Ritter rät dem Knappen dies

Otto Julius Bierbaum

Ritter rät dem Knappen dies

Sitz im Sattel, reite,
Reite auf die Freite,
Freie dir die Fee der Freien,
Freie sie im milden Maien;
Mit Narzissen in den Händen
Geh ihr nah, doch an der Lenden
Schwebe dir dein Schwert.
-
Sprich zu ihr: Madleine,
Rose, Rose, reine,
Willst du dich mir freundlich neigen?
Willst du mir den Himmel zeigen?
Und sie wird die Blicke senken,
Wird dir alle Himmel schenken.
Nimm sie auf dein Pferd.
-
Sitz im Sattel, sause,
Reit mit ihr nach Hause;
Zwischen seidenbunten Decken
Sollst du dir dein Glück verstecken.
Alle Thore zugeschlossen!
Dämmergold ist ausgegossen
Ueber euern Herd.

Analyse

• Otto Julius Bierbaums Gedicht »Ritter rät dem Knappen dies« ist eine exemplarische Miniatur spätromantischer bis jugendstilhaft-erotischer Poesie, durchzogen von Anspielungen auf höfische Minne, idealisierte Weiblichkeit und ein fast mystisches Verständnis von Liebe und Erfüllung. Im Folgenden eine dreiteilige Betrachtung des Gedichts.
• Es ist ein kunstvoll komponiertes Gedicht, das höfisch-märchenhafte Romantik, erotischen Überschwang und mystische Tiefe vereint. Die Initiation des Jünglings wird zum Ritus, der in einer fast sakralen Liebesgemeinschaft gipfelt. Trotz seiner Leichtigkeit und Schönheit zeigt das Gedicht ein tiefes Verständnis für die Verbindung von Sinnlichkeit und Spiritualität, Körper und Kosmos.
• Das Gedicht gehört in vielfacher Hinsicht zu den charakteristischen Texten der literarischen Jahrhundertwende, eingebettet in die Atmosphäre des Jugendstils und des aufkommenden Symbolismus, aber mit Wurzeln auch im romantischen Ritterideal und einem nicht zu unterschätzenden Schuss ironischer Brechung. Es ist ein Gedicht, das gleichermaßen von sinnlicher Begehung und märchenhafter Verklärung lebt.
• Bierbaums Gedicht ist ein kunstvoll verspielter, zugleich hochstilisiert-erotischer Text, der mit mittelalterlichen Motiven kokettiert, sie aber in den Ästhetizismus und die Ironie der Jahrhundertwende überführt. Die Sprache ist geprägt von Klanglust, rhythmischer Bewegung und symbolischer Dichte. Inhaltlich inszeniert das Gedicht einen Aufbruch zur Liebe, der in einer fast heiligen Erfüllung kulminiert – zugleich weltlich und entrückt, sinnlich und märchenhaft. Es ist ein typisches Produkt seiner Zeit: zwischen verklärender Liebeslyrik, dekadentem Stilspiel und ironischer Distanz.
• Es ist ein kleiner Reigen aus höfischer Allegorie, erotischer Symbolik und seelischer Erweckung. Die Verse verbinden eine spielerische Leichtigkeit mit einer unterschwellig tiefen psychologischen und literarischen Struktur.
• Das Gedicht ist in seiner spielerischen Kürze ein fein gearbeiteter Spiegel seelischer Reifung, höfischer Tradition und erotischer Symbolik. Der Ratschlag des Ritters ist kein bloßer Werberuf zum Liebesabenteuer, sondern ein Aufruf zur bewussten, würdevollen Hingabe. Der psychologische Prozess des Erwachsenwerdens wird mythopoetisch umspielt – mit einem Lächeln, aber ohne Beliebigkeit. Es ist ein Gedicht zwischen Traum und Tat, zwischen Rose und Schwert, zwischen Fahrt und Ankunft.
• Es entfaltet sich als kunstvoll stilisierte Minne-Anweisung im Gewand des Jugendstils. In dieser Miniatur verschmelzen höfische Redeweise, erotische Allegorie, christlich-mystische Bildsprache und eine ironisch-erhöhte Weltflucht zu einer poetischen Fantasie, die an die Schwelle zwischen Mittelalterromantik und fin de siècle-Symbolismus tritt.
• »Ritter rät dem Knappen dies« ist eine dichte Verschränkung von höfischer Romantik, erotischer Allegorie und spiritueller Transzendenz. Es schöpft aus einem symbolistischen Weltgefühl, das das Irdische verklärt, das Sinnliche vergeistigt und das Göttliche in der Geliebten offenbart. Zugleich ironisiert Bierbaum subtil die literarische Überhöhung, indem er das Sakrale im Allzumenschlichen ahnen lässt.

