Wer wacht in dieser hellen Nacht

German Romantic Painter Moonlit Wood, 1844

Achim von Arnim

Wer wacht in dieser hellen Nacht,
Und regt um mich die Hände?
Und reißt mich aus der Schlafes Macht?
Ich seh nur weiße Wände,
Die rings der Mondenglanz bescheint,
Am Fenster manches Tröpfchen weint,
Gern küßt' ich die in raschem Lauf,
Wie eisig kalt ist diese Nacht.

Nach solchem warmen Tage,
Wer hat die Wärme angefacht,
Wer bringt der Kälte Plage,
Bald wärmet mich dein erstes,
Bald wärmet mich dein Händedruck,
Bald deiner Lippen rother Schmuck.

So schleich' ich wie ein Nachtdieb hin
Und geh' auf rechten Wegen,
Die Treue ist mir kein Gewinn,
Der Glaube giebt nicht Segen,
Und selbst der Reichthum mich nur quält
Im armen Land, dem Freiheit fehlt,
Die Liebe einzig lohnet mir
Was ich durch Tugend hier verlier'.

Analyse

Achim von Arnims Gedicht „Wer wacht in dieser hellen Nacht“ ist ein typisches Beispiel für die romantische Lyrik, in der Naturerleben, Liebessehnsucht, Melancholie und das Gefühl existenzieller Entfremdung ineinander übergehen.
Es entfaltet in konzentrierter Form die Erfahrung des romantischen Subjekts: zerrissen zwischen einer innerlich erfahrenen Welt der Sehnsucht und einer äußeren Welt der Kälte, in der traditionelle Tugenden wertlos erscheinen. Die Liebe – sei sie real oder imaginiert – bleibt die letzte Hoffnung auf Sinn. Das Gedicht steht damit exemplarisch für die poetische Weltsicht der Romantik, in der die Nacht nicht nur Zeit, sondern ein geistiger Zustand ist – ein Ort des Leidens, aber auch der möglichen Verklärung.

I. Inhaltliche Struktur

Das Gedicht lässt sich in drei Sinnabschnitte gliedern:
1. Erwachen in der Nacht (Strophe 1):
Der Sprecher wird aus dem Schlaf gerissen – offenbar nicht durch äußere Geräusche, sondern durch eine existenzielle Unruhe. Die Umgebung ist durch den Mond beschienen, die weißen Wände wirken leer und entrückt. Ein „Tröpfchen“ am Fenster scheint zu weinen – die Natur wird zum Spiegel der inneren Empfindung. Die Nacht ist „eisig“, im Kontrast zum vorangegangenen „warmen Tage“.
2. Rückerinnerung an Wärme (Strophe 2):
Die Kälte wird in Bezug gesetzt zu früher empfundener Wärme – konkret: zu einer geliebten Person. Deren Anwesenheit („dein erstes“, „dein Händedruck“, „deiner Lippen rother Schmuck“) spendet Trost, ist aber offenbar nur Erinnerung oder Vorstellung.
3. Schmerzvolle Erfahrung von Treue, Glaube, Reichtum und Liebe (Strophe 3):
Der Sprecher beschreibt sein Leben als ein nächtliches Schleichen – wie ein „Nachtdieb“. Tugenden wie Treue und Glaube haben ihm keinen Lohn gebracht; selbst Reichtum ist ohne Wert. Allein die Liebe vermag zu lohnen, was in der Welt durch Tugend nicht belohnt wird.

II. Form und Sprache

• Das Gedicht besteht aus drei Strophen zu je acht Versen, ohne ein klares metrisches Schema oder durchgehend regelmäßigen Reim. Dennoch entsteht durch Binnenreime, Assonanzen und Rhythmus ein musikalischer Tonfall, typisch für die romantische Dichtung.
• Die Sprache ist bildhaft und suggestiv: „Mondenglanz“, „Tröpfchen weint“, „Lippen rother Schmuck“.
• Der Kontrast zwischen Wärme und Kälte dominiert die Stimmung: Die Nacht ist „eisig“, der Tag „warm“ – ein Motiv, das auch innerpsychologische Zustände reflektiert.
• Die rhetorischen Fragen („Wer wacht…?“, „Wer bringt…?“) erzeugen eine Atmosphäre des Suchens, der Ungewissheit und inneren Desorientierung.

III. Symbolik und Motivik

1. Nacht und Mond:
Die Nacht ist nicht nur äußerliche Zeitangabe, sondern existenzielle Metapher – sie steht für Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, aber auch für Innenschau und Sehnsucht. Der Mond symbolisiert traditionell das Unbewusste, das weiblich-Verborgene, hier verbunden mit der Wehmut der Trennung.
2. Weiße Wände, Tröpfchen am Fenster:
Die „weißen Wände“ deuten auf Leere, Isolation – eine psychische Leere. Die Träne am Fenster ist anthropomorph – die Außenwelt nimmt menschliche Züge an.
3. Wärme der Geliebten:
Die Erinnerungen an Berührung und Kuss sind Trostbilder in einer sonst kalten Welt. Die Liebe wird zur einzigen Gegenmacht gegen Kälte, Isolation und Werteverlust.
4. Nachtdieb und moralischer Werteverfall:
Der Sprecher sieht sich selbst in einer paradoxen Lage: Er geht „auf rechten Wegen“, doch wird dadurch nicht belohnt. Tugenden wie Treue und Glaube erscheinen nutzlos, der Reichtum quält – eine scharfe Kritik an einer Welt, in der bürgerliche Werte sinnentleert wirken.

IV. Interpretation im Kontext der Romantik

Das Gedicht bringt zentrale romantische Themen auf den Punkt:
Subjektivität und Innerlichkeit: Die äußere Welt (Wände, Fenster, Mondlicht) ist Spiegel der inneren Seelenlage.
Sehnsucht: Die Liebe ist vergangen oder unerreichbar – doch gerade durch ihre Abwesenheit gewinnt sie existenzielle Bedeutung.
Naturmystik: Der Mond, die Träne am Fenster – sie sind nicht nur Elemente der äußeren Welt, sondern Ausdruck seelischer Zustände.
Kritik an der entzauberten Welt: Die Ablehnung von Treue, Glaube, Reichtum als lohnende Prinzipien ist ein Angriff auf eine rationale, utilitaristische Ordnung – typisch für romantische Kritik am aufklärerischen Weltbild.
Liebesidealismus: Die Liebe ist das letzte verbleibende Gut, das eine metaphysische Ordnung zu retten vermag – auch wenn sie nur als Erinnerung existiert.

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