LYRIKATLAS
Der Kompass im Lyrikdschungel

Hans Aßmann von Abschatz

Anemons und Adonis Blumen

An seine Augen

Ihr Augen/ höret auff Silvinden zu beschauen!1
Mein Hertze/ welches sie kennt besser weder ihr/2
Sagt mir/ daß eure Lust wird sein mein Ungelücke.3
Es zwinget die Begier/4
Halt eure Stralen auch zurücke/5
Und höret auff Silvinden zu beschauen?6

Vers-für-Vers-Kommentar

1 Ihr Augen/ höret auff Silvinden zu beschauen!

Die Ansprache richtet sich an die eigenen Augen, die personifiziert werden. Der Sprecher mahnt sie, ihre Blicke von Silvinden – einer allegorischen oder literarischen Frauenfigur – abzuwenden.

Schon der erste Vers enthält eine Spannung: die Augen handeln wie selbstständige Wesen, das lyrische Ich muss sie zügeln.

2 Mein Hertze/ welches sie kennt besser weder ihr/

Das Herz wird in Konkurrenz zu den Augen gestellt.

Während die Augen nur oberflächlich schauen, weiß das Herz tiefer, besser um die Gefahren dieser Betrachtung.

Silvinden wird von Herzen erkannt, nicht nur gesehen – was andeutet, dass das Herz die innere Wahrheit kennt, während die Augen nur von Lust geblendet werden.

3 Sagt mir/ daß eure Lust wird sein mein Ungelücke.

Das Herz verkündet die Warnung: die Lust, die durch die Augen genährt wird, wird nicht zum Glück, sondern zum Unglück des Sprechers.

Der Topos der zerstörerischen Schönheit tritt hervor: das Schauen erzeugt Verlangen, und das Verlangen führt ins Verderben.

4 Es zwinget die Begier/

Die Lust ist nicht freiwillig, sondern zwingend. Begehrlichkeit tritt als eine Macht auf, die den Menschen unterjocht.

In der Kürze dieses Verses bündelt sich die Gewalt des Eros: ein innerer Zwang, dem schwer zu widerstehen ist.

5 Halt eure Stralen auch zurücke/

Die Augen werden erneut ermahnt, ihre Strahlen – ein Bild für die ausgehenden Blicke, aber auch für die Lichtstrahlen der Sehnsucht – zurückzuhalten.

Der Blick selbst wird als aktiver, beinahe aggressiver Vorgang verstanden, der Bindung und Verstrickung erzeugt.

6 Und höret auff Silvinden zu beschauen?

Der Vers wiederholt den ersten, jedoch nun als dringlicher Appell und zugleich als offene Frage.

Die Wiederholung verstärkt den mahnenden Ton: kann es nicht endlich gelingen, die Augen von Silvinden abzuwenden?

Organischer Aufbau und Verlauf

Das Gedicht ist eine kurze, sechzeilige Strophe, die jedoch eine klare Bewegung trägt:

V. 1 und 6 bilden eine Ringstruktur: Ihr Augen, höret auff Silvinden zu beschauen! – diese Wiederholung schafft den Rahmen, ein Imperativ an die eigenen Augen, das Begehren auf eine konkrete Gestalt zu richten oder eben zurückzuhalten.

V. 2–3: Innere Autorität verschiebt sich vom Auge zum Herzen. Das Herz, welches sie kennt besser weder ihr, spricht mit größerer Einsicht und warnt: das, was wie Lust erscheint, ist eigentlich Unglück. Hier tritt also eine Reflexionsebene hinzu, die gegen das erste Drängen des Blicks gestellt wird.

V. 4–5: Die Begierde erscheint als zwingende Macht, doch der Sprecher fordert eine Zurückhaltung: die Strahlen der Augen sollen zurücke gehalten werden. Damit verdichtet sich der innere Konflikt zwischen Affekt und Selbstbeherrschung.

Gesamte Bewegung: Von der sinnlichen Anziehung (Blick auf Silvinden) über das warnende Eingreifen des Herzens bis zur Mahnung an die Augen, die Begierde zu bändigen. Ein klassischer barocker Dreischritt: Wahrnehmung → Einsicht → Gebot zur Maßhaltung.

Psychologische Dimension

Das Gedicht inszeniert den innerseelischen Zwiespalt: Die Augen stehen für spontane Affekte, für die sinnliche Neigung. Das Herz hingegen verkörpert das tiefere Gefühl und zugleich die moralische Vernunftinstanz, die Erfahrung.