Inhaltliche Analyse und Gliederung

Das Gedicht ist ein Ratgedicht in drei Strophen. Es richtet sich aus der Perspektive eines älteren, erfahreneren Ritters an einen jüngeren Knappe, der offenbar auf dem Weg ist, Liebe – und zugleich Männlichkeit – zu erlangen.
Erste Strophe: Aufbruch und Werbung
Der junge Knappe soll sich in den Sattel setzen und zur »Freite« reiten – ein altertümliches Wort für Brautwerbung. Die Formulierung »Freie dir die Fee der Freien« ist eine Steigerung: Die Begehrte ist nicht nur schön, sondern die Idealgestalt der weiblichen Freiheit und Würde. Der Frühling (»milder Maien«) steht als Chiffre für Liebe und Neubeginn. Die Geste, mit Narzissen in den Händen zu werben, ist zart – doch gleichzeitig wird das Schwert betont, das als Symbol männlicher Potenz, aber auch Selbstbehauptung über der Hüfte »schweben« soll.
Zweite Strophe: Dialog und Hingabe
Hier wird die Szene intimer. Der Knappe soll die Dame mit einem höfischen Lob ansprechen – »Rose, Rose, reine« –, eine klassische Metapher für Unschuld und Schönheit. Der höfische Diskurs (»Willst du dich mir freundlich neigen?«) bleibt jedoch nicht im distanziert-idealistischen Bereich: »Willst du mir den Himmel zeigen?« enthält eine klare erotische Doppeldeutigkeit. Das Versprechen der Frau ist die totale Hingabe: »Alle Himmel schenken«, das heißt auch – die Liebe ohne Einschränkung. Schließlich soll sie auf sein Pferd steigen: Symbol der Gemeinsamkeit, aber auch der Übernahme in seine Welt.
Dritte Strophe: Heimkehr und Erfüllung
Die gemeinsame Rückkehr wird geschildert als rauschhafte Heimfahrt. Dort, in der geschützten Sphäre des Hauses (»Zwischen seidenbunten Decken«), vollzieht sich die Erfüllung der Liebe im Verborgenen – fast wie ein sakrales Mysterium. Die Welt draußen wird ausgeschlossen (»Alle Thore zugeschlossen!«), während der heimische Herd vom »Dämmergold« überflutet wird – ein Sinnbild für Geborgenheit, Seligkeit und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Philosophisch-theologische Deutung

• Trotz seiner heiteren und erotisch gefärbten Oberfläche enthält das Gedicht eine tiefere metaphysische Struktur, die mit Motiven der Mystik, der Minne und des Sakralen spielt.
• Die »Freie« ist nicht einfach eine Frau – sie ist eine idealisierte Gestalt, fast wie Beatrice für Dante: »Fee der Freien« suggeriert nicht nur Schönheit, sondern transzendente Erhabenheit. Die Werbung um sie wird dadurch zu einem Ritual der Einweihung, bei dem der Knappe nicht bloß liebt, sondern sich verwandelt: vom Suchenden zum Erfühlenden.
• Die Liebe, wie sie hier beschrieben wird, ist nicht nur sinnlich, sondern ganzheitlich – sie umfasst Leib, Seele, Himmel und Erde. Der Hinweis, dass sie ihm den »Himmel zeigen« soll, spielt mit der Doppeldeutigkeit zwischen religiöser Transzendenz und erotischer Ekstase. Der Himmel, der sich dann »schenkt«, könnte sowohl ein Orgasmus wie auch ein mystisches Verschmelzen bezeichnen – wie in den Ekstasen der Teresa von Ávila oder der Brautmystik des Hohenlieds.
• Auch das »Dämmergold« über dem Herd erinnert an alttestamentliche Theophanie: ein diffuses Licht, das für göttliche Nähe steht. So wird der Liebesakt letztlich zu einem heiligen Akt – verborgen, aber leuchtend.

Strukturelle Mittel und Rhetorik

Form und Klang
Das Gedicht ist metrisch frei, aber deutlich rhythmisch gestaltet. Die Anaphern (»Sitz im Sattel…«) und die imperativische Grundstruktur verleihen dem Text eine mahnend-initierende Tonlage. Die Sprache ist archaisierend und poetisch aufgeladen – Worte wie »Freite«, »milder Maien«, »seidenbunte Decken« stammen aus einem älteren, märchenhaften Wortschatz.
Alliteration und Assonanz
Schon im ersten Vers: »Sitz im Sattel, reite, / Reite auf die Freite« – ein Spiel mit Konsonanzen und Binnenreim. Die Alliteration erzeugt eine tänzelnde, musikalische Bewegung, die den Ritt zur Liebe fast wie ein Reigen erscheinen lässt.
Metaphern und Symbolik
Narzissen: Frühling, Erwachen, Reinheit – aber auch Narzissmus?
Schwert: Männlichkeit, Potenz, aber auch Gefahr und Autorität.
Pferd: Trägerfigur, Verbindung zwischen Mann und Frau – wie in vielen Minneliedern.
Rose: klassische Metapher für Weiblichkeit, Unschuld, und in der Mystik (z.B. Angelus Silesius) auch für das göttliche Mysterium.
Dämmergold: symbolisiert eine Zwischenzeit, das Licht des Übergangs – etwa von Jugend zu Männlichkeit, von Begehren zu Erfüllung.
Steigerung
Das Gedicht folgt einer narrativen Steigerung:
1. Werbung (Distanz)
2. Annäherung und Bitte (Kontakt)
3. Erfüllung und Verschmelzung (Einheit)

Sprache und Stilmittel

Die Sprache ist rhythmisch klar gegliedert, leichtfüßig und liedhaft. Die Auftaktstruktur (»Sitz im Sattel, reite«) und Imperative verleihen dem Gedicht eine drängende, beschwingte Bewegung, die vom Aufbruch und der erregten Erwartung der Liebe getragen wird. Typisch ist die alliterierende, lautmalerische und fast tänzelnde Klanggestalt:
»Reite auf die Freite, / Freie dir die Fee der Freien« – Hier verbinden sich Alliteration, Klangspiel, Assonanz und die Wortfeldnähe von »reiten«, »freien«, »Fee« zu einer Art musikalischem Liebesaufruf.
Die Bildlichkeit ist durchgehend symbolisch und romantisierend:
Die »Fee der Freien« steht allegorisch für die begehrte Frau, zugleich ein mythisches, entrücktes Idealbild.
Die »Narzissen in den Händen« sind ein Frühlingssymbol und weisen zugleich auf Verführung und Vergänglichkeit (→ Narziss-Mythos).
Das »Schwert an den Lenden« bringt eine erotische Konnotation ins Spiel: einerseits Zeichen ritterlicher Männlichkeit, andererseits Phallussymbol.
Die zweