache, die zwischen Mensch und Kosmos vermittelt.

Das Motiv, dass Glück und Himmel den Sinn lenken, verweist auf eine geistige Ordnung, die das individuelle Schicksal umfasst.

Die stumme Sprache kann als Hinweis auf ein höheres Sprechen der Seele verstanden werden – eine Art geistige Kommunikation jenseits des Lautes.

Ästhetische Dimension

Die Kürze der Strophe macht sie zu einem Miniaturgedicht, dessen Wirkung gerade in der Konzentration liegt.

Rhetorisch wirken: Antithese (nicht reden – Seufzer), Parallelismus, Konjunktiv (wolte).

Ästhetisch beeindruckt die poetische Verdichtung: vier Verse tragen die Spannung zwischen Sprachlosigkeit und Überschuss.

Die Metaphorik (Seufzer als Sprache, Opfer als Ausdruck der Liebe) verleiht der Strophe eine symbolische Dichte.

Metaebene

Das Gedicht reflektiert über sich selbst als poetischen Akt: Sprache kann über Sprachlosigkeit sprechen.

Es ist ein Text über die Grenze der Dichtung selbst: Worte können nicht das Ganze sagen, sie verweisen auf ein Mehr, das jenseits der Sprache liegt.

Damit ist die stumme Sprache auch ein poetologisches Bild: Poesie lebt vom Unsagbaren, das im Seufzer, im Schweigen, in der Andeutung präsent wird.

Zugleich stellt das Gedicht eine Selbstrechtfertigung der Poesie dar: selbst wenn Worte versagen, kann der Dichter noch Ausdruck finden.

Fazit

Aßmanns Die stumme Sprache ist eine poetische Miniatur, die Sprachlosigkeit in Sprache verwandelt. Sie kreist um die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren und legt nahe, dass wahre Hingabe oft nur in nonverbaler, seelischer Sprache fassbar ist.

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