Ihr Augen/ eure Blicke1
Gerathen in Verdacht:2
Nehmt euch für Ungelücke/3
Das eure Künheit macht/4
Hinfort genau in Acht.5
Man saget/ daß ihr spielt6
Nach der Verliebten Art/7
Wiewohl ichs nie gefühlet/8
Und eurer Stralen Fahrt9
Auff Rosen-Wangen paart.10
Entdeckt nicht Unbekandten11
Was ihr itzund allein12
Solt meiner Amaranthen/13
Durch dunckler Farben Schein14
Ins Hertze schreiben ein.15
Lasst sie von ferne wissen/16
Was dieser treue Mund/17
Im Fall sie zu beküssen18
Ihm möchte seyn vergunt/19
Ihr würde machen kund.20
Bringt mir Bericht zurücke/21
Was zu erwarten sey/22
Und ob auch ihre Blicke23
Sich/ sonder Heucheley/24
Dem Hertzen nahen bey.25
Ich will mit Willen tragen26
Die auffgelegte Schuld/27
Nicht über Unrecht klagen/28
Wo Amaranthens Huld29
Ist meiner Blicke Sold.30
1 Ihr Augen/ eure Blicke
Die Anrede richtet sich direkt an die Augen – ein Topos barocker Liebeslyrik.
Augen gelten als Mittler der Seele und als gefährlich, weil sie das Begehren wecken.
Abschatz personifiziert sie und hebt zugleich auf die Wirkung der Blicke ab, die mehr als nur ein körperliches Organ, sondern ein Ausdruck des Inneren sind.
2 Gerathen in Verdacht:
Hier wird den Augen bzw. Blicken eine Schuld unterstellt: sie stehen im Verdacht.
Dieses juristisch konnotierte Wort lässt an ein Verhör oder eine Anklage denken. Liebesblick und strafbares Verhalten verschmelzen.
Schon der Blick allein kann eine Übertretung sein – ein typisch barockes Motiv der Gefährdung durch Schönheit.
3 Nehmt euch für Ungelücke/
Das lyrische Ich warnt: aus dem unbedachten Blick könnte ein Unglück entstehen.
Damit klingt einerseits das Risiko erotischer Verstrickung an, andererseits auch eine religiös-moralische Dimension: Verführung gilt als Sünde.
Hier spricht eine Stimme, die zwischen Warnung und Vorwurf oszilliert.
4 Das eure Künheit macht/
Die Künheit (Kühnheit, Verwegenheit) der Augen bzw. Blicke wird thematisiert.
Augen wagen etwas – sie überschreiten Grenzen. Sie sind nicht passiv, sondern aktiv handelnde Akteure.
Kühnheit war im Barock doppeldeutig: einerseits Ausdruck von Stärke und Mut, andererseits von Übermut und Gefahr.
5 Hinfort genau in Acht.
Das Gedicht schließt die Strophe mit einem imperativischen Appell: die Augen sollen sich künftig in Acht nehmen.
Das heißt: Vorsicht, Selbstkontrolle, Zurückhaltung. Es handelt sich um eine barocke Moraldidaxe: Leidenschaft soll gebändigt, Blick und Begehren gezügelt werden.
6 Man saget/ daß ihr spielt
Sprachlich: Der Vers beginnt mit der unpersönlichen Wendung Man saget, eine Form von tradiertem Wissen oder allgemeiner Rede. Das spielt knüpft an barocke Liebestopoi an, in denen Liebe häufig als Spiel, Tanz oder Wettstreit aufgefasst wird.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine distanzierte Redeweise (indirekte Autorität: man sagt), die Gerücht, Gemeinplatz und gesellschaftliche Meinung evoziert. Die Konstruktion deutet auf paralipsis (scheinbare Zurückhaltung) – der Sprecher wiederholt etwas, das er selbst angeblich nicht erfahren hat.
Inhaltlich: Hier wird die Geliebte (oder das lyrische Du) in eine Rolle gesetzt: sie spielt nach Art der Verliebten, was Leichtigkeit, Koketterie und vielleicht auch Unverbindlichkeit nahelegt. Der Sprecher bezieht sich nicht auf eigene Erfahrung, sondern auf Hörensagen.
7 Nach der Verliebten Art/
Sprachlich: Die Wendung nach der … Art bezeichnet ein Muster, eine Konvention. Verliebten Art verweist auf ein kulturell codiertes Verhalten.
