Otto Julius Bierbaum
Rosen, Goethe, Mozart
(Für Dora Hitz.)
Was will ich mehr? Auf meinem Tische stehn
In schönem Glase dunkelrote Rosen,
Der weiße Marmor-Goethe sieht mich an,
Und eben hört ich Mozarts Figaro.
-
Ich litt einst Schmerz? Ich war einst müd und krank?
Ich log mir Glück und dichtete ein Wunder
Von Weib, das nichts als gute Maske war? –:
Die Rosen glühen: Alles war ein Traum,
Der weiße Goethe leuchtet Heiterkeit,
Und in mir singt Susanne, Cherubin.
-
Wie aber: Hab ich denn nicht Kummers viel?
Verliebten Zweifel und des Schaffens Angst? –:
Die roten Rosen glühen: Sieh uns an,
Der weiße Goethe lächelt: Denk an mich,
Und Mozart singt mich süß und heiter ein.
-
Ich frevelte, wollt ich nicht glücklich sein.
Analyse
• Bierbaums Gedicht ist ein feines, elegisches Loblied auf die heilende Kraft der Kultur. Es zeugt von einer tiefen Erkenntnis: Dass der Mensch im Angesicht von Schönheit, Geist und Musik seinem Leid nicht ausgeliefert bleiben muss. Glück ist nicht Illusion, sondern eine Verantwortung – besonders für den Künstler. Kunst wird hier zur höchsten Form der Daseinsbewältigung und vielleicht sogar zur säkularen Erlösung.
• Es ist eine poetische Selbstvergewisserung im Angesicht ästhetischer Vollkommenheit. Es beschwört ein persönliches, fast kultisches Arrangement aus sinnlicher Schönheit (Rosen), klassischer Dichtung (Goethe) und musikalischer Leichtigkeit (Mozart), das als Gegenbild zu innerer Zerrissenheit dient. Das Gedicht vereint Elemente des Impressionismus, Symbolismus und der literarischen Décadence um 1900.
• Ein subtil komponiertes Bekenntnis zur Macht der Kunst, des Schönen, der klassischen Form. Es ist weder eskapistisch noch weltabgewandt – sondern vielmehr eine feinsinnige Verteidigung des Glücks, das im Schauen, Hören und Erinnern liegt. Die Kunst ersetzt hier keine Religion, aber sie erfüllt eine tröstende, ordnende Funktion, und verwandelt subjektiven Schmerz in universelle Harmonie.
• Die »glühenden Rosen«, der »lächelnde Goethe«, der »singende Mozart«: Sie sind nicht nur Dekor, sondern bilden eine innere Liturgie gegen die Zerbrechlichkeit des Daseins. In diesem Sinne: Bierbaums Gedicht ist ein heiteres Manifest gegen den Weltschmerz – aus dem Geist der Kunst geboren.
• Es entfaltet in nur drei Strophen eine dichte, fast meditative Szenerie, in der Ästhetik, Kunst und Erinnerung eine psychologisch aufgeladene Rolle spielen. Das Gedicht ist ein Zeugnis des Fin de Siècle, in dem Kunst als Heilmittel gegen existentielle Zweifel fungiert.
• Bierbaum schafft ein poetisches Interieur, das nicht nur Ästhetik feiert, sondern sie als innere Rettung erlebt. Inmitten einer Zeit der Verunsicherung (Dekadenz, Zweifel an metaphysischen Ordnungen) wird die Kunst nicht Flucht, sondern Transfiguration: Sie schenkt Ruhe, Sinnlichkeit und heitere Überlegenheit gegenüber dem Leid. Die letzte Zeile bündelt das in eine Art sittliche Einsicht: Glück anzunehmen ist Pflicht – ein fast stoischer Abschluss.
• Ein poetisches Stilleben, ein Moment totaler Versöhnung mit Kunst, Schönheit und Dasein – getragen von klassischer Harmonie und moderner Ironie.