Psychologisch interessant ist, dass der Sprecher sein Inneres spaltet: das Herz wird zur Instanz, die den Augen überlegen ist. So wird die innere Stimme gegen das verführte Organ gestellt.

Das Gedicht zeigt eine Form barocker Selbstbeobachtung: der Mensch ist sich seiner Affekte bewusst und versucht, sie im Augenblick ihres Aufkommens zu bändigen.

Der letzte Vers verstärkt die Dringlichkeit: es ist nicht nur ein Rat, sondern eine fast verzweifelte Wiederholung des Anfangs – Ausdruck einer noch unentschiedenen, innerlich bedrängten Situation.

Ethische Dimension

Das Gedicht bewegt sich im Feld der barocken Ethik der Affektkontrolle: Sinnlichkeit und Begierde bedrohen das moralische Gleichgewicht, und die Vernunft (hier als Stimme des Herzens) muss mäßigend eingreifen.

Die ethische Forderung lautet: Zurückhaltung. Das Halt eure Stralen auch zurücke ist mehr als ein physiologisches Bild – es ist eine Tugendlehre: nicht alles, was lockt, darf verfolgt werden.

Gleichzeitig reflektiert das Gedicht auch die Gefahr einer falschen Lust: was wie Lust erscheint, kehrt sich in Unglücke. Hier klingt eine Ethik an, die von Erfahrung geprägt ist: Liebe kann ins Verderben führen, wenn sie nur Affekt ist.

Philosophisch-theologische Tiefenanalyse

Theologisch: Der Blick auf Silvinden steht pars pro toto für die Gefahr des Irdischen, des Fleisches, das von Gott abzieht. In barocker Tradition gilt der Blick als gefährlich, er ist ein Eingangstor der Sünde. Die Mahnung, die Augen zu zügeln, erinnert an die biblische Warnung vor dem begehrlichen Blick (vgl. Matthäus 5,28: wer ein Weib ansieht, sie zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen).

Philosophisch: Die Spaltung von Auge und Herz verweist auf die dualistische Anthropologie: Sinneswahrnehmung vs. inneres Erkennen. Das Herz ist hier nicht bloß Sitz der Leidenschaft, sondern des tieferen Wissens – beinahe wie bei Augustinus, der das Herz als locus interior sieht, wo Wahrheit offenbar wird.

Lust als Unglück: Barocke Vanitas-Erfahrung: Was sinnlich reizvoll erscheint, kehrt sich ins Gegenteil um. Ungelücke ist nicht nur individuelles Leid, sondern Ausdruck der grundsätzlichen Unzuverlässigkeit irdischer Freuden.

Begierde als Zwang: Sie zwinget, das ist fast eine anthropologische Aussage: Der Mensch ist unfrei, wenn er dem Affekt folgt. Freiheit wird erst durch die innere Zucht des Herzens möglich.

Esoterische Lesart: Das Gedicht könnte auch als Allegorie gelesen werden: die Augen = äußere Sinne, Silvinden = das Irdische, Herz = innere Seele. Dann wäre es eine kleine Meditation über den Vorrang des inneren Menschen gegenüber den äußeren Reizen.

Anthroposophische Dimension

Das Gedicht thematisiert die Macht des Blicks – die Augen sind nicht nur ein Sinnesorgan, sondern ein spirituelles Tor, durch das Seele und Herz miteinander in Austausch treten.

Anthroposophisch lässt sich dies als eine Konstellation von Wahrnehmungsorgan und innerer Resonanz verstehen: die Augen schauen, aber das Herz weiß tiefer.

Hier deutet sich an, dass wahre Erkenntnis nicht durch äußeres Schauen (die Augen) geschieht, sondern durch das Herz als Organ der höheren Wahrnehmung.

In Goethes und Steiners Denken gilt das Herz auch als Ort einer höheren Erkenntnisstufe, die über das bloß Sinnliche hinausgeht.

Das Gedicht betont damit den Konflikt zwischen sinnlicher Anziehung (Silvinde als Bild des verführerischen Begehrens) und innerer, geistiger Einsicht (das Herz weiß um das Unglück, das aus der Lust folgt).

Ästhetische Dimension

Das Gedicht entfaltet einen barocken Kontrast: Augenlust und Herzensleid, Strahlen und Rückzug, Anziehung und Abwehr.

Der barocke Formgestus zeigt sich in der Antithetik (eure Lust – mein Unglücke), der metaphorischen Überhöhung (die Augenstrahlen als magische Kräfte) und der musikalischen Bewegung der Verse, die mit dem eindringlichen Imperativ höret auff beginnen und enden.

Ästhetisch entsteht so ein dichterischer Raum der Spannung, der das Thema Liebe als ambivalente, schmerzvolle Schönheit erfahrbar macht.

Rhetorische Dimension

Rhetorisch wirkt der Text durch drei Hauptfiguren:

Apostrophe: Die Augen werden direkt angesprochen, als seien sie autonome Wesen.

Antithese: Freude vs. Unglück, Blick vs. Herz, Lust vs. Begierde.

Repetitio: Der einleitende Imperativ (höret auff) wird am Ende wiederholt, wodurch sich ein Rahmen bildet und die Dringlichkeit verstärkt.

Die Redeweise ist eindringlich, appellativ und zugleich von Klage getragen – eine barocke Mischung aus rhetorischer Kunstfertigkeit und emotionaler Wucht.

Metaebene

Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht über die Grenze zwischen äußerer Wahrnehmung und innerer Wahrheit: Was die Augen begehren, widerspricht dem, was das Herz erkennt.

So entsteht ein Diskurs über die Unzuverlässigkeit der Sinne – ein typisches barockes Motiv, das die Fragilität menschlicher Erkenntnis und das Spiel von Schein und Sein problematisiert.

Die Augen als Instrument der Verblendung, das Herz als Instanz der inneren Wahrheit – dies macht den Text zu einem meditativen Kommentar über das Wesen der Erkenntnis selbst.

Poetologische Dimension

Poetologisch lässt sich das Gedicht als Selbstreflexion der Poesie lesen: Die dichterische Sprache versucht, das Unaussprechliche der Liebe in Bilder zu bannen – Augenstrahlen, Herz, Lust, Unglück.

Das lyrische Ich ringt darum, das Spannungsverhältnis zwischen Begierde und innerer Wahrheit in Worte zu fassen.

In der rhetorischen Verdichtung und in der Überhöhung des Blickes zum gefährlichen Strahl zeigt sich zugleich die poetische Kraft, Affekte zu bannen und seelische Zustände sichtbar zu machen.

Das Gedicht ist so auch ein Exempel barocker Sprachmagie, die den Zwiespalt des Menschen nicht nur darstellt, sondern in der dichterischen Form vollzieht.

Fazit

Abschatz’ Strophe bewegt sich auf mehreren Ebenen: Sie zeigt die Augen als gefährliche Quelle der Begierde, kontrastiert durch das Herz, das um die Folgen weiß.

Anthroposophisch gelesen wird dies zum Gegensatz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und innerer Erkenntnis.

Ästhetisch entfaltet sich eine barocke Antithetik von Lust und Leid. Rhetorisch wirkt die Apostrophe und die Wiederholung des Imperativs. Auf der Metaebene reflektiert das Gedicht über den Trug der Sinne. Poetologisch schließlich wird das Dichten selbst zur Instanz, die diesen Zwiespalt sichtbar und gestaltbar macht.

Das Gedicht entfaltet ein kleines Drama des inneren Zwiespalts: die Augen sind auf Silvinden fixiert, doch das Herz erkennt die Gefahr und mahnt zur Selbstbeherrschung.

Das Spiel zwischen Sinnlichkeit (Augen, Begierde, Strahlen) und innerer Erkenntnis (Herz, Warnung, Unglück) zeigt die typische Barockspannung zwischen Verlockung der Schönheit und der Einsicht in ihre zerstörerische Macht.

Das kurze Gedicht entfaltet in kunstvoller Ringform eine barocke Miniatur über den Konflikt von Sinnlichkeit und geistiger Einsicht.

Organisch kreist es von der Wahrnehmung des reizvollen Objekts über das warnende Herz hin zur Mahnung, die Augen zurückzuhalten. Psychologisch zeigt es den inneren Zwiespalt und die Spaltung des Selbst in Affekt und Vernunft.

Ethisch betont es die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung angesichts verführerischer Lust. Philosophisch-theologisch schließlich reflektiert es die Unzuverlässigkeit sinnlicher Freuden, die anthropologische Spannung zwischen Begierde und Freiheit, und das christliche Motiv des Augenblicks als Versuchung, die das Herz zu überwinden hat.

So wird in sechs Versen ein exemplarisches barockes Lehrstück über die Dialektik von Liebe, Begierde und Selbsterkenntnis komprimiert.

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