Rhetorisch: Es liegt eine Art topos vor: die Art der Verliebten ist eine bekannte Kategorie im galanten Diskurs, zugleich wird sie typisierend abstrahiert.
Inhaltlich: Hier wird eine allgemeine Gesetzmäßigkeit behauptet: Liebende verhalten sich spielerisch, und das lyrische Du reiht sich in diese Tradition ein. Damit entsteht ein Spannungsfeld zwischen Individualität und Typisierung: die Geliebte wird als exemplarisch vorgestellt.
8 Wiewohl ichs nie gefühlet/
Sprachlich: Der Konzessivsatz wiewohl führt eine Einschränkung oder Distanzierung ein. Die archaische Form gefühlet knüpft an den barocken Sprachduktus an.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine selbstabgrenzende Reflexion – der Sprecher setzt sich von der allgemein verbreiteten Meinung ab. Das ist eine Art litotes (Verneinung oder Einschränkung), die seine Glaubwürdigkeit steigern soll.
Inhaltlich: Der Sprecher bekennt, dass er die verliebte Art nicht selbst erfahren habe. Dies lässt eine Spannung entstehen: Er spricht von Liebe, die er nicht kennt oder nicht ergriffen hat – vielleicht ironisch, vielleicht melancholisch. Das Ich bleibt Beobachter, nicht Teilnehmer.
9 Und eurer Stralen Fahrt
Sprachlich: Das Bild der Stralen verweist auf Licht, Glanz, Schönheit. Fahrt deutet Bewegung, Dynamik, eine zielgerichtete Bahn an. Zusammen ergibt sich ein starkes, barockes Bildfeld: Liebesstrahlen (Blicke) treffen wie Pfeile oder Sonnenstrahlen.
Rhetorisch: Hier tritt eine Metapher auf: die Strahlen stehen für den Blick oder die Schönheit der Geliebten. Die Fahrt ist eine Personifikation des Lichts, zugleich eine Allegorie des Liebesblicks.
Inhaltlich: Der Vers hebt die Wirkungskraft der Geliebten hervor: ihr Blick oder ihre Schönheit hat etwas Energetisches, Bewegendes, fast Überwältigendes. Im Kontext von Eros kann dies sowohl verführerisch als auch gefährlich sein.
10 Auff Rosen-Wangen paart.
Sprachlich: Rosen-Wangen ist eine barocke Metapher, die auf das klassische Schönheitsideal verweist: die blühende Farbe, die Lebendigkeit, die erotische Anziehung. Das Verb paart suggeriert Verbindung, Vereinigung, Harmonie.
Rhetorisch: Wir haben hier einen klassischen Petrarkismus: die Metaphorik von Rosen für die Wangen der Geliebten. Die Kombination mit Stralen Fahrt bringt ein hypallage-artiges Spiel zustande: das Strahlen (Blick) und die Rosen (Wangen) bilden ein harmonisches Paar.
Inhaltlich: Der Vers verdichtet die Bildwelt zu einer Synthese: Schönheit (Rosenwangen) und Wirkung (Strahlen) fügen sich zusammen. Der Sprecher benennt eine Einheit von äußerem Glanz und innerer Kraft der Liebe.
11 Entdeckt nicht Unbekandten
Sprachlich: Der Imperativ Entdeckt eröffnet den Vers mit Nachdruck; Unbekandten ist archaisch für Unbekannten, signalisiert ein Publikum außerhalb des vertrauten Kreises.
Rhetorisch: Es handelt sich um eine ermahnende Apostrophe, fast wie eine warnende Sentenz. Die Alliteration Entdeckt – Unbekandten verstärkt die Abgrenzung.
Inhaltlich: Die sprechende Instanz mahnt zur Verschwiegenheit: gewisse Geheimnisse oder intime Gefühle sollen nicht Fremden offenbart werden. Das verweist auf eine barocke Topik der Diskretion und der inneren Reserviertheit in Liebes- und Freundschaftsdingen.
12 Was ihr itzund allein
Sprachlich: itzund (= jetzt) ist ein temporales Adverb, das die Gegenwartssituation akzentuiert. allein markiert Exklusivität.
Rhetorisch: Das Versende mit allein wirkt wie ein Zäsurpunkt, eine Steigerung der Exklusivität, die auch durch die enjambierte Fortsetzung ins nächste Vers weiter entfaltet wird.
