Wilde Rosen

Louise Aston

Wilde Rosen

Ich begrüße euch, ihr Rosen,
In der Freiheit wilder Pracht,
Eingewiegt von Sturmestosen,
Großgesäugt vom Thau der Nacht!
Nicht im traulichen Gehege,
In des Gartens Mutterschoß,
Ohne eines Gärtners Pflege
Wird das Kind der Berge groß.

Wolken, die sich niedersenken,
Wolken voll Gewitterglut,
Müssen seine Kelche tränken,
Tränken mit lebend'ger Flut.
Drüberhin im Abendrothe
Träumerisch die Höh'n erglüh'n,
Und der Blitz, der irre Bote,
Grüßt es im Vorüberflieh'n.

Einen Kranz von wilden Rosen
Wand das Schicksal mir in's Haar,
Mir, der Fremden, Heimathlosen,
In den Stürmen der Gefahr.
Wilde Rosen: – die Gedanken,
Voll von Lebens-Uebermuth,
Wuchernd auf in üpp'gen Ranken,
Prangend in Gewitterglut!

Doch zu früh ins wilde Leben
Trieb mich eine finstre Macht;
Meiner Jugend Bilder schweben
Einsam durch den Traum der Nacht!
Und von Mißgeschick zerschmettert
Klagt in Trauer mein Gemüth:
Meine Rosen sind entblättert,
Ihre Farbenpracht verglüht!

Einsam, wie dem Geisterzuge
Blinde Seher einst gelauscht;
Lausch' ich dem Gedankenfluge,
Der im Sturm vorüberrauscht –
Meines Lebens irre Geister,
Haltet ein auf mein Geheiß!
Euch beschwört der Zaubermeister,
Bannt euch in der Dichtung Kreis!

Und aus schönen, glüh'nden Nächten,
Und aus Träumen frei und kühn,
Will ich wilde Rosen flechten,
Die in ihrem Thau erblüh'n!
Flechten mir der Dichtung Rosen
In der Freiheit wilder Pracht,
Eingewiegt von Liebeskosen,
Großgesäugt vom Thau der Nacht!

Analyse

Louise Astons Gedicht „Wilde Rosen“ ist eine poetisch-autobiographische Reflexion über Freiheit, Leid, schöpferische Kraft und weibliche Selbstermächtigung. In klarer symbolischer Sprache verwebt sie Naturmotive mit existenzieller Erfahrung, wobei das Leitmotiv der wilden Rose als Ausdruck eines ungezähmten, freien Lebenswillens und innerer Stärke fungiert.
Ein poetisches Manifest weiblicher Freiheit, geistiger Autonomie und künstlerischer Selbstbehauptung. Louise Aston setzt sich von der romantischen Idealisierung der Frau ab und entwirft stattdessen ein starkes, verletzliches, schöpferisches Ich. Die Rosen sind Symbol für ein Leben außerhalb des Gartens, ein Leben zwischen Sturm, Glut, Schmerz – und dennoch voller Schönheit und Würde.

1. Motivik und Symbolik

Wilde Rosen
Die Rose ist ein archetypisches Symbol der Schönheit, Liebe und Weiblichkeit. Aston transformiert dieses klassische Bild: Ihre „wilden Rosen“ wachsen außerhalb des kultivierten Gartens, also fern der bürgerlichen Ordnung. Sie sind nicht gezähmt, sondern Ausdruck von Freiheit, Gefahr, und Leidenschaft. Diese Pflanzen sind zugleich wunderschön und bedroht, da sie den Naturgewalten ausgesetzt sind. Die Dichterin identifiziert sich mit ihnen.
> „Nicht im traulichen Gehege, / In des Gartens Mutterschoß“
Die Ablehnung des Gartens verweist auf bürgerliche Enge, weibliche Rollenerwartung, vielleicht auch auf Mutterrolle und Konformismus – alles Dinge, von denen sich Aston explizit lossagt.

2. Selbstentwurf und Lebensschicksal

Autobiographische Dimension
Aston beschreibt sich als „heimathlos“, als eine vom Schicksal zur Unbehaustheit verurteilte, sturmgeprüfte Außenseiterin:
> „Mir, der Fremden, Heimathlosen, / In den Stürmen der Gefahr“
• Dieser Lebensentwurf steht im Kontrast zum idealisierten Frauenbild ihrer Zeit. Die wilden Rosen symbolisieren ihre Gedanken und Leidenschaften, die „voll von Lebens-Uebermuth“ sprießen – ein Affront gegen das patriarchale Gebot zur Demut und Zurückhaltung.

3. Kampf mit dem eigenen Geist

In der dritten Strophe wirkt das lyrische Ich zerschlagen:
> „Doch zu früh ins wilde Leben / Trieb mich eine finstre Macht“
• Die Zeilen deuten auf einen verlorenen Schutz der Kindheit, ein gewaltsames Herausgerissenwerden – vielleicht gesellschaftlich, psychisch, oder sogar konkret familiär. Die „Jugendbilder“ bleiben als melancholischer Schatten zurück. Die wilden Rosen sind „entblättert“, was Verlust und Desillusionierung symbolisiert – eine Erfahrung existenzieller Einsamkeit.

4. Dichtung als Selbstermächtigung

Die vorletzte Strophe markiert einen Wendepunkt. Das Ich wird zum „Zaubermeister“, der seine „irrenden Geister“ (die Gedanken, Erinnerungen, Schmerzen) zu bannen vermag:
> „Euch beschwört der Zaubermeister, / Bannt euch in der Dichtung Kreis!“
• Hier wird Dichtung zur Form der Selbstheilung, aber auch der künstlerischen Macht. Die Inspiration – zuvor gefährlich und zersetzend – wird nun gebändigt und schöpferisch umgesetzt. Die letzte Strophe schließt den Kreis, indem das Bild der wilden Rosen erneut aufgegriffen wird, nun aber als bewusste dichterische Konstruktion, als kreativer Akt der Selbsterneuerung.

5. Feministische Perspektive

In der Romantik oft als Muse oder Objekt idealisiert, tritt Aston als handelndes Subjekt auf. Ihre Worte, ihre Gedanken und ihre Leidenschaften sind nicht zu bändigen:
> „Wilde Rosen: – die Gedanken / Voll von Lebens-Uebermuth“
• Die Sprache bleibt bildhaft, kraftvoll, rhythmisch. Diese Form der Selbstinszenierung bricht mit der Weiblichkeitsnorm des 19. Jahrhunderts. In einer Gesellschaft, in der Frauen durch patriarchale Strukturen stumm gehalten wurden, findet Aston ihre Stimme im Akt des Schreibens.

6. Klang, Rhythmus und Ton

• Die Klanggestaltung betont das Wechselspiel von Naturgewalt und Zärtlichkeit. Besonders auffällig sind:
• Alliterationen wie „Sturmestosen“ und „Großgesäugt“
• der Wechsel von weichem Klang („eingewiegt“) und harten Konsonanten („zerschmettert“)
• ein wehmütiger Grundton, durchzogen von Stolz und innerer Stärke
• Die äußere Form – vierhebige Trochäen in vierzeiligen Strophen – wirkt klar und klassisch, steht aber im Kontrast zum „wilden“ Inhalt. Diese Spannung zwischen Form und Inhalt unterstreicht Astons souveränen Umgang mit Konvention und deren bewusste Brechung.

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