Hugo Ball
Totentanz 1916
So sterben wir, so sterben wir,
Wir sterben alle Tage,
Weil es so gemütlich sich sterben läßt.
Morgens noch in Schlaf und Traum
Mittags schon dahin.
Abends schon zu unterst im Grabe drin.
-
Die Schlacht ist unser Freudenhaus.
Von Blut ist unsere Sonne.
Tod ist unser Zeichen und Losungswort.
Kind und Weib verlassen wir –
Was gehen sie uns an?
Wenn man sich auf uns nur
Verlassen kann.
-
So morden wir, so morden wir.
Wir morden alle Tage
Unsre Kameraden im Totentanz.
Bruder reck dich auf vor mir,
Bruder, deine Brust!
Bruder, der du fallen und sterben mußt.
-
Wir murren nicht, wir knurren nicht.
Wir schweigen alle Tage,
Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht.
Hart ist unsere Lagerstatt
Trocken unser Brot.
Blutig und besudelt der liebe Gott.
Analyse
• Hugo Balls Gedicht »Totentanz« (1916) ist ein erschütterndes Beispiel für den expressiven Antikriegston der Dada-Bewegung. Es verwebt liturgische Sprachformen, martialische Bilder und eine bitter-ironische Haltung zur Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs.
• Ein düsteres Gedicht, das den Krieg als totalitäres Ritual des Sterbens, Mordens und Schweigens zeigt. Es zerstört romantische und religiöse Narrative und konfrontiert den Leser mit einer Welt, in der Gott und Mensch gleichermaßen zerfallen. Die rhetorischen Mittel – liturgische Struktur, Ironie, brutale Bildlichkeit – machen den Text zu einer avantgardistischen Passionsdichtung des Nihilismus.
• Ein lyrischer Text, der im Spannungsfeld von Kriegswirklichkeit, existenzieller Erfahrung und expressionistischer Sprache steht. Es handelt sich um ein Antikriegsgedicht, das in Form und Inhalt ein Totentanz-Motiv in den zeitgenössischen Kontext des Ersten Weltkriegs überträgt.
• Eine eindringliche lyrische Klage und zugleich ein Pamphlet gegen den Krieg, das sich radikal der gängigen patriotischen und religiösen Sprache entzieht. Der Titel suggeriert zunächst ein traditionelles Motiv, doch Ball transformiert es in eine moderne Höllenvision, in der Tod und Mord entmenschlichte Rituale geworden sind. Die Sprache – schlicht, zerschlagen, monoton – entspricht dieser Entmenschlichung. Das Gedicht ist ein makabrer Gesang auf die Zertrümmerung des Humanen durch den Maschinenkrieg – eine expressionistische Totenmesse.
• HEin düsteres, sarkastisches Klagelied über den Ersten Weltkrieg und die Entmenschlichung des modernen Krieges. Die Form eines Totentanzes evoziert eine lange literarische Tradition, doch Ball transformiert diese in ein groteskes Bekenntnis zur Alltäglichkeit des Tötens.
• Ball entwickelt in »Totentanz« eine apokalyptische Anthropologie des modernen Menschen. Der Krieg ist kein heroisches Unterfangen mehr, sondern ein tägliches Ritual der Selbstzerstörung, das den Menschen seiner Sprache, seiner Gefühle und seiner Spiritualität beraubt. Der Text verbindet Elemente des Dadaismus mit barocken, religiösen und grotesken Topoi, um eine neue, schockierende Form des Ausdrucks für die Erfahrung des Ersten Weltkriegs zu schaffen. Ball schreibt nicht gegen den Krieg – er schreibt aus dem Inneren seiner Sprachlosigkeit heraus, mit den Mitteln der zertrümmerten Sprache.
• Ein dichterisches Dokument der Dada-Bewegung, das in der Mitte des Ersten Weltkriegs entstand. Es steht in einer Linie mit Balls entschlossener Kritik an der Zivilisation, die diesen Krieg hervorgebracht hat – eine Zivilisation, die er für verworfen, mechanisiert und seelenlos hält.
Inhaltliche Analyse und Gliederung
Das Gedicht lässt sich in vier Strophen gliedern, die jeweils eine spezifische Facette des Kriegstodes und der seelischen Verrohung aufgreifen.
1. Strophe: Der tägliche Tod als Gewohnheit
»So sterben wir, so sterben wir, / Wir sterben alle Tage« – der Tod wird nicht als Ausnahme, sondern als Bestandteil des Alltags präsentiert. Die Struktur des Tages (Morgen, Mittag, Abend) spiegelt den raschen Zerfall des Menschen im Krieg. Das »gemütlich« ironisiert die allgemeine Akzeptanz dieses Sterbens.