• Ein stilles Credo des Ästheten: Die Kunst ist keine Flucht, sondern ein Ort der Wahrhaftigkeit. Das Gedicht verhandelt keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern ihre transfiguration – in Rosen, Goethe und Mozart.
Inhaltliche Analyse und Gliederung
Das Gedicht »Rosen, Goethe, Mozart« ist eine poetische Reflexion über die heilende und erhebende Kraft von Kunst, Schönheit und klassischer Kultur im Kontrast zu persönlichem Schmerz, Enttäuschung und innerem Zweifel. Es entfaltet sich in drei thematisch klar gegliederten Strophen:
1. Strophe 1 – Gegenwart der Schönheit als Erfüllung:
Die erste Strophe beginnt mit der rhetorischen Frage »Was will ich mehr?« – der Sprecher ist von vollkommener Zufriedenheit erfüllt: Rosen, Goethe, Mozart – drei Symbole für das Schöne, Wahre und Erhabene – stehen ihm leibhaftig gegenüber. Diese Trias wird konkret: die dunklen Rosen im Glas, die Marmorstatue Goethes, und die Musik von Mozarts Figaro. Hier herrscht ein Moment der Harmonie.
2. Strophe 2 – Erinnerung an vergangenes Leid:
Die zweite Strophe kehrt kurz in die Vergangenheit: Schmerz, Krankheit, Täuschung in der Liebe. Der Sprecher erinnert sich an das, was einst war – aber diese Erinnerung wird sogleich von der sinnlichen Gegenwart entkräftet: Die Rosen »glühen«, Goethe »leuchtet Heiterkeit«, Mozart »singt« in ihm. Kunst hat die Wunde nicht nur überdeckt, sondern gewandelt.
3. Strophe 3 – Zweifel am Glück und deren Auflösung:
Die letzte Strophe stellt noch einmal einen inneren Einwand: Bestehen denn nicht weiterhin Zweifel, Kummer, künstlerische Ängste? Doch die Antwort erfolgt sogleich wieder durch die Kunst: Die Rosen, Goethe, Mozart – alle drei sprechen in ihrem jeweiligen Medium Trost und Sinn zu. Schließlich gipfelt das Gedicht in der moralischen Selbstmahnung: Es wäre ein »Frevel«, das Glück zu verweigern, wenn es doch da ist.
Philosophisch-theologische Deutung
Im Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit des Glücks trotz gelebten Leids – und die Antwort, dass es in der Kunst eine Transzendenz des Schmerzes gibt. Die Kunst wird zur säkularen Theodizee: Sie ersetzt nicht den Schmerz, aber sie verklärt ihn.
Goethe symbolisiert das klassische Ideal des Gleichmaßes, des Verstandes und der humanistischen Weisheit.
Mozart verkörpert die spielerisch-transzendente Leichtigkeit, das Gnadengeschenk des reinen Klangs, fast in biblischer Nähe zu Engeln (Cherubin).
Die Rosen stehen sinnlich für Schönheit, Vergänglichkeit und zugleich Fülle.
In diesem Kosmos ist die Kunst keine bloße Ablenkung vom Leid, sondern eine Offenbarung des Göttlichen im Irdischen. Die letzte Zeile hat fast etwas von einem Sündenbekenntnis: »Ich frevelte, wollt ich nicht glücklich sein« – das Glück wird zur ethischen Pflicht. Im Umkehrschluss wird Undankbarkeit gegenüber dem Geschenk des Schönen zum moralischen Vergehen.
Man könnte sagen: Ästhetik ersetzt hier Religion, oder zumindest erfüllt sie eine heilsgeschichtliche Funktion im Diesseits. Die klassische Kunst wird zur Eucharistie des modernen Menschen.
Strukturelle Mittel und Rhetorik
Form: Drei Strophen, freie Rhythmen, keine feste Metrik oder Reimschema – was der inneren Bewegung des Gedankens Raum gibt. Dennoch wirkt der Klang durch Alliterationen und Klangwiederholungen musikalisch.