Inhaltlich: Nur die Adressatin (oder der enge Vertrautenkreis) soll Kenntnis davon haben. Der Moment des Jetzt wird betont: die Mitteilung ist aktuell, unmittelbar, aber auch flüchtig.
13 Solt meiner Amaranthen/
Sprachlich: Amaranthen (Amaranth, die unvergängliche Blume) steht als poetisches Emblem für ewige Liebe, Treue und Beständigkeit. Die Metapher verweist auf barocke Emblematik.
Rhetorisch: Der Imperativ solt (sollt) setzt den Appell fort. Die Amaranthen sind zugleich Sinnbild und allegorisches Zeichen. Der Vers bricht mit dem Schrägstrich ab und geht ins nächste über – ein enjambement, das Spannung schafft.
Inhaltlich: Das Geheimnisvolle, das nicht Fremden anvertraut werden soll, bezieht sich auf die Amaranthen – also die unsterblichen Liebeszeichen des lyrischen Ichs. Die Liebe soll allein der Adressatin eingeschrieben bleiben.
14 Durch dunckler Farben Schein
Sprachlich: dunckler Farben Schein ist ein synästhetischer Ausdruck: Farbe + Schein ergeben ein paradoxes Bild – etwas Dunkles strahlt. Typisch barocke Oxymorondichte.
Rhetorisch: Die Metapher der duncklen Farben deutet auf verhüllte, nicht offenbare Zeichen. Hier wirkt die Chiffrierung, ein poetisches Spiel mit Geheimschrift der Liebe.
Inhaltlich: Die Liebesbotschaft ist nicht offen und hell, sondern codiert, verschattet, nur von der Geliebten zu verstehen. Das Motiv der Diskretion wird durch die Symbolik des dunklen Scheins unterstrichen.
15 Ins Hertze schreiben ein.
Sprachlich: Das Bild des Schreibens ins Herz ist konventionell biblisch-konnotiert (vgl. Jeremia 31,33: Ich will mein Gesetz in ihr Herz schreiben). Orthographie mit Hertze verweist auf ältere Schreibform.
Rhetorisch: Metapher des Einprägens, Hyperbel des Verinnerlichens. Die innere Inschrift ist stärker als äußeres Wort.
Inhaltlich: Die Botschaft soll nicht äußerlich ausgesprochen, sondern ins Herz der Geliebten eingeschrieben werden. Damit wird Intimität und Unvergänglichkeit verbunden – die Liebe als geheime, unverlierbare Inschrift.
16 Lasst sie von ferne wissen/
Sprachlich: Der Imperativ Lasst eröffnet den Vers mit einem Aufruf; von ferne setzt eine räumliche Distanz. Der Satzfluss ist elliptisch, typisch für die barocke Kunstsprache, die Gedanken in komprimierter Form entfaltet.
Rhetorisch: Hier wirkt ein Appellcharakter: eine Apostrophe an ungenannte Dritte (vielleicht Boten, vielleicht allegorische Instanzen wie Freunde, Götter oder die Welt). Von ferne evoziert sowohl räumliche als auch emotionale Distanz, eine topische Wendung in der barocken Liebesdichtung.
Inhaltlich: Das lyrische Ich wünscht, dass die ferne Geliebte Kenntnis von seinen Gefühlen oder Worten erhält. Es geht um Kommunikation trotz Trennung: Liebe verlangt nach Mitteilung, auch wenn sie nicht unmittelbar in körperlicher Nähe geschehen kann.
17 Was dieser treue Mund/
Sprachlich: treue Mund ist eine synekdochische Verkürzung: Der Mund steht für die Person, für die Sprache, für die Treue der Liebesäußerung. Das Possessiv fehlt, wodurch die Objektivität verstärkt wird.
Rhetorisch: Personifikation und Metonymie: Der Mund spricht für das ganze Subjekt. Zugleich ist treu eine Liebesepitheton, typisch barocke Zier.
Inhaltlich: Der Mund wird als Träger der Wahrheit und Beständigkeit der Gefühle hervorgehoben. Es geht darum, dass die Botschaft unverfälscht und treu übermittelt wird – als Kontrast zur Ferne und möglichen Entfremdung.
18 Im Fall sie zu beküssen
Sprachlich: Bedingungssatz (im Fall) formuliert eine Hypothese. zu beküssen drückt nicht das faktische Geschehen aus, sondern die Möglichkeit.
