Ach!
Du fragst/ was sagen will diß Ach!1
Das ich bey deiner Ankunfft sprach?2
Es sprach: Ach! seht die holden Wangen/3
Seht die beliebte Fillis an;4
Da kommt auff Rosen-voller Bahn5
Mein Tod/ mein süsser Tod/ gegangen.6
1 Du fragst/ was sagen will diß Ach!
Das lyrische Ich beginnt mit einer metapoetischen Wendung: Die Geliebte oder ein fiktiver Hörer fragt nach der Bedeutung des spontanen Ausrufs Ach!.
Damit wird ein Gefühl der Überwältigung, der Schmerz oder auch die ekstatische Süße in einem einzigen Laut verdichtet.
Das Gedicht kreist um die semantische Entfaltung dieses Ausrufs.
2 Das ich bey deiner Ankunfft sprach?
Der Ausruf ist zeitlich gebunden: Er fällt beim Erscheinen der Geliebten.
Der Moment der Ankunft markiert ein Augenblickserlebnis, in dem Sprache in reine Exklamation zerfällt.
So wird die Präsenz der Geliebten selbst zum Anlass der Sprachlosigkeit, die sich nur noch in einem Ach! äußern kann.
3 Es sprach: Ach! seht die holden Wangen/
Das Ach! erhält nun eine Deutung: Es ist ein Ausruf der Bewunderung angesichts der Schönheit der Geliebten, insbesondere ihrer Wangen.
Diese gelten in der Barockpoetik oft als Sitz von Jugend, Blüte und Lebensfülle.
Das lyrische Ich übersetzt den spontanen Laut in ein sprachliches Bild.
4 Seht die beliebte Fillis an;
Die Geliebte wird mit dem poetischen Namen Fillis angesprochen, ein typischer Schäfername aus der bukolischen Tradition.
Damit wird die Szene in einen idyllisch-pastoralen Kontext gestellt: Liebe, Natur und Schönheit werden miteinander verflochten.
Das Seht wirkt wie ein Appell an ein imaginäres Publikum, die Schönheit mitzuzeugen.
5 Da kommt auff Rosen-voller Bahn
Die Ankunft der Geliebten wird nun als ein Vorgang beschrieben: Sie erscheint auf einem rosenvollen Weg.
Die Rose ist Symbol der Liebe, zugleich der Schönheit und Vergänglichkeit.
Hier ist sie vor allem Emblem des Liebeszaubers, der die Erscheinung der Geliebten verklärt.
Der Weg selbst wird zur blühenden Bühne des Liebeserlebnisses.
6 Mein Tod/ mein süsser Tod/ gegangen.
Der Schlussvers bringt die barocke Doppeldeutigkeit von Tod ins Spiel: Zum einen ist er Ausdruck des Liebesschmerzes, der überwältigenden Leidenschaft, die wie ein Sterben empfunden wird.
Zum anderen verweist süßer Tod auf das erotische Konzept der petite mort (kleiner Tod), also die Vereinigung in der Liebe.
In der barocken Emblematik ist diese Ambivalenz typisch: die Geliebte erscheint zugleich als Lebensspenderin und als Ursache der Selbstauflösung des Ichs.
Das Gedicht entfaltet sich aus einem einzigen Affekt: dem Ach!.
Exordium (V. 1–2): Der Sprecher setzt mit der Frage nach der Bedeutung seines Ausrufs ein – er schafft eine Selbstbefragung, die auch als rhetorische Figur des Exempels dient: das eigene Seufzen soll erklärt werden.
Mittlerer Teil (V. 3–4): Die Erklärung wird gegeben: das Ach! ist die spontane Reaktion auf die Schönheit der Geliebten (holden Wangen, beliebte Fillis). Hier erfolgt eine direkte Wendung von der Selbsterklärung zur Demonstration: das Ach wird als Zeichen der Überwältigung durch sinnliche Erscheinung gedeutet.
Peroratio (V. 5–6): Die Steigerung mündet in paradoxaler Klimax: Die Geliebte erscheint auff Rosen-voller Bahn und wird als zugleich mein Tod und mein süsser Tod bezeichnet. Das Ach kulminiert in einer Todesmetapher, die Eros und Thanatos, süßes Begehren und vernichtende Gefahr, verbindet.
Der Aufbau ist damit streng konzentrisch: Ausruf – Erklärung – paradoxale Zuspitzung.
Das Gedicht offenbart eine psychische Ambivalenz:
Das Ach ist Ausdruck des Affekts, eines spontanen Überschusses an Empfindung. Psychologisch gesehen ist es der Laut, in dem sich Überwältigung, Sehnsucht und Bedrohung gleichzeitig verdichten.
Die Geliebte erscheint als übermächtige Gestalt, die den Sprecher zugleich anzieht und in Todesnähe bringt. Sie ist Objekt der Bewunderung, aber auch Anlass existenzieller Bedrohung.
Die doppelte Bezeichnung mein Tod / mein süsser Tod legt eine innere Spaltung frei: Lust und Angst, Hingabe und Selbstverlust, Lebensdrang und Todesnähe sind untrennbar verwoben.
Das Gedicht kann psychologisch als Projektionsraum einer ekstatischen Erfahrung gelesen werden: Schönheit wird nicht nur genossen, sondern als existenziell gefährlich erlebt.
Ethisch berührt der Text Fragen nach Maß, Leidenschaft und Selbsthingabe:
Das Ach steht für eine Ungebrochenheit der Leidenschaft, die sich nicht durch ethische Rationalität zügeln lässt.
In der Tradition barocker Liebeslyrik klingt die Gefahr an, dass die Hingabe an Schönheit zu Tod führt – im moralischen Sinne: Verlust der Tugend, Auflösung von Selbstkontrolle, Verfallen an Sinnlichkeit.
Gleichzeitig erscheint in der paradoxen Wendung (süsser Tod) eine ethische Relativierung der Todesgefahr: Was nach den Regeln der Moral Gefahr wäre, wird subjektiv als höchstes Glück erfahren.
Damit bewegt sich der Sprecher auf der Grenze zwischen asketischer Warnung (Schönheit als Gefahr) und hedonistischer Verherrlichung (Schönheit als höchste Erfüllung).
Im Hintergrund lässt sich eine tiefe barocke Dialektik von Eros, Tod und Transzendenz erkennen:
Das Ach! als Sprachzeichen der Endlichkeit.
Es ist ein Laut, der den Menschen an seine Ohnmacht erinnert: Sprache bricht zusammen in Laut, weil das Gefühl stärker ist als jede rationale Erklärung. Damit verweist das Gedicht auf die Grenze menschlicher Sprache angesichts existenzieller Erfahrung.
Eros und Thanatos.
Die Geliebte erscheint als mein Tod – ein Motiv, das die Einheit von Liebe und Sterben ausdrückt. Philosophisch ist dies eng an die barocke Vanitas-Vorstellung gebunden: jede höchste Freude trägt den Keim der Auflösung in sich.
Süßigkeit des Todes.
Theologisch eröffnet sich hier ein Resonanzraum mit mystischen Traditionen: der süsse Tod erinnert an die Rede vom mors mystica, also vom Sterben in der Liebe zu Christus, wie wir es etwa bei Johannes vom Kreuz oder Angelus Silesius finden. Hier wird das profane Begehren ins Sakrale transponiert: im Tod durch Liebe könnte eine höhere Vollendung liegen.
Schönheit als Offenbarung.
Die Geliebte, auf Rosen-voller Bahn, ist Bild der Schönheit, die einerseits irdisch-sinnlich ist, andererseits aber – im barocken Denken – auf die himmlische Schönheit Gottes verweist. Das Ach! wird so zum Ausdruck des Ergriffenseins durch ein Zeichen der Transzendenz, das aber zugleich tödlich übermächtig wirkt.
Dialektik von Ankunft und Ende.
Die Geliebte kommt, doch mit ihr kommt auch der Tod. Hier verbindet sich das Moment der Epiphanie (Ankunft) mit dem eschatologischen Ende (Tod) – ein barockes Motiv, in dem Liebe und Vergänglichkeit untrennbar ineinander verwoben sind.