Rhetorische Fragen: Fast jede Strophe beginnt mit einer rhetorischen Frage – Ausdruck der inneren Bewegung, Selbstprüfung, beinahe wie in einem inneren Monolog oder Gebet.
Symbolik: Rosen, Goethe, Mozart als symbolische Trias – sinnlich, geistig, musikalisch. Diese stehen nicht nur für konkrete Dinge, sondern wirken als mythische Repräsentationen einer »höheren Wirklichkeit«.
Personifikation: Der weiße Goethe »leuchtet«, Mozart »singt mich ein«, die Rosen »glühen«. Alles ist beseelt – Kunst wird lebendig, sprechend, heilend.
Klanggestaltung: Mozarts Musik ist nicht nur Thema, sondern durch die rhythmisch leicht tänzelnden Verse auch formales Prinzip. Cherubin (aus Figaro) ist nicht zufällig gewählt – er ist jugendlich, verspielt, erotisch, freiheitsliebend.
Sprache und Stilmittel
Die Sprache des Gedichts ist von einer bewusst eleganten Schlichtheit, dabei von feinsinniger Musikalität durchzogen. Auffällig ist der Einsatz enjambierter Zeilen, durch die der Sprachfluss natürlich und ungekünstelt wirkt (»Ich litt einst Schmerz? Ich war einst müd und krank? / Ich log mir Glück und dichtete ein Wunder«). Die Fragesätze betonen eine innere Bewegung, eine Selbstbefragung zwischen Resignation und Trost.
Zentrale Stilmittel sind:
Symbolismus: Die Rosen stehen für das Leben, das Schöne, die Liebe – doch auch für Blut, Leidenschaft, Vergänglichkeit. Der weiße Marmor-Goethe symbolisiert klassisch-ideale Geistigkeit. Mozart (und konkret die Oper Le nozze di Figaro) verkörpert spielerische Heiterkeit und musikalisch sublimiertes Lebensgefühl.
Personifikation: Goethe »sieht mich an«, Mozart »singt mich ein« – so werden Kunstwerke zu Dialogpartnern.
Synästhesie: Der Text lässt Sinneseindrücke ineinanderfließen: Die »glühenden« Rosen sprechen für ein visuelles wie emotionales Erleben, Mozart »singt mich süß« suggeriert eine Mischung aus Klang, Gefühl und fast physischer Wirkung.
Antithetik: Zwischen früherem Schmerz und jetzigem Trost, zwischen innerer Qual und äußerem Gleichmaß (Rosen, Goethe, Mozart) steht das Ich im Spannungsfeld einer Selbstvergewisserung.
Gattungs- und Stilkontext
Das Gedicht ist eine klassisch anmutende lyrische Miniatur, die aber in ihrer Haltung stark vom Impressionismus und Symbolismus geprägt ist – Bewegungen, die das sinnliche Moment, die Innenwelt des Subjekts und das Ideal schöner Erscheinung ins Zentrum rückten. Es erinnert an die l'art-pour-l'art-Haltung des Fin de Siècle: Kunst als letzte Bastion gegen das Hässliche und Chaotische des Lebens.
Bierbaum war ein Grenzgänger zwischen ästhetischem Kult, Lebenskunst und ironischer Moderne. Das Gedicht steht in der Tradition des Stimmungsbildes, das nicht narrativ, sondern emotional aufgeladen ist – vergleichbar mit Gedichten von Hofmannsthal, Rilke oder George, aber stets mit einem ironischen Unterton, der hier jedoch weitgehend fehlt.