Rhetorisch: Konditionalität wird als Spannungsträger genutzt: es entsteht ein Schwebezustand zwischen Wunsch und Unerreichbarkeit.
Inhaltlich: Der Kuss ist die zentrale Geste der Intimität. Da er nur im Bedingungsmodus erscheint, bleibt er unerfüllt – Symbol der Distanz, zugleich Verweis auf die Sehnsucht nach Vereinigung.
19 Ihm möchte seyn vergunt/
Sprachlich: Veraltete Form vergunt (gewährt, vergönnt), typisch barocke Diktion. Der Dativ ihm verweist auf das lyrische Ich.
Rhetorisch: Wunschformel: Optativische Struktur (möchte seyn vergunt) signalisiert das Bitten um Gnade. Das Passivische des Ausdrucks betont die Abhängigkeit von fremdem Wohlwollen.
Inhaltlich: Der Kuss steht nicht in der Verfügung des Ichs, sondern muss von der Geliebten gewährt werden. Liebe wird als Gnadenakt verstanden, nicht als selbstverständlich Gegenseitiges – barocke Demutsfigur gegenüber der Geliebten.
20 Ihr würde machen kund.
Sprachlich: Archaisch-barocke Wortstellung: machen kund = bekanntmachen, offenbaren. Das Futurisch-Potenzielle (würde) signalisiert Konjunktivität.
Rhetorisch: Umkreisende Wiederholung des Mitteilungsakts: Die Liebe ist nicht nur Gefühl, sondern will explizit verkündet und weitergetragen werden.
Inhaltlich: Am Ende wird der Gedanke geschlossen: Sollte der Kuss gewährt sein, würde dieser Kuss selbst zur Botschaft der Treue. Der Vollzug des Kusses ersetzt das gesprochene Wort, er wird Zeichen und Beweis der Liebe.
21 Bringt mir Bericht zurücke/
Sprachlich: Archaische Wendung zurücke (statt moderner zurück) betont metrisch das Paarreim-Schema und fügt sich in den barocken Sprachfluss. Imperativ Bringt erzeugt eine Aufforderung.
Rhetorisch: Direkter Appell an imaginäre Boten oder Vertraute; die Anapher der Befehlsform eröffnet die Strophe mit Dringlichkeit. Der Imperativ evoziert eine dramatische Szene.
Inhaltlich: Das lyrische Ich erwartet Auskunft, also Nachricht über den Stand seiner Liebeshoffnung. Es wird eine Distanz markiert – er selbst wagt oder kann den Schritt zur Geliebten nicht tun, sondern ist auf Vermittlung angewiesen.
22 Was zu erwarten sey/
Sprachlich: Der Konjunktiv sey verweist auf die hypothetische, noch ungeklärte Zukunft; die Wendung wirkt wie ein höfisch-galantes Ausweichen, statt direkter Forderung.
Rhetorisch: Elliptisch formuliert: Was zu erwarten sey bleibt offen, erzeugt Spannung und lässt den Adressaten den Satz selbst füllen.
Inhaltlich: Es geht um die Frage, ob sich Hoffnung lohnt oder ob Enttäuschung droht. Die Liebe erscheint als unsicheres Terrain, das wie ein Schicksal abgewartet werden muss.
23 Und ob auch ihre Blicke
Sprachlich: ob auch als Einleitung einer indirekten Frage; das Substantiv Blicke konzentriert die Aufmerksamkeit auf ein klassisches Zeichen barocker Liebessprache: der Blick als Spiegel der Seele.
Rhetorisch: Ein Suspense-Effekt: Der Satz wird aufgespannt und erst in den folgenden Versen ergänzt. Das Hinauszögern intensiviert die Erwartung.
Inhaltlich: Der Blick der Geliebten wird zur entscheidenden Instanz, die Aufschluss gibt über Zuneigung oder Ablehnung.
24 Sich/ sonder Heucheley/
Sprachlich: sonder im Sinne von ohne; Heucheley markiert moralische Begrifflichkeit – Täuschung, Verstellung, barockes Misstrauen gegen bloße äußere Zier.
Rhetorisch: Antithetische Setzung: wahrhaftige vs. geheuchelte Blicke. Durch die Enjambierung wird das Wort Heucheley isoliert hervorgehoben.
Inhaltlich: Der Sprecher fürchtet Täuschung in der Liebeskommunikation. Wahre Blicke sollen sich von bloßer Maskerade unterscheiden. Die Unsicherheit bleibt leitendes Motiv.