Abschatz’ Gedicht Ach! ist ein miniaturhaft verdichtetes Beispiel barocker Affektpoetik.
Es entfaltet sich organisch von einem spontanen Laut über die Erklärung bis zur paradoxalen Todesmetapher.
Psychologisch zeigt sich die Überwältigung durch Schönheit, die zugleich Lust und Todesdrohung bedeutet.
Ethisch reflektiert der Text die Gefahr der Leidenschaft, die das Maß überschreitet und zugleich als höchstes Glück empfunden wird.
Philosophisch-theologisch wird die Einheit von Eros und Thanatos, Schönheit und Vergänglichkeit, profaner Lust und mystischer Todessehnsucht sichtbar.
Das kleine Ach! wird zum Schlüsselmoment barocker Welterfahrung: Sprachlosigkeit, Ambivalenz und Transzendenz.
Das Gedicht verdichtet ein zentrales Motiv der Barockzeit: die Einheit von Liebe und Tod.
Das Ach! ist kein bloßer Seufzer, sondern Ausdruck einer seelischen Erschütterung, in der der Mensch zwischen Sinnlichkeit und Transzendenz steht.
Aus anthroposophischer Sicht könnte man sagen: der Mensch erlebt in der Begegnung mit der Geliebten eine Überschreitung des Alltäglichen, eine Initiation in eine tiefere Bewusstseinssphäre. Die Rosen-volle Bahn verweist auf das Mysterium der Rose als Symbol des Herzens und der Opferhingabe.
Der süße Tod lässt sich als eine Art mystisches Sterben an der eigenen Selbstheit deuten: das Ich löst sich im Erlebnis der Liebe auf, ähnlich wie in mystischen Traditionen das Aufgehen im Göttlichen.
Ästhetisch lebt das Gedicht von seiner Kürze und Verdichtung: ein einziger Ausruf Ach! entfaltet ein ganzes Netz von Bedeutungen.
Die Schönheit der Geliebten wird durch Metaphern wie holden Wangen und Rosen-volle Bahn idealisiert.
Die Sprache ist emblematisch: Rosen stehen für Liebe, Schönheit, Vergänglichkeit.
Gleichzeitig liegt ein Spannungsmoment in der paradoxen Vereinigung von süß und Tod – ein typisches barockes Spiel mit Antithesen, das ästhetische Intensität erzeugt.
Das Gedicht beginnt mit einer rhetorischen Frage: Du fragst/ was sagen will diß Ach! – wodurch der Leser oder Adressat direkt einbezogen wird.
Die Exklamation Ach! fungiert als Leitmotiv und wird inhaltlich entfaltet. So wird eine emotionale Äußerung semantisch reflektiert.
Anaphern und Wiederholungen (Ach! – Ach! seht) verstärken die Wirkung.
Auch die finale Klimax Mein Tod/ mein süsser Tod bündelt Pathos in einer doppelten Steigerung.
Die Rhetorik ist theatralisch und performativ: das Ach! ist nicht nur Inhalt, sondern zugleich Handlung, ein Ausruf auf der Bühne des Gedichts.
Auf einer Metaebene reflektiert das Gedicht die Sprache selbst: ein einziges Wort (Ach!) wird zum Thema, es wird gefragt, was es sagen will.
Sprache erscheint damit nicht bloß als Ausdruck, sondern als Ereignis mit eigenem Bedeutungsüberschuss.
Das Gedicht zeigt, wie Poesie aus einem Laut, einem Ausruf, eine ganze Welt an Empfindungen und Bildern entfalten kann.
Es ist zugleich eine kleine Poetik des Barock: die Kürze des Ausdrucks, die Fülle des Gehalts.
Zudem wird die Dialektik von Leben und Tod, Lust und Leiden als poetischer Prozess selbst inszeniert.
Der Leser erfährt, dass Poesie in der Lage ist, das Unsagbare (Ach!) sagbar zu machen – und doch bleibt das Ach! in seiner Tiefe unerschöpflich.