2. Strophe: Der Krieg als sinnpervertierte Heimat
Die Schlacht wird als »Freudenhaus« bezeichnet – ein Bild völliger moralischer Verkehrung. »Tod ist unser Zeichen und Losungswort« ersetzt religiöse oder humanistische Werte. Die letzte Zeile betont eine soldatische Zuverlässigkeit, die über private Bindungen (Kind, Weib) gestellt wird: »Wenn man sich auf uns nur verlassen kann.«
3. Strophe: Brudermord im Totentanz
Hier wird das gegenseitige Töten als ritualisierter Tanz dargestellt – »Totentanz«. Das Pathos des »Bruder« suggeriert Nähe, wird aber durch die Notwendigkeit des Tötens konterkariert. Die dreifache Anrede intensiviert die Tragik: Der »Bruder« muss sterben, weil es der Krieg verlangt.
4. Strophe: Leidenspassion und göttliche Entstellung
Diese letzte Strophe beschreibt den körperlichen und seelischen Verfall der Soldaten. Die letzten Verse kulminieren in einem erschütternden Bild: »Blutig und besudelt der liebe Gott.« Der Gott des Krieges ist kein Heiland mehr, sondern eine verschmutzte, deformierte Instanz – möglicherweise tot oder selbst zum Täter geworden.
Philosophisch-theologische Deutung
Totentanz als modernes Memento Mori
Ball aktualisiert das mittelalterliche Motiv des »Totentanzes«, aber nicht als Warnung vor dem Tod, sondern als zynisches Abbild kollektiven Mordens. Es ist kein Tanz aller Stände mehr, sondern ein Tanz der Brüder im Schützengraben – solidarisch nur in ihrer gemeinsamen Vernichtung.
Theodizee und Gottesbild
Die letzte Zeile ist eine radikale theologische Anklage: Gott erscheint nicht als Erlöser, sondern als mitschuldig oder gar entstellt durch die Taten der Menschen. Die göttliche Reinheit ist im Schmutz des Krieges verschwunden. Es ist eine Umkehrung der Passionsvorstellung: Nicht Christus blutet für die Menschen, sondern die Menschen bluten – unter einer entweihten Gottheit.
Existenzphilosophischer Impuls
Das Gedicht spricht von einer »Gewöhnung ans Sterben«, einer Art innerer Abstumpfung. Der Mensch als Subjekt zerfällt, weil das Leben sinnentleert wird. Hier zeigt sich Nähe zu späteren existentialistischen Positionen, etwa bei Camus oder Beckett: der Mensch lebt im Angesicht der Sinnlosigkeit und reagiert mit Sprachlosigkeit (»Wir schweigen alle Tage«).
Strukturelle Mittel und Rhetorik
Wiederholung und Parallelismus
Der durchgängige Einsatz repetitiver Strukturen (z. B. »So sterben wir, so sterben wir«) erzeugt eine litaneiartige Wirkung. Diese »Gebetsform« wird ins Groteske verzerrt – die Struktur sakraler Lieder wird hier für eine antichristliche Botschaft verwendet.
Kontraste und Ironie
Begriffe wie »Freudenhaus«, »gemütlich«, »der liebe Gott« stehen im radikalen Gegensatz zum dargestellten Leid. Diese Ironie unterminiert traditionelle semantische Ordnungen und verweigert jede Verklärung.
Personifikation und Apostrophe
Die Anrede des »Bruders« bringt eine subjektive Nähe hinein, die den Schrecken noch steigert. Die Personifikation Gottes (»blutig und besudelt«) macht den metaphysischen Bruch sinnlich greifbar.
Klangliche Dichte und Rhythmus
Der Rhythmus ist betont regelmäßig, beinahe marschartig, was den Gleichschritt der Soldaten suggeriert. Die Sprache ist einfach, fast lakonisch – ein Stilmittel, das die emotionale Wucht steigert.
Sprache und Stilmittel
Die Sprache des Gedichts ist einfach, klar, fast litaneiartig. Gerade diese Einfachheit und Wiederholung macht die Grausamkeit des Gesagten umso erschütternder. Ball verzichtet auf metaphorische Verschlüsselung und bevorzugt eine fast kalte, dokumentarische Sprache.
1. Wiederholung (Anapher & Parallelismus):
»So sterben wir, so sterben wir«
»So morden wir, so morden wir«
Diese Anaphern eröffnen die beiden zentralen Strophen und geben dem Gedicht eine rhythmisch-monotone Struktur, die an einen Refrain oder einen Totengesang erinnert. Der Effekt ist suggestiv: Es entsteht ein Sog der Unentrinnbarkeit.
