LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Anemons und Adonis Blumen

Der unbekandte Liebhaber

Schau die Künheit fremder Hand/1
Welche/ sonder dich zu kennen/2
Macht durch diese Schrifft bekant3
Ihrer treuen Seele Brennen/4
Welche dich nicht kennen will5
Und nur kennet allzuviel.6

Fordre meinen Nahmen nicht7
Biß ihn wird die Zeit entdecken/8
Und der treuen Dienste Pflicht9
Gleiche Flamm in dir erwecken/10
Biß man mich auch ungenennt11
Gleich wie deine Tugend kennt.12

Mehr ich deiner Sclaven Zahl/13
Du bist drum nicht mehr geplaget;14
Wenn ein andrer seine Qual15
Dir mit langen Worten klaget/16
Sollen stumme Dienst allein17
Meiner Liebe Zeugen seyn.18

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Schau die Künheit fremder Hand/

Der Sprecher fordert die adressierte Person (wohl eine Geliebte) auf, den Mut (Künheit) einer fremden Hand zu betrachten.

Hand steht metonymisch für das Schreiben: die Hand als Werkzeug des Ausdrucks, die hier ein Bekenntnis der Liebe wagt.

Künheit weist auf die Grenzüberschreitung hin: etwas Intimes wird gewagt und schriftlich anvertraut.

2 Welche/ sonder dich zu kennen/

Betonung liegt auf der Unmittelbarkeit und Fremdheit: der Schreiber kennt die Geliebte nicht persönlich.

Hier klingt sowohl die Anmaßung als auch die verwegene Leidenschaft an – die Liebe gründet sich auf ein Bild, einen Ruf oder bloße Vorstellung.

3 Macht durch diese Schrifft bekant

Die Handlung: Der Liebende legt in der Schrift sein Herz offen.

Schrift wird hier zum Medium der Nähe, wo keine persönliche Begegnung möglich ist.

Ein literarisches Motiv der barocken Galanterie: der Brief oder das Gedicht ersetzt den fehlenden persönlichen Kontakt.

4 Ihrer treuen Seele Brennen/

Ausdruck des Affekts: das innere Feuer, das Brennen der Seele.

Treu ist ein paradoxes Attribut – Treue zu jemandem, den man eigentlich gar nicht kennt. Dies verstärkt die barocke Rhetorik des Unmöglichen.

5 Welche dich nicht kennen will

Nun die Umkehrung: die Person, die hier spricht, will den Geliebten nicht kennen.

Nicht kennen wollen kann zweideutig verstanden werden: entweder als bewusste Distanz, oder als Hinweis, dass das Kennen im konventionellen Sinn (äußerlich, gesellschaftlich) gar nicht gesucht wird.

Die Spannung zwischen Verlangen und Zurückweisung wird sprachlich aufgebaut.

6 Und nur kennet allzuviel.

Antithetische Pointe: Der Liebende kennt in Wahrheit doch sehr viel, wenn auch nicht äußerlich.

Gemeint ist ein inneres, imaginatives oder seelisches Kennen – eine Erkenntnis aus Leidenschaft, die über jede äußere Bekanntschaft hinausgeht.

Dieses Paradox (nicht kennen vs. allzuviel kennen) ist typisch barock: die Liebe wird als widersprüchlich und übersteigend erfahren.

7 Fordre meinen Nahmen nicht

Der Sprecher verweigert die Preisgabe seiner Identität. Die Liebe soll nicht durch das bloße Wissen um den Namen, also die soziale Zuschreibung, legitimiert werden. Hier klingt bereits das barocke Spiel von Anonymität, Ehre und Geheimnis an: die Liebe darf sich in einem Schwebezustand von Enthüllung und Verhüllung entfalten.

8 Biß ihn wird die Zeit entdecken,

Die Enthüllung ist nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern wird der Zeit überlassen. Ein Vertrauen in die Macht der Zeit – als Schicksalskraft oder göttliche Ordnung – ersetzt die sofortige Offenlegung. Zeit fungiert hier als Prüfstein der Treue.

9 Und der treuen Dienste Pflicht

Die Liebe wird als Dienst beschrieben, im höfisch-barocken Sinn: der Liebhaber stellt sich in den Dienst der Geliebten, gleichsam wie ein Vasall seinem Herrn. Pflicht deutet auf Ernsthaftigkeit, Bindung und Kontinuität – die Liebe ist kein flüchtiges Gefühl, sondern eine verpflichtende Haltung.