25 Dem Hertzen nahen bey.
Sprachlich: Hertzen in der barocken Schreibweise; nahen bey wirkt tautologisch, steigert aber Intensität (Nähe + Bei).
Rhetorisch: Abschluss der Strophe mit einer klanglichen Rundung: bey als Reimwort schließt das Versgefüge. Alliteration (Herzen/nahen) bindet den Vers lautmalerisch.
Inhaltlich: Das Ziel der Liebeshoffnung ist Herzensnähe – nicht nur äußerer Schein, sondern innere Einung. Das Gedicht kulminiert in der Frage, ob diese Nähe wahrhaftig geschenkt wird.
26 Ich will mit Willen tragen
Sprachlich: will … Willen: bewusste Wortfigur (Polyptoton) derselben Wortwurzel → bekräftigt Entschlusskraft.
tragen im frühneuhochdeutschen Bedeutungsfeld: nicht nur physisches Tragen, sondern ertragen, dulden, auf sich nehmen.
Parataktische Einfachheit (Subjekt–Modalverb–Objektlosigkeit) erzeugt einen Ausgangsakkord der Selbstverpflichtung.
Rhetorisch: Polyptoton (will/Willen) + Alliteration der w-Laute: voluntatives Pathos.
(Vermutlich) Alexandriner-Duktus mit ruhender Zäsur nahe der Mitte: hebt das Gelöbnis aphoristisch heraus.
Inhaltlich: Sprecher setzt ein Programm der Hingabe: freiwilliges Duldungsversprechen.
Barocker Ethos des servitium amoris: Liebesdienst wird nicht erzwungen, sondern als Wahl präsentiert — ein paradoxes freiwilliges Sich-Unterstellen.
27 Die auffgelegte Schuld/
Sprachlich: auffgelegt (archaisch für aufgelegt, auferlegt): semantisches Feld des Rechts/der Last.
Schuld doppeldeutig: Verbindlichkeit (juridisch/ökonomisch) und Schuldhaftigkeit (moralisch).
Rhetorisch: Elliptische Fortführung des Akkusativobjekts zu tragen aus V. 26 → Enjambement über die Versgrenze, das die semantische Last in den nächsten Vers hinüberträgt.
Klanghärte durch k-/ g-Laute (aufF-GElegt, Schuld): akustische Schwere.
Inhaltlich: Das Liebesverhältnis wird in die Metaphorik von Last und Verpflichtung gesetzt.
Ex negativo: Schuld ist nicht selbstgewählt, sondern auferlegt — die Freiwilligkeit bezieht sich auf das Tragen, nicht auf das Auferlegt-Sein.
28 Nicht über Unrecht klagen/
Sprachlich: Negationspartikel Nicht am Versanfang: starker Negationsakzent.
Unrecht hält das rechtliche Feld (V. 27: Schuld) präsent.
klagen mit juristischem Einschlag (Klage erheben) und emotionalem (sich beklagen).
Rhetorisch: Antithetische Selbstbindung: statt Klage → Duldung.
Asyndetische Kürze (keine Beiordnung) erhöht Maximen-Charakter, beinahe sentenzhaft.
Inhaltlich: Der Sprecher verzichtet auf Widerrede gegenüber der (vermeintlichen) Ungerechtigkeit.
Liebesethos als akzeptierte Asymmetrie: auch wenn Unrecht geschieht, wird nicht opponiert — Topos der patientia amoris.
29 Wo Amaranthens Huld
Sprachlich: Wo im Sinn von wo/sofern/da: konditional-kausale Einleitung der Begründung.
Amaranthen: Anrufung einer (mythisch-emblematischen) Figur/Blume; Genitivus subjectivus (Amaranthens Huld = die Gunst, die von Amaranth ausgeht).
Huld: frühneuhochdeutsch für Gnade, Gunst, gnädige Zuwendung (höfisch-sakraler Klang).
Rhetorisch: Emblematische Aufladung: Amaranth als barockes Symbol des Unverwelklichen/der Beständigkeit; die Benennung wirkt wie eine epitheton ornans.
Inversion der normalen Satzfolge (Begründung vor Nachsatz) steigert die Erwartung und öffnet semantischen Raum vor der Pointe im nächsten Vers.
Inhaltlich: Begründung des Verzichts auf Klage: Die Gunst Amaranthens (als Geliebte, Flora-Allegorie oder Tugendpersonifikation) relativiert Unrecht.
Liebesökonomie: Ein Funken Gunst kompensiert erlittene Lasten.
30 Ist meiner Blicke Sold.
Sprachlich: Blicke metonymisch für Aufmerksamkeit/Sehnsucht/Gottes- oder Damen-Schau; pluralisiert, um Häufigkeit/Intensität zu markieren.
Sold: Soldatenlohn; hartes, ökonomisch-militärisches Lexem — schließt an Schuld/Unrecht an und verschiebt ins Feld Lohn/Bezahlung.
Parallele Genitivfügung meiner Blicke: prägnante, knappe Besitzanzeige.
Rhetorisch: Pointe der Strophe als clausula: der Konditionalsatz (V. 29) erhält hier seinen Hauptsatz.
Antithetonisch-paradoxe Bildlogik: Flüchtiger Blick ↔ fester Sold.
Klangliche Abrundung durch gedehnte O-Laute (Sold), die die Pointe gewichten.
Inhaltlich: Servitium amoris als Tauschhandlung: Der Lohn für die treuen, hingegebenen Blicke ist die Huld der Amaranth.
Umwertung der Werte: Nicht äußerer Vorteil, sondern ein immaterielles Gnadenzeichen wird zur höchsten Zahlung.
Der Vers schließt die semantische Kette Last (tragen) → Pflicht (Schuld) → Verzicht (nicht klagen) → Gunst (Huld) → Entlohnung (Sold).
Semantisches Feld Recht/Ökonomie: Schuld – Unrecht – Sold; Liebe wird in Kategorien der Verpflichtung und Vergütung gefasst.
Ethos der Geduld: Das lyrische Ich wählt freiwillige Duldung; Klage verstummt, sobald Gunst (Huld) gewährt ist.
Emblematik des Amaranth: Der Amaranth (unverwelkliche Blume) kodiert Beständigkeit/Unsterblichkeit — die gewährte Huld ist nicht bloß momentane Gunst, sondern ein Zeichen dauernder Anerkennung.
Rhetorische Ökonomie: Von der Willensbekräftigung (V. 26) über die Last (V. 27), Verzicht (V. 28) und Begründung (V. 29) zur pointierten Lohnformel (V. 30).
Paradox der Freiheit in Bindung: Freiwilligkeit (mit Willen) innerhalb eines auferlegten Systems (auffgelegte Schuld) — barocke Dialektik von Subjekt und Ordnung, Liebe und Gesetz.
Das Gedicht entfaltet sich in fünf Strophen mit klarer innerer Logik:
Strophe 1 (V. 1–10): Der Sprecher richtet sich an seine eigenen Augen. Er mahnt sie zur Vorsicht, da ihre Künheit (Kühnheit) sie in Verdacht bringe, zu viel von der inneren Neigung preiszugeben. Gleichzeitig deutet er an, dass die Blicke bereits verraten könnten, was im Herzen geschieht.
Strophe 2 (V. 11–15): Appell an die Augen, ihre Botschaft nur der Geliebten (hier Amaranth) einzuschreiben, nicht aber Fremden zu verraten. Die Augen sind wie ein geheimnisvoller Schriftzug im Herzen der Geliebten gedacht.
Strophe 3 (V. 16–20): Er wünscht, dass die Augen von Ferne wirken, gleichsam wie Vorboten einer Liebeserklärung. Falls der Mund jemals den Kuss empfangen dürfte, so sollen die Augen das vorab schon signalisieren.
Strophe 4 (V. 21–25): Die Augen sollen als Botschafter Bericht erstatten: Ob die Geliebte aufrichtig, sonder Heucheley, mit ihren Blicken Antwort gibt und Nähe zulässt.
Strophe 5 (V. 26–30): Abschließende Haltung: Der Sprecher erklärt sich bereit, die Schuld der Liebe auf sich zu nehmen und nicht zu klagen, solange die Gunst der Amaranth seinen Blicken als Lohn zukommt.
Der Verlauf ist organisch: von der Mahnung zur Diskretion (Selbstzucht der Augen), über die heimliche Mittlerfunktion der Blicke, bis zur Frage nach Erwiderung und schließlich zur resignativen, aber zugleich hingebungsvollen Akzeptanz des Schicksals der Liebe.
Innerer Zwiespalt: Das lyrische Ich schwankt zwischen dem Drang zur Offenbarung und der Furcht vor Entdeckung. Die Augen sind hier Symbol und Projektionsfläche des unbewussten Drangs, Gefühle zu verraten.