Ausführliche semantische Analyse
Erste Strophe
»Was will ich mehr?« – die Frage ist rhetorisch und zeugt von augenblicklicher Erfüllung. Die drei Elemente – Rosen, Goethe, Mozart – sind nicht zufällig gewählt. Sie stehen für drei Dimensionen menschlichen Erlebens: Sinnlichkeit, Geist, Musik. Die Rosen sind »dunkelrot«, also sinnlich, fast erotisch. Goethe blickt »aus weißem Marmor«, also klassisch-überhöht, vergeistigt. Mozart klingt nicht diffus, sondern sehr konkret: Figaro, eine Oper voller Ironie, Sinnlichkeit und menschlicher Tiefe. Diese Trias erzeugt eine ästhetische Komposition, die das Ich umgibt – ein kleines, perfektes Universum.
Zweite Strophe
Die zweite Strophe bringt die Vergangenheit ins Spiel: Schmerz, Müdigkeit, Krankheit – Erinnerungen an eine innere Krise. Auch ein falsches Glück, das »erdichtet« war, ein »Wunder von Weib«, das sich als Maske erwies. Hier scheint eine Desillusionierungserfahrung durch. Doch sofort folgt die Korrektur: »Die Rosen glühen: Alles war ein Traum«. Die sinnliche Präsenz der Rosen relativiert das Erlebte – nicht durch Verdrängung, sondern durch ästhetische Überformung. Goethe steht für Heiterkeit, Susanne und Cherubin (beide aus Figaro) singen in ihm – der Mensch wird selbst zum Resonanzkörper der Kunst.
Die Wahl Susanne und Cherubin ist nicht zufällig: Susanne, die kluge Kammerzofe, und Cherubin, der jugendliche Liebesnarr, stehen für vitales Lebensgefühl und erotische Energie – ein innerer Chor des Lebens.
Dritte Strophe
Die dritte Strophe stellt nochmals das Glück infrage: »Hab ich denn nicht Kummers viel?« – Die poetische Selbstbehauptung gerät ins Wanken. Es geht nicht nur um Liebeskummer, sondern auch um »des Schaffens Angst« – ein Verweis auf die Krise des Dichters selbst, auf künstlerische Selbstzweifel. Doch die Kunst antwortet erneut: Die Rosen sprechen (»Sieh uns an«), Goethe lächelt und ruft zur Erinnerung auf, Mozart lullt mit süßer Heiterkeit das Ich ein.
Die Wiederholung der Trias (Rosen, Goethe, Mozart) bestätigt, dass die ästhetische Erfahrung kein Fluchtpunkt, sondern ein dialogischer Trostspender ist. Der Blick wendet sich also nicht von der Welt ab, sondern transformiert sie.
Schlussvers
»Ich frevelte, wollt ich nicht glücklich sein.« – Der letzte Vers ist ein Bekenntnis. Nicht das Leid, sondern das Nicht-an-das-Glück-Glauben wird als Vergehen gesehen. Glück wird zur moralischen Verpflichtung – vermittelt durch Schönheit und Kunst. Der Vers hat fast religiösen Klang: Das Glück nicht zuzulassen wäre ein »Frevel«. Damit wird das Gedicht zur Gegenrede gegen die Resignation und zur Feier des ästhetisch erlebten Augenblicks.
Psychologische Dimension
Das lyrische Ich erlebt einen inneren Wandel: vom Schmerz, der Krankheit und dem Selbstbetrug zur heiteren Versöhnung mit dem Dasein durch Kunst und Schönheit. Die erste Strophe beginnt fast mit einem Seufzer der Erfüllung: »Was will ich mehr?« – ein rhetorischer Ausdruck innerer Ruhe, vielleicht auch Erstaunen über die plötzliche innere Harmonie. Der Kontrast zur Vergangenheit – »Ich litt einst Schmerz« – deutet auf eine tiefere psychologische Wunde hin: Desillusionierung, vielleicht auch Depression, hervorgerufen durch eine täuschende Liebesbeziehung (»Weib, das nichts als gute Maske war«).
