Angelus Silesius
Sie vermahnt zur Nachfolge Christi
Mir nach, spricht Christus, unser Held,
Mir nach, ihr Christen alle,
Verleugnet euch, verlaßt die Welt,
Folgt meinem Ruf und Schalle.
Nehmt euer Kreuz und Ungemach
Auf euch, folgt meinem Wandel nach.
Ich bin das Licht, ich leucht euch für
Mit heilgem Tugendleben,
Wer zu mir kommt und folget mir,
Darf nicht im Finstern schweben.
Ich bin der Weg, ich weise wohl,
Wie man wahrhaftig wandeln soll.
Mein Herz ist voll Demütigkeit,
Voll Liebe meine Seele,
Mein Mund, der fließt zu jeder Zeit
Von süßem Sanftmutöle.
Mein Geist, Gemüte, Kraft und Sinn
Ist Gott ergeben, schaut auf ihn.
Fällts euch zu schwer? Ich geh voran,
Ich steh euch an der Seite,
Ich kämpfe selbst, ich brech die Bahn,
Bin alles in dem Streite.
Ein böser Knecht, der still darf stehn,
Wenn er den Feldherrn an sieht gehn.
Wer seine Seel zu finden meint,
Wird sie ohn mich verlieren,
Wer sie um mich verlieren scheint,
Wird sie nach Hause führen.
Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt mir,
Ist mein nicht wert und meiner Zier.
So laßt uns denn dem lieben Herrn
Mit unserm Kreuz nachgehen
Und wohlgemut, getrost und gern
In allen Leiden stehen.
Wer nicht gekämpft, trägt auch die Kron
Des ewgen Lebens nicht davon.
Analyse
Angelus Silesius' Gedicht „Sie vermahnt zur Nachfolge Christi“ ist ein geistliches Lehrgedicht, das aus sechs sechszeiligen Strophen besteht. Es hat eine klare christlich-mystische Ausrichtung und ruft zur radikalen Nachfolge Christi auf.
Einordnung und Aufbau des Gedichts
Autor und Kontext
• Angelus Silesius (1624–1677), eigentlich Johannes Scheffler, war ein katholischer Mystiker und Dichter des Barock, beeinflusst durch Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme u. a.
• Das Gedicht stammt aus der Sammlung Heilige Seelenlust (1657), einer Sammlung geistlicher Lieder und Gedichte zur Andacht.
Formaler Aufbau
• Strophen: 6 Strophen zu je 6 Versen.
• Reimschema: Kreuzreim (ababcc).
• Versmaß: In der Regel alternierend vierhebige Jamben, gesangstauglich und volksliednah.
• Ton: Ermahnend, zugleich tröstlich; Jesus Christus spricht als Seelenführer direkt zum Leser.
Gattung und Funktion
• Erbauungslied mit starker Paränese (Ermahnung) und mystischer Tiefe.
• Liturgisch oder kontemplativ nutzbar: Gedicht als geistliche Anleitung zur Imitatio Christi (Nachfolge Christi).
Inhaltliche Analyse und Interpretation
Jede Strophe entfaltet einen Aspekt der Nachfolge Jesu:
Strophe 1: Aufruf zur Nachfolge
> „Mir nach, spricht Christus…“ – Christus wird als Held angerufen (ein Motiv des geistlichen Kampfes).
• Aufruf zur Selbstverleugnung (vgl. Mt 16,24), zur Weltentsagung.
• Zentral: der aktive Schritt in die Christusnachfolge durch Kreuzesannahme.
Strophe 2: Christus als Licht und Weg
> „Ich bin das Licht… Ich bin der Weg…“ – expliziter Rückgriff auf Joh 8,12 und Joh 14,6.
• Christus als moralisches und spirituelles Vorbild.
• Nachfolge führt aus der Finsternis (Sünde, Weltverhaftung) zur Wahrheit.
Strophe 3: Inneres Wesen Christi
> Demut, Liebe, Sanftmut, Gotteshingabe.
• Christus als Spiegel idealer Tugend: nicht nur äußerliches Handeln, sondern innere Gesinnung.
• Der Mystiker betont Herzensfrömmigkeit und innere Wandlung.
Strophe 4: Christus als Mitkämpfer
> „Ich geh voran… Ich steh euch an der Seite…“
• Gegen alle Schwermut: Christus kämpft selbst und ist gegenwärtig.
• Militärmetaphorik: der Mensch ist Knecht, Christus der Feldherr – ein typisch barockes Motiv.
• Ablehnung passiver Frömmigkeit: Nachfolge erfordert aktiven Einsatz.
Strophe 5: Verlust und Gewinn der Seele
> Paradoxe Umkehrung: „Wer seine Seele finden will…“
• Rückgriff auf Mt 10,39: Wer sein Leben verliert um Christi willen, wird es gewinnen.
• Es geht um die radikale Bereitschaft zum Selbstopfer, Vertrauen auf göttliche Verheißung.
Strophe 6: Ermutigung zum Leiden
> Kreuzesnachfolge als Weg zur Krone des ewigen Lebens.
• Das Kreuz wird nicht nur ertragen, sondern bereitwillig angenommen.
• Abschluss betont den eschatologischen Lohn: „Krone des ewigen Lebens“ (vgl. Jak 1,12; Offb 2,10).
Biblische Bezüge
Das Gedicht ist stark durchzogen von neutestamentlichen Anspielungen:
• „Mir nach… verleugnet euch… nehmt euer Kreuz“ | Nachfolgegebot Jesu | Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23
• „Ich bin das Licht…“ | Christus als Licht der Welt | Joh 8,12
• „Ich bin der Weg…“ | Exklusivität des Christuswegs | Joh 14,6
• „Wer seine Seele finden will…“ | Paradoxe Logik des Reiches Gottes | Mt 10,39; Lk 17,33
• „Krone des ewigen Lebens“ | Eschatologische Verheißung | Jak 1,12; 1 Kor 9,25; Offb 2,10
Zentrale theologische Themen:
Imitatio Christi: Der Mensch soll nicht nur Christus glauben, sondern sein Leben nach seinem Vorbild gestalten.
Mystische Einheit: Durch Selbstverleugnung und innere Transformation zur Einung mit Christus.
Leidensmystik: Das Kreuz ist kein Unglück, sondern Mittel zur Erlösung.
Eschatologie: Ziel ist die Vereinigung mit Gott im ewigen Leben.
Fazit
Angelus Silesius' Gedicht ist ein tief verwurzelter Ausdruck barocker Frömmigkeit und mystischer Christozentrik. Es verbindet asketische Ermahnung, tröstliche Verheißung und mystische Innerlichkeit zu einem Aufruf zur radikalen Christusnachfolge, ganz im Sinne der biblischen Tradition. Die poetische Sprache dient dabei nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern spiritueller Erweckung.