Selbstkontrolle und Verdrängung: Die Mahnung an die eigenen Augen zeigt die psychologische Spannung barocker Liebeserfahrung: Diskretion ist Pflicht, aber die Leidenschaft sucht sich doch Wege.
Augen als Stellvertreter: Psychologisch gesehen sind die Augen eine Entlastungsfigur: Sie dürfen ausdrücken, was der Mund noch nicht sagen darf. Dadurch verlagert sich das Sehnen auf einen indirekten Kanal, was typisch ist für die Rhetorik der unerfüllten oder heimlich kultivierten Liebe.
Ambivalenz: Einerseits Scham und Vorsicht, andererseits Hoffnung auf Resonanz. Das Gedicht beschreibt eine Liebessituation, die ganz von Unsicherheit, Projektion und Erwartung lebt.
Diskretion als Tugend: In der höfischen/barocken Kultur war Verschwiegenheit eine Tugend. Der Sprecher fordert seine Augen auf, nicht leichtfertig Gefühle preiszugeben. Hier schwingt das Ideal der honestas mit: sittliche Zucht in Liebesangelegenheiten.
Treue und Loyalität: Gegenüber der Geliebten herrscht absolute Treue. Die Augen sollen nur ihr, nicht Unbekandten, ihre Botschaft offenbaren. Damit wird ein ethisches Maß zwischen Leidenschaft und Pflicht hergestellt.
Schuld und Verantwortung: Am Ende erklärt sich das Ich bereit, die aufgelegte Schuld zu tragen. Die Liebe wird als moralische Last und doch als selbstgewählte Verpflichtung verstanden. Es gibt keine Klage über Ungerechtigkeit – die Hingabe ist ethisch eingebettet in Geduld und Akzeptanz.
Augen als Spiegel der Seele: In barocker Anthropologie sind die Augen nicht nur Sinnesorgane, sondern Fenster zum Inneren. Hier haben sie eine fast sakramentale Funktion: Sie schreiben ins Herz der Geliebten, gleichsam wie ein göttliches Zeichen.
Liebe als Sprache: Die Blicke werden als eine Art Schrift oder Offenbarung gedeutet. Damit erhält das Gedicht eine theologische Tiefe: Wie die Schrift Gottes im Herzen der Gläubigen eingeschrieben ist (vgl. Jeremia 31,33), so schreibt die Liebe des Sprechers durch die Augen in das Herz der Geliebten.
Diskretion und Geheimnis: Das Verbergen der Liebe verweist auf das barocke Paradox von Offenbarung im Verborgenen. Die wahre Innerlichkeit zeigt sich nicht in lautem Bekenntnis, sondern in geheimnisvoller, fast mystischer Kommunikation.
Schuld und Gnade: Am Schluss ist die Rede von Schuld und Huld. Das weist über die profane Liebeserfahrung hinaus: Schuld ist der Preis der Liebe, Huld ist die Gnade, die sie rechtfertigt. Hier klingt ein theologisches Muster an: wie der Mensch die Schuld trägt, aber in der Gnade Erfüllung findet.
Liebe als Transzendenz: Die ganze Struktur legt nahe, dass die Erfahrung der Liebe eine Überformung des Verhältnisses von Gott und Mensch ist: Sehnsucht, Unsicherheit, Geheimnis, Erwartung, Gnade. Das Gedicht operiert im Grenzbereich von profaner Erotik und allegorischer, fast mystischer Theologie.
In anthroposophischer Perspektive erscheinen die Augen als seelisch-geistige Organe, nicht bloß als physiologische.
Der Dichter warnt vor der Künheit des Blickes – ein Hinweis auf die Gefährdung durch ungebändigte seelische Kräfte.
Der Stralen Fahrt auf Rosenwangen verweist auf die Vereinigung von Licht und Leben, das sich im Antlitz der Geliebten spiegelt.
Der Amaranth, eine unvergängliche Blume, ist Symbol des Ewigen: hier deutet er auf eine Liebe hin, die nicht bloß irdisch-erotisch ist, sondern eine seelische Spur im Herzen hinterlässt.
Das Gedicht bewegt sich damit zwischen sinnlicher Erscheinung und seelisch-geistiger Dimension: der Blick als schöpferische Kraft, die ins Herz einschreibt.
Formal ist das Gedicht klar in die barocke Liebeslyrik eingeschrieben: fünf Strophen mit strenger Binnenstruktur, klanglich fein gearbeitet (Reim und Binnenklang: Blicke – zurücke, Huld – Schuld).
Das Spiel von Augen und Blicken wird ästhetisch als Spiegelung und Projektion gestaltet. Die Farbmetaphorik (Rosenwangen, dunkler Farben Schein) sorgt für Bildlichkeit und sinnliche Anschaulichkeit.
Ästhetisch lebt das Gedicht von der Spannung zwischen verbotener Offenbarung und geheimnisvoller Verschlüsselung: das Nicht-Sagen, das Andeuten, das Verbergen, das sich zugleich im poetischen Bild selbst erfüllt.
Die Rhetorik ist von apostrophischer Anrede geprägt (Ihr Augen…). Die Augen werden personifiziert und wie Mittler oder Boten angesprochen, die zwischen Sprecher und Geliebter agieren.
Dies entspricht barocker Emblematik, in der Körperteile symbolische Autonomie besitzen.
Zudem ist das Gedicht durchsetzt von rhetorischen Figuren:
Metapher: Stralen Fahrt = Blickstrahlen, als Lichtbewegung.
Personifikation: Augen als aktive Vermittler.
Paradoxon: er spricht von einer Erfahrung (wiewohl ich’s nie gefühlet), die er zugleich negiert.
Chiffre: Amaranth als poetisch aufgeladene Blume, die Unsterblichkeit und Treue symbolisiert.
Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht das Problem der Mitteilung von Liebe.
Die Augen werden zum Medium der Kommunikation, aber auch zum Problemfeld von Indiskretion und Gefahr: was die Augen verraten, ist nicht mehr kontrollierbar.
Der Text thematisiert also nicht nur Liebe, sondern die Bedingung ihrer Darstellbarkeit. Damit ist die Dichtung selbst in Gefahr, zu viel zu enthüllen – und wird doch zum Ort, an dem Enthüllung stattfindet.
Wir haben also eine Selbstreflexion des poetischen Aktes: das Gedicht wird zum Spiegel der Ambivalenz von Verschweigen und Mitteilung.
Poetologisch zeigt sich hier die barocke Strategie des codierten Sprechens.
Liebeslyrik in der Zeit ist oft chiffriert, allegorisch, verschlüsselt, um gesellschaftliche Konventionen zu umgehen.
Die Augen übernehmen die Rolle von Schreibern: ins Hertze schreiben ein.
Damit liegt eine poetologische Allegorie vor: wie der Blick etwas ins Herz schreibt, so schreibt der Dichter selbst ins Gedicht.
Das Verhältnis von Blick – Schrift – Herz ist eine poetische Selbstmetapher, die den Akt des Dichtens auf die Ebene der Liebe spiegelt.
Der Dichter macht sich so zum Mittler zwischen verborgener Erfahrung und sprachlicher Gestaltung.
Das Gedicht entfaltet eine geschlossene innere Dramaturgie: von der Mahnung zur Vorsicht über die heimliche Mitteilung der Augen bis zur erhofften Antwort und schließlich zur freiwilligen Annahme der Liebesschuld.
Psychologisch zeichnet es die Spannung zwischen Diskretion und Offenbarung,
ethisch die Tugend der Verschwiegenheit und Hingabe,
philosophisch-theologisch die Symbolik der Augen als geheimnisvolle Mittler zwischen Innerem und Äußerem.
Hinter der galanten Oberfläche verbirgt sich ein tieferes Muster: die Analogie zwischen Liebeskommunikation und göttlicher Gnadenerfahrung, zwischen Schuld und Huld.
Das Gedicht entfaltet eine barocke Dialektik zwischen Enthüllung und Verhüllung, zwischen irdischer Sinnlichkeit und geistiger Symbolik.
Anthroposophisch gesehen sind die Augen Botenkräfte des Seelischen, die die Verbindung zwischen Ich und Du ermöglichen.
Ästhetisch zeigt sich ein fein gesponnenes Gewebe aus Metaphorik, Farbsymbolik und Klang.
Rhetorisch ist es ein Musterstück barocker Anrede und Allegorisierung.
Auf Metaebene reflektiert es die Problematik der Liebesoffenbarung und zugleich die Gefahr von Indiskretion.
Poetologisch erscheint es als Selbstreflexion des Schreibens, in dem das Herz als poetischer Speicher und Ort der Schrift erscheint.