2. Ironische Brechung & bitterer Sarkasmus:
»Weil es so gemütlich sich sterben läßt.«
Diese scheinbare Ironie wirkt wie ein Schlag. Die groteske Verharmlosung des Todes offenbart die ganze Perversion der Kriegspropaganda. Sie illustriert das Auseinanderklaffen von offizieller Kriegsrhetorik und realem Erleben.
3. Personifikation und Metonymie:
»Die Schlacht ist unser Freudenhaus.«
Hier wird das Kriegsfeld sexualisiert, als Ort der Lust und Exzesse dargestellt. Das Freudenhaus wird zur Metapher für die perverse Verzückung an der Gewalt – eine radikale Inversion moralischer Ordnung.
4. Oxymoron & Antithese:
»Blutig und besudelt der liebe Gott.«
Diese abschließende Wendung stellt einen fast blasphemischen Höhepunkt dar. Der »liebe Gott«, konventionell mit Reinheit und Liebe assoziiert, wird mit Schmutz und Blut befleckt – eine drastische Anklage gegen die religiöse Legitimation des Krieges.
5. Asyndetische Reihungen & verkürzte Syntax:
Die syntaktische Verknappung (»Kind und Weib verlassen wir – / Was gehen sie uns an?«) trägt zur Verhärtung und Dehumanisierung bei – sprachlich wird nachgebildet, was innerlich geschieht: emotionale Abstumpfung.
Gattungs- und Stilkontext
»Totentanz« steht im Kontext des expressionistischen Kriegslyrik und kann zugleich als Beispiel für literarischen Dadaismus gelten, obwohl es stilistisch weniger experimentell als andere Dada-Texte Hugo Balls ist. Der Text wurde 1916 verfasst, im Gründungsjahr des Cabaret Voltaire, das Ball mitbegründete.
Gattung:
Es handelt sich um ein lyrisches Antikriegsgedicht, das formal zwischen Lied, Litanei und Ballade changiert. Der Totentanz (Danse macabre) als mittelalterliches Motiv – Gleichheit aller im Tod – wird in eine moderne, massenindustrielle Vernichtungsform überführt.
Stilrichtung:
Der Expressionismus ist stilistisch prägend, insbesondere in der thematischen Fixierung auf Krieg, Tod, Auflösung des Ichs, Deformation des Körpers, Desillusionierung der Sprache. Zugleich lassen sich Elemente einer litaneihaften Ritualsprache erkennen, die an religiöse Formeln erinnert – und sie pervertiert.
Ausführliche semantische Analyse
1. Todesalltag und Entfremdung
»Wir sterben alle Tage«
Der Tod ist keine Ausnahme mehr, kein tragisches Einzelereignis, sondern alltägliche Routine. Diese permanente Präsenz des Todes nimmt dem Leben jede Qualität. Der Tod ist nicht mehr das Ende, sondern ein Modus der Existenz.
»Morgens noch in Schlaf und Traum / Mittags schon dahin«
Hier tritt eine suggestive Temporalisierung ein – der Lebenslauf wird binnen eines Tages verkürzt. Traum (als letzter Rest von Innerlichkeit), Tag (als Leben) und Grab (als Ziel) folgen einander schlagartig – das Ich verschwindet in einem düsteren Rhythmus.
2. Militarismus und Entmenschlichung
»Die Schlacht ist unser Freudenhaus«
Die Sexualisierung des Krieges offenbart nicht nur die Enthemmung der Gewalt, sondern auch die vollständige Entsubjektivierung des Soldaten: Seine Triebhaftigkeit wird kanalisiert in Mordlust. Der Tod wird nicht nur akzeptiert, sondern erotisiert.
»Kind und Weib verlassen wir – / Was gehen sie uns an?«
Diese Zeilen markieren einen Bruch mit familiären Bindungen, mit fürsorglichen Beziehungen – die Soldaten verneinen jede emotionale Verantwortung. Das »Wir« fungiert dabei als Kollektiv, das keine Individuen mehr kennt.
3. Kumpanei im Mord – »Brüderlichkeit« im Widerspruch
»Bruder, reck dich auf vor mir«
Die paradoxe Nähe zwischen Kameraden – Brüder im Tod, Brüder im Mord – zeigt, wie der Krieg selbst die Sprache der Nähe pervertiert. Der Ruf »Bruder« ist doppeldeutig: Er ist Ruf zur Hilfe, aber auch ein Ruf ins Leere, denn »du \[…] mußt« sterben.
