LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Anemons und Adonis Blumen

Die fremde Regung

Im Mittel aller Lust/ die Glück und Zeit mir geben/1
Kan ich ohn Silvien nicht frölich leben;2
Und wenn ich bey ihr bin/ so spielet um mein Hertz3
Ein angenehmer Schmertz.4

Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe/5
Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.6
Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan/7
So glaub ich/ daß ich liebe.8

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Im Mittel aller Lust/ die Glück und Zeit mir geben/

Der Sprecher befindet sich inmitten des vollen Lebens, das ihm durch Glück und Zeit gewährt wird.

Lust ist hier nicht nur sinnliche Freude, sondern auch allgemeine Lebensfreude und weltliche Vergnügung.

Mit Mittel ist sowohl der Mittelpunkt als auch die Mischung gemeint: Der Sprecher ist umgeben von Lust und dennoch nicht ganz erfüllt.

Schon hier wird eine Spannung angedeutet: Zeit und Glück sind vergänglich und nur äußere Quellen der Freude.

2 Kan ich ohn Silvien nicht frölich leben;

Kontrast zu Vers 1: Trotz aller äußeren Gaben ist die eigentliche Lebensfreude an die Geliebte Silvia gebunden.

Die Liebe übersteigt Glück und Zeit – sie wird zur eigentlichen Bedingung von Freude.

Der Vers bringt eine frühbarocke Erkenntnis: Das Individuum ist auf ein Du angewiesen, nicht nur auf äußere Fortuna.

Hier klingt das petrarkistische Motiv des Liebesexklusivs an: keine Freude ohne die Geliebte.

3 Und wenn ich bey ihr bin/ so spielet um mein Hertz

Die Gegenwart der Geliebten verändert den inneren Zustand: sie bringt Bewegung, Spiel, Regung.

Spielen impliziert Leichtigkeit, aber auch Unruhe – es ist nicht nur Freude, sondern auch Erregung.

Das Herz wird Zentrum der Emotion, typisch für die barocke Lyrik: innerer Affekt als körperlich fühlbare Regung.

Damit kündigt sich das Paradox von Freude und Schmerz an.

4 Ein angenehmer Schmertz.

Der Höhepunkt der Strophe: die Ambivalenz von Lust und Leid.

Angenehmer Schmerz ist ein Topos barocker Liebesdichtung: die Süße der Liebe ist stets mit Qual verbunden.

Schmerz wird nicht negativ empfunden, sondern verwandelt in eine paradoxe Form von Lust.

Es entsteht ein Oxymoron, das die widersprüchliche Natur des Liebeserlebens zum Ausdruck bringt.

5 Mein Sinn fühlt sich gereizt von unbekandtem Triebe

Der Sprecher beschreibt ein inneres Aufgewühltsein, das von einem nicht näher bestimmbaren Trieb ausgeht.

Sinn bezeichnet hier sowohl die Wahrnehmung als auch die seelische Regung, also das Zentrum der Empfindung.

Unbekandter Trieb legt nahe, dass es sich um eine neuartige, unverstandene Leidenschaft handelt – wahrscheinlich die Liebe, aber noch in ihrem rohen, unausgeklärten Stadium.

Auffällig ist die Spannung zwischen gereizt (ein eher negatives, beunruhigendes Wort) und dem geheimnisvoll-anziehenden Trieb.

6 Ich such/ und treffe sie doch ohne Furcht nicht an.

Der Sprecher geht aktiv auf die sie (die Geliebte, oder allegorisch die Personifikation der Liebe) zu.

Das suchen deutet auf ein sehnsüchtiges Verlangen hin.

Doch selbst wenn er sie trifft, ist er nicht frei von Furcht. Das verweist auf das barocke Motiv der ambivalenzhaften Liebe: sie ist zugleich Begierde und Gefahr.

Furcht kann hier moralisch-religiös gefärbt sein (Gefahr der Sünde), aber auch psychologisch (Scheu, Unsicherheit im Angesicht des Geliebten).

7 Wofern ein Mensch iemahls unwissend lieben kan

Hypothetischer Satz: Falls es überhaupt möglich ist, unwissend zu lieben, so trifft es den Sprecher.

Unwissend bezeichnet eine Liebe ohne Klarheit über ihre Ursache, ohne reflektiertes Erkennen – ein unbewusstes Getriebensein.

Dies verweist auf ein zentrales barockes Paradox: das Subjekt ist sich seiner eigenen Gefühle bewusst, aber nicht ihrer Herkunft oder ihres Ziels.

8 So glaub ich/ daß ich liebe.

Abschluss mit Selbstbekräftigung: trotz Unsicherheit und Unkenntnis glaubt der Sprecher nun doch, zu lieben.

Glauben ist hier doppeldeutig: sowohl als vage Vermutung (ich halte es für wahrscheinlich) als auch im religiösen Sinne, wo das Unfassbare geglaubt, nicht gewusst werden kann.

Damit wird Liebe zum Mysterium, das sich dem rationalen Wissen entzieht und nur im Glaubensakt erfasst werden kann.

Organischer Aufbau und Verlauf

Das Gedicht ist klar zweiteilig strukturiert:

Strophe 1 (V. 1–4): Kontrast zwischen äußerem Glück (Glück und Zeit) und innerer Leere ohne Silvia. Die paradoxe Verbindung von angenehmem Schmerz deutet den Zwiespalt der Liebe an.

Strophe 2 (V. 5–8): Übergang ins Innere: ein unbekandter Trieb regt den Sinn, das Subjekt sucht, doch mit Scheu. Der Schluss bringt die paradoxe Selbsterkenntnis: nur in der Ahnung, nicht im klaren Wissen, weiß das Ich, dass es liebt.

Der Aufbau folgt also einer Spannungssteigerung vom äußeren Lebensglück zum inneren, schwer benennbaren Ergriffensein. Die Bewegung ist organisch: vom Gegensatz äußerlich/innerlich über den paradoxen Zustand zum Bekenntnis der Liebe.

Philosophische Dimension

Das Gedicht thematisiert das Problem der Erkenntnis von Liebe: Wofern ein Mensch jemahls unwissend lieben kan… – Liebe entzieht sich der klaren Reflexion, sie ist eine Art apriorisches Gefühl.

Damit rührt es an die Erkenntnistheorie der Frühen Neuzeit: das Subjekt weiß, dass es nicht weiß, und dieses Nicht-Wissen ist gerade die Wahrheit seiner Erfahrung.

Philosophisch steckt hier ein Paradox des Bewusstseins: Liebe ist nur als unwissend authentisch. Reflexion zerstört die Unmittelbarkeit.

Psychologische Dimension

Das lyrische Ich erfährt eine Ambivalenz zwischen Lust und Schmerz (angenehmer Schmertz). Psychologisch betrachtet beschreibt das die typische Dialektik der Verliebtheit: Sehnsucht als süßer Mangel.

Das Gefühl der Scheu (ohne Furcht nicht an) verweist auf Unsicherheit, innere Hemmung, vielleicht frühe Projektion auf das Bild der Geliebten.

Das unbekandte Triebe verweist auf eine psychodynamische Ebene: die Entstehung unbewusster Regungen, die nicht steuerbar sind.

Ethische Dimension

Das Gedicht bleibt in der höfischen Liebesethik verankert: das Ich nähert sich ehrfürchtig, beinahe schamhaft, ohne Vermessenheit.

Liebe erscheint nicht als Konsum oder Besitz, sondern als Verantwortung vor dem Geheimnis des anderen.

Ethisch stellt es die Frage: ist Liebe nur legitim, wenn sie bewusst und willentlich ist – oder kann das unwissende Lieben ebenfalls eine Tugendform sein?

Anthroposophische Dimension

Anthroposophisch gelesen erscheint die Liebe hier als eine fremde Regung des höheren Ichs, das aus geistigen Sphären ins Bewusstsein dringt.

Der unbekandte Trieb wäre eine Impulsation aus dem seelisch-geistigen Kern, die das alltägliche Ich erschüttert.

Unwissend lieben bedeutet, von einer höheren Ordnung geführt zu werden, ohne dass das Ich es intellektuell durchschauen kann.

Die paradoxe Erfahrung von angenehmem Schmerz deutet auf die Einweihung in eine seelische Wandlung: Schmerz als Schwelle zum Geistigen.

Ästhetische Dimension

Formale Kürze (2 Strophen, 8 Verse) bringt eine prägnante Miniatur hervor, die fast epigrammatisch wirkt.

Die Oxymora (angenehmer Schmertz) und Paradoxa (unwissend lieben) verleihen der Sprache eine barocke Tiefenschärfe, die in der Kürze das Unsagbare andeutet.

Ästhetisch spiegelt sich die Fremdheit des Gefühls in der Widersprüchlichkeit der Bilder.

Metaebene

Das Gedicht reflektiert über sich selbst: es stellt nicht nur Liebe dar, sondern problematisiert die Möglichkeit, Liebe überhaupt sprachlich zu fassen.

Das Ich gesteht am Ende seine Sprachgrenze ein: Liebe ist nur fremde Regung, bleibt dem Verstand unverfügbar.

Damit enthält das Gedicht ein metapoetisches Moment: Lyrik wird zum Medium, das gerade das Unaussprechliche (das Unwissende, Fremde) andeutet.

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