10 Gleiche Flamm in dir erwecken/

Der Sprecher hofft auf Gegenseitigkeit: dass seine Treue und sein Dienst in der Geliebten eine gleiche Flamme entzünden. Das Bild der Flamme ist barock-typisch: Liebe als loderndes Feuer, das jedoch nicht zerstört, sondern in inniger Erwiderung beide verbindet.

11 Biß man mich auch ungenennt

Auch wenn der Liebhaber ungenannt, also ohne Namen und Ansehen bleibt, will er als Liebender bestehen. Hier klingt Demut an: die Identität tritt zurück hinter der reinen Tat der Treue. Gleichzeitig spiegelt sich das barocke Spannungsfeld zwischen Ruhm und Anonymität.

12 Gleich wie deine Tugend kennt.

Seine Hingabe soll so selbstverständlich und evident sein wie die Tugend der Geliebten. Damit hebt er sie moralisch auf ein Podest – ihre Tugend ist für jedermann erkennbar, ebenso soll seine Treue erkennbar sein, selbst ohne Namensnennung. Die Liebe wird dadurch von gesellschaftlicher Reputation gelöst und in eine moralisch-spirituelle Sphäre erhoben.

13 Mehr ich deiner Sclaven Zahl

Der Sprecher reiht sich bewusst in die Sclaven Zahl ein – die typische barocke Metapher der Liebe als Knechtschaft. Die Geliebte hat viele Verehrer, die sich als Sklaven ihrer Schönheit oder Macht verstehen. Das lyrische Ich ordnet sich hier bescheiden, ja devot ein, was den Ton der unterwürfigen höfischen Liebe widerspiegelt.

14 Du bist drum nicht mehr geplaget;

Hier folgt die Beschwichtigung: Das Hinzutreten eines weiteren Sklaven soll keine zusätzliche Plage für die Dame sein. Der Sprecher betont seine Unauffälligkeit und Zurückhaltung, im Gegensatz zu aufdringlichen Verehrern. Er versucht, sein Auftreten als milde und erträglich erscheinen zu lassen.

15 Wenn ein andrer seine Qual

Ein Vergleich wird eingeführt: ein andrer Liebhaber trägt seine Qual klagend vor. Dieser Kontrast zeigt die Vielzahl von Stimmen, die die Dame vermutlich umschwirren – eine gängige Topik in galanter Lyrik.

16 Dir mit langen Worten klaget/

Die Rede vom langen Worten hat eine abwertende Nuance: Die Konkurrenz erscheint geschwätzig, ungeduldig, belastend. Das lyrische Ich dagegen grenzt sich von dieser Rhetorik ab. Implizit übt das Gedicht eine kleine Poetik der Zurückhaltung: wahre Liebe bedarf keiner Redeflut.

17 Sollen stumme Dienst allein

Die Gegenposition des Sprechers: Er will sich durch stumme Dienste auszeichnen. Schweigende Loyalität, stille Hingabe und Taten statt Worte gelten als höherwertiger Ausdruck der Treue. Damit wird eine Spannung zwischen Rhetorik (Worte) und Ethik (Dienste) aufgerufen.

18 Meiner Liebe Zeugen seyn.

Der Schluss fasst das Selbstverständnis des lyrischen Ichs: Nicht Worte, sondern Handlungen sind die Zeugen seiner Liebe. Diese Bescheidenheit ist zugleich ein subtiler Anspruch: Gerade durch Schweigen und Tat zeigt er sich als wahrhaftig und überlegen gegenüber den wortreichen Rivalen.

Organischer Aufbau und Verlauf

Das Gedicht entfaltet sich in drei klar strukturierten Strophen, die eine innere Dramaturgie erkennen lassen:

1. Strophe (V. 1–6): Einführung des paradoxen Motivs – ein Liebhaber bekennt sich in Schrift, ohne dem Gegenüber persönlich bekannt zu sein. Der Widerspruch von nicht kennen und allzuviel kennen bildet das Zentrum.

2. Strophe (V. 7–12): Bitte um Geduld und Schweigen. Der Name bleibt verborgen, bis die Zeit die Wahrheit enthüllt. Hoffnung auf Erwiderung durch eine gleiche Flamm.

3. Strophe (V. 13–18): Abschließende Selbsteinordnung: der Sprecher zählt sich zur Sclaven Zahl der Liebenden, verweigert lange Klagen, will nur durch stille Treue Zeugnis geben.

Der Verlauf geht also von Eröffnung der Paradoxie → Verhüllung und Erwartung → Selbstbeschränkung und stille Treue. Das Ganze wirkt wie eine geschlossene seelische Bewegung von Enthüllung über Verhüllung zu sublimierter Hingabe.