Der mentale Umschwung geschieht jedoch nicht durch Reflexion, sondern durch sinnliche Präsenz: Rosen, Goethe, Mozart – konkrete Gegenstände oder Kunstwerke rufen eine neue Stimmung hervor. Es handelt sich um eine Form der Sublimation: Der frühere Schmerz wird nicht verdrängt, sondern verwandelt, »hineingesungen« in die Musik, das Licht, die Farbe. Die letzte Zeile (»Ich frevelte, wollt ich nicht glücklich sein.«) ist ein Schuldbekenntnis – Glück zu verweigern wäre ein Vergehen gegen die Schönheit der Welt.
Literarische Topoi
Mehrere klassische Topoi durchziehen das Gedicht:
Carpe diem: Ohne direkt zitiert zu werden, durchzieht dieser Lebensleitspruch das Gedicht. Es geht um das bewusste Erleben des Augenblicks: der Duft der Rosen, das Lächeln des Goethe-Bildnisses, die Musik.
Heilung durch Kunst: Ein Topos der Romantik und des Symbolismus. Die Werke der großen Künstler (Goethe, Mozart) wirken heilend auf das Subjekt. Die »Heiterkeit« Goethes ist nicht nur ästhetisch, sondern seelisch bedeutend.
Illusionsverlust in der Liebe: In der zweiten Strophe zeigt sich der Topos der enttäuschten Liebe. Die Frau war »nichts als gute Maske«, eine symbolistische Metapher für die Trennung von äußerem Schein und innerem Wesen.
Rückkehr zur Innerlichkeit: Das lyrische Ich wendet sich von äußeren Konflikten ab und findet Trost in kontemplativer Betrachtung, ähnlich dem Rückzugsideal der Spätromantik.
Symbole und Motive
Rosen: Die dunkelroten Rosen stehen für Sinnlichkeit, Schönheit, Leben und Liebe – jedoch nicht in dramatischer, sondern versöhnlicher Weise. Ihre Glut ist konstant: »Die Rosen glühen« – eine Art ewiges Leuchten, das über innere Krisen hinwegtröstet.
Der weiße Marmor-Goethe: Das Goethe-Bildnis (vermutlich eine Büste) symbolisiert klassische Klarheit, Maß, Geistigkeit. Die Farbe Weiß steht für Reinheit, Überzeitlichkeit, vielleicht auch für das Erhabene. Dass er »lächelt« und »Heiterkeit« verströmt, unterstreicht Goethes Rolle als innerer Mentor.
Mozarts Figaro: Mozarts Oper ist ein Inbegriff musikalischer Lebendigkeit, Spielfreude, auch menschlicher Tiefe. Die erwähnten Figuren Susanne und Cherubin stehen für Liebe, Unschuld und erotische Regung – insbesondere Cherubin als androgyne Figur des jugendlichen Verlangens. Die Musik Mozarts wirkt hier wie ein innerer Gesang, der das Ich neu stimmt.
Licht- und Farbelemente: »Dunkelrote Rosen«, »weißer Marmor«, das »Glühen« – das Spiel mit Licht und Farbe erzeugt eine visuelle Harmonie, die der psychischen Entfaltung entspricht. Rot und Weiß – Leidenschaft und Geist.
Das Ich als Künstler: In der Frage »Hab ich denn nicht Kummers viel? Verliebten Zweifel und des Schaffens Angst?« tritt der Künstler als reflektierendes Subjekt hervor, das sich selbst in Schöpfungskrisen erkennt – ein Echo romantischer Künstlerproblematik.
Historisch-kultureller Kontext
Bierbaum (1865–1910) war ein Vertreter des deutschen Fin de Siècle, stilistisch zwischen Impressionismus, Jugendstil und literarischer Moderne. Er war ein Vorläufer expressionistischer Tendenzen, aber noch tief verwurzelt im Ästhetizismus, also dem Glauben an die erlösende, ordnende Kraft der Kunst.