4. Schweigen, Schmerz, Gottesbild
»Wir murren nicht, wir knurren nicht. / Wir schweigen alle Tage«
Das Schweigen der Soldaten hat eine doppelte Funktion: Es signalisiert einerseits Disziplin und Gehorsam, andererseits Resignation und Verstummen vor dem Unsagbaren. Die folgende Zeile – »Bis sich vom Gelenke das Hüftbein dreht« – evoziert ein Bild körperlicher Zerreißung, das an Folter erinnert.
»Blutig und besudelt der liebe Gott«
In dieser letzten Zeile kulminiert der Protest: Gott wird nicht geleugnet, sondern beschuldigt, durch seine Passivität und seine Vereinnahmung durch die Kriegsideologie selbst zum Mitschuldigen geworden zu sein. Diese Formulierung steht in einer langen Tradition des Theodizee-Protests, radikalisiert durch die unmittelbare Kriegserfahrung.
Psychologische Dimension
• Psychologisch zeigt sich eine erschütternde Ambivalenz zwischen Resignation und Zynismus. Die Wiederholung von »so sterben wir« und »so morden wir« ist nicht Ausdruck von Pathos oder Aufruhr, sondern eine fast apathische Feststellung. Der Krieg wird internalisiert – er ist nicht mehr ein Ausnahmezustand, sondern der Normalfall des Daseins. Das »Wir« im Gedicht ist kollektiv, entindividualisiert. Es spricht aus einem Zustand vollständiger emotionaler Abstumpfung.
• Der Vers »Weil es so gemütlich sich sterben lässt« ist psychologisch verstörend: Hier spricht nicht nur Ironie, sondern ein perfides Einverständnis mit dem Grauen – eine Art Überlebensmechanismus inmitten des Irrsinns. Das Lachen wird zum Hohnlachen der Verzweiflung.
• Besonders eindrucksvoll ist die Umkehrung des Religiösen: »Blutig und besudelt der liebe Gott« – hier wird ein Gottesbild entstellt, das für viele Soldaten im Stellungskrieg real geworden war: der Verlust jeder spirituellen Ordnung angesichts des unendlichen Leidens.
Literarische Topoi
• Ball greift auf klassische Topoi der Totentanztradition zurück, insbesondere die Gleichheit im Tod (»Wir sterben alle Tage«) und das Dialogmotiv zwischen Lebenden und Toten (»Bruder, reck dich auf vor mir«). Der Totentanz war im Mittelalter eine Form, um die Vergänglichkeit allen Lebens und die Demokratie des Todes darzustellen – bei Ball jedoch verkehrt sich diese Tradition ins Industrielle und Maschinelle.
• Der Krieg als »Freudenhaus« ist ein brutaler Euphemismus, der auf den literarischen Topos der verkehrten Welt verweist. Hier wird das »Schlachtfeld« zur Stätte perverser Lust, was Ball mit drastischer Metaphorik (»Von Blut ist unsere Sonne«) übersteigert.
• Auch die Vergänglichkeit und Vanitas-Motivik wird zitiert – jedoch ohne Hoffnung auf Erlösung. Das »morgens noch… abends schon…« evoziert eine verdichtete Lebenszeit, wie sie oft in Barockdichtung verwendet wurde – hier aber ohne metaphysische Rahmung.
Symbole und Motive
Der Tod: Er ist nicht nur Thema, sondern Taktgeber. Der »Totentanz« ist nicht mehr ein figürlicher Tanz, sondern ein blutiges Ritual kollektiver Selbstvernichtung.
Blut/Sonne: Die Sonne, klassisch Symbol des Lebens, wird »von Blut« – eine völlige Pervertierung des Lichtsymbols.
Bruder: Wiederkehrendes Motiv im Kriegsdiskurs, hier als ironisches Symbol der Kameradschaft im Mord.
Kind und Weib: Das Verlassen der zivilen Welt – also der Welt der Wärme, Geborgenheit, Fortpflanzung – zeigt das Motiv der Trennung von Menschlichem.
Brot und Lagerstatt: Die asketische Not des Soldatenlebens wird lakonisch dargestellt – »trocken« und »hart«, fast wie Klosteraskese, jedoch ohne geistigen Sinn.
Gott: »Blutig und besudelt« – dieses Bild ist radikal. Gott ist nicht mehr Reinheit oder Trost, sondern wird zum Mitverschmutzer, ein Symbol für den moralischen Zusammenbruch.