Philosophische Dimension

Identität und Anonymität: Das Gedicht spielt mit dem Gegensatz von persönlicher Identität (Name) und universaler Liebe (Seelenflamme). Philosophisch berührt es die Frage: ist das Individuum oder das Wesenhafte entscheidend?

Zeit und Wahrheit: Die Enthüllung wird in die Zukunft verlegt – Wahrheit ist ein Prozess, der durch Zeit vermittelt wird. Dies erinnert an barocke Vanitas-Philosophie, wo Enthüllung und Entzug einander bedingen.

Wahrheit der Liebe: Die Liebe ist unabhängig von äußeren Bezeichnungen (Namen). Das verweist auf eine platonische Auffassung, dass das Wesenhafte (Eros als Seelenflamme) wichtiger ist als das zufällige Individuum.

Psychologische Dimension

Ambivalenz von Nähe und Distanz: Der Sprecher kennt das Gegenüber allzuviel, bleibt selbst aber unbekannt – ein Spannungsfeld aus Verlangen und Selbstverhüllung.

Selbstverleugnung: Psychologisch ist die Rede von Sclaven Zahl Ausdruck einer Selbstunterwerfung, wie sie typisch für den höfischen oder petrarkistischen Liebesdiskurs ist.

Zurückhaltung statt Exhibition: Der Liebhaber verzichtet auf offene Selbstoffenbarung (kein Name, keine lange Klage) – das signalisiert Sublimierung des Begehrens in Schweigen.

Ethische Dimension

Zurückhaltung als Tugend: Nicht drängen, nicht bedrängen, sondern abwarten, bis die Zeit Enthüllung bringt. Das steht für eine Ethik des Respekts.

Treue ohne Forderung: Liebe wird nicht als Besitzanspruch, sondern als Dienst verstanden. Das macht den Sprecher moralisch integer.

Schweigen als Verantwortung: Statt rhetorischer Überredung herrscht ein ethisch motiviertes Schweigen – Schutz des Geliebten vor Überlastung.

Anthroposophische Dimension

Schrift als geistiges Medium: Die Schrifft ist mehr als Mitteilung – sie ist ein geistiges Band. In anthroposophischer Lesart wirkt Schrift als seelisch-geistige Offenbarung.

Zeit als geistige Instanz: Dass die Zeit entdecken wird, verweist auf ein höheres Walten. Zeit wird als schöpferische Kraft verstanden, die Wahrheit hervorbringt.

Liebe als Seelenfeuer: Das Brennen der Seele ist archetypisch für eine spirituelle Durchdringung, die nicht auf sinnliche Erfüllung, sondern auf innere Verwandlung zielt.

Ästhetische Dimension

Barockes Paradox: Nicht kennen und allzuviel kennen ist eine kunstvolle Antithese, typisch für barocke Sprachspiele.

Formale Geschlossenheit: Drei Strophen mit paralleler Struktur (jeweils Bekenntnis + Einschränkung + Selbstcharakterisierung). Das Gedicht wirkt musikalisch geschlossen.

Elegante Zurückhaltung: Statt Überfülle von Bildern herrscht hier knappe, präzise Sprache. Der ästhetische Reiz liegt in der Spannung von Schweigen und Andeutung.

Metaebene

Poetologie der Liebe: Das Gedicht reflektiert zugleich das Verhältnis von Literatur und Gefühl: Schrift ersetzt die unmittelbare Rede, Distanz wird ästhetisch produktiv.

Autorschaft und Anonymität: Der Sprecher bleibt ungenannt – das verweist auf die barocke Topik von Maske, Verhüllung und Inszenierung. Auch der Dichter selbst tritt als unbekandter Liebhaber auf, sodass Dichtung als verschleierte Selbstoffenbarung erscheint.

Leserlenkung: Der Text macht die Geliebte (und implizit den Leser) zum Mitspieler in einem Rätsel – Name und Identität werden aufgeschoben. So entsteht eine poetische Dynamik zwischen Geheimnis und Offenbarung.

Fazit

Abschatz’ Der unbekandte Liebhaber entfaltet sich als raffinierte Miniatur über anonyme, aber treue Liebe, die im Schweigen mehr Wahrheit findet als in lauter Klage. Philosophisch steht es für das Überindividuelle des Eros, psychologisch für eine Spannung von Enthüllung und Selbstverhüllung, ethisch für Respekt und Geduld, anthroposophisch für das Wirken geistiger Kräfte von Zeit und Schrift. Ästhetisch ist es ein Beispiel barocker Kunst der Antithese und Reduktion, und auf der Metaebene reflektiert es die Rolle der Dichtung als Medium zwischen Selbst und Anderem, zwischen Offenbarung und Geheimnis.

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