Das Gedicht steht exemplarisch für die kulturelle Atmosphäre der Jahrhundertwende: Es verehrt klassische Gestalten (Goethe, Mozart), integriert sie in ein modernes Ich-Erlebnis, das gleichermaßen melancholisch wie ironisch gefärbt ist. Auch der Verweis »Für Dora Hitz« – eine bekannte Malerin des Symbolismus – betont das intermediale Moment der Kunstbeziehung. Die Künste (Musik, Literatur, Malerei) erscheinen hier als spiritueller Rückzugsort in einer fragmentierten Welt.
Lexikalik und Wortfelder
Das Gedicht arbeitet mit einem bewusst einfachen, aber klangvollen Vokabular, das seine Wirkung durch Kontraste entfaltet:
Wortfeld der Ästhetik: »Rosen«, »Marmor«, »weiß«, »dunkelrot«, »singt«, »Glase« – diese Wörter schaffen ein feinsinniges, kultiviertes Bild. Die Dinge sind geordnet, edel, fast sakral aufgeladen.
Wortfeld der Erinnerung und psychischen Bewegung: »Schmerz«, »müd«, »krank«, »log mir Glück«, »Wunder«, »Zweifel«, »Angst«, »frevelte« – eine innere Lebensbewegung von Dunkel zu Licht.
Wortfeld der klassischen Harmonie: »Goethe«, »Mozart«, »Susanne«, »Cherubin«, »Figaro« – hier wird das Ideal des Maßvollen, Heiteren, Schönen beschworen, wie es der deutschen Klassik (Goethe) und der Wiener Klassik (Mozart) eigen war.
Sprachlich dominieren ruhige Kadenzen, klare Aussagen und ein bewusst eingesetzter Zeilenbruch zur Verstärkung von Kontrasten.
Metaphysische Implikationen
Trotz der scheinbar rein diesseitigen Szenerie enthält das Gedicht eine metaphysische Tiefe: Es ist die Frage nach der Wahrheit des Erlebens, nach dem Verhältnis von Kunst und Leben, Schein und Sein.
Das Ich erkennt, dass vieles, was es für Realität hielt – Schmerz, Liebe, Krankheit – möglicherweise nur Traum war. Die Kunst (Goethe, Mozart, die Rosen) hingegen erweist sich als das Wirklichere, als transzendente Wahrheit, die über Leid und Zweifel hinausweist.
»Ich frevelte, wollt ich nicht glücklich sein.« – Dies ist ein zutiefst metaphysischer Satz. Er klingt wie eine Buße für das Verweigern des Lebens, wie ein modernes »fiat voluntas tua«. Glück erscheint nicht als sentimentale Träumerei, sondern als sittlich gebotene Haltung in einer Welt, die durch Schönheit und Form ihre eigentliche Tiefe gewinnt.
Umdichtung als Prosatext
• Was sollte ich mehr verlangen? Auf meinem Tisch stehen in einem schönen Glas dunkelrote Rosen. Aus dem weißen Marmor blickt mich Goethe an, und eben eben noch hörte ich die heitere Musik aus Mozarts »Figaro«.
• War da nicht einmal Schmerz in mir? War ich nicht krank, müde vom Leben? Habe ich mir nicht ein Glück vorgelogen, ein Wunder von Frau erfunden, das nichts war als schöne Maske? Jetzt aber glühen die Rosen. Alles war nur ein Traum.
• Goethe, weiß und still, strahlt Heiterkeit aus. In mir klingt es: Susanne, Cherubin – sie singen.
• Und dennoch – trage ich nicht noch immer Kummer? Zweifel in der Liebe, Angst vor dem Schaffen? Die Rosen, rot wie Glut, sprechen zu mir: »Sieh uns an.« Goethe lächelt: »Denk an mich.« Und Mozart lullt meine Seele in süßen Trost.
• Wie könnte ich da nicht glücklich sein? Es wäre ein Frevel.