Historisch-kultureller Kontext
• 1916 ist das Schlüsseljahr für den Dadaismus. Hugo Ball gründete im Februar zusammen mit Emmy Hennings und anderen das Cabaret Voltaire in Zürich, einen Ort für radikale künstlerische Experimente im Exil. Die Avantgarde hatte sich nach der Erfahrung von Materialschlachten wie Verdun (Februar–Dezember 1916) von jeglichem Idealismus verabschiedet. »Totentanz« steht als Gedicht nicht nur in der Tradition mittelalterlicher Totentänze – bildlichen Darstellungen der Gleichheit aller im Angesicht des Todes – sondern fungiert hier als zynische Paraphrase auf den industrialisierten Massentod.
• Ball selbst war kein Soldat, hatte aber 1914 versucht, sich freiwillig zu melden, wurde aber aufgrund gesundheitlicher Probleme abgelehnt. Dies hinderte ihn nicht daran, später ein radikal pazifistisches Weltbild zu entwickeln und dem nationalistischen Irrsinn eine gottes- und sprachkritische Dichtung entgegenzusetzen. »Totentanz« ist damit Teil einer antimilitaristischen Haltung, aber zugleich Anklage, Parodie und metaphysischer Abgesang auf eine Welt ohne Orientierung.
Lexikalik und Wortfelder
1. Wortfeld Tod:
»sterben«, »Grabe«, »Tod«, »morden«, »fallen«, »blutig«, »Totentanz«.
Ball variiert nicht, um zu mildern – er wiederholt, um zu bohren. Das Sterben ist allgegenwärtig, ritualisiert, unentrinnbar.
2. Wortfeld Krieg/Militär:
»Schlacht«, »Kameraden«, »Brust«, »Losungswort«.
Die Kameradschaft ist pervertiert – man mordet sich gegenseitig im »Totentanz«, nicht in Solidarität, sondern in mechanischem Gehorsam.
3. Religiöse Semantik:
»lieber Gott«, »besudelt«, »Zeichen«.
Hier wird das Göttliche nicht angerufen, sondern entheiligt. Der »liebe Gott« ist »blutig und besudelt« – nicht durch eigenes Tun, sondern durch das, was im Namen der Ordnung geschieht.
4. Alltagslexik:
»gemütlich«, »Schlaf«, »Traum«, »Lagerstatt«, »Brot«.
Die Ironie liegt in der Nähe zur Banalität – das tägliche Sterben wird fast häuslich (»gemütlich«) eingeführt. Diese triviale Wortwahl verstärkt den Zynismus.
Metaphysische Implikationen
• Das Gedicht inszeniert die Erfahrung der Entseelung. Die Ich- und Wir-Form ist mechanisch, leblos, zersetzt jede Humanität. Der Mensch ist nicht mehr Subjekt, sondern Vollstrecker eines anonymen, nihilistischen Willens.
• Die Welt ist gottverlassen – oder schlimmer: Gott ist nicht nur abwesend, sondern selbst befleckt. Dies ist keine einfache Gotteslästerung, sondern Ausdruck eines theologischen Nihilismus: In einer Welt des industriellen Mordens gibt es keine Transzendenz mehr, nur noch Reste, Besudeltes, zynisch Wiederholtes.
• Der »Totentanz« – traditionell ein Reigen von Menschen, die durch den Tod vereint werden – wird hier nicht von Skeletten oder personifizierten Mächten angeführt, sondern von den Menschen selbst. Der Mensch ist zugleich Tänzer und Henker. Damit entlarvt Ball eine säkularisierte Welt, in der der Tod nicht mehr Sinn verspricht, sondern schlichtes Funktionieren bedeutet.
Freie Prosaübertragung
So gehen wir also zugrunde,
nicht auf einmal, sondern Tag für Tag.
Der Tod ist bequem geworden,
ein stiller Gast am Frühstückstisch,
ein Schatten im Mittagsschlaf,
ein ständiger Begleiter am Abend,
bis er uns ganz verschlingt.
-
Der Krieg ist unser Bordell,
Blut unsere Morgensonne.
Wir tragen den Tod wie ein Abzeichen,
rufen ihn wie ein Gebet.
Unsere Frauen, unsere Kinder –
wir haben sie längst abgeschrieben.
Wichtig ist nur:
Dass wir zuverlässig töten.
-
Und so schlachten wir,
nicht unsere Feinde –
unsere Brüder.
Wir bringen sie zum Tanz,
Taktgeber ist das Gewehr,
die Melodie singt das Grab.
-
Wir klagen nicht.
Wir jammern nicht.
Wir schweigen.
Wir schweigen,
bis die Knochen sich aus dem Fleisch drehen.
Unser Lager ist hart.
Unser Brot ist trocken.
Und unser Gott?
Blutbesudelt liegt er in unseren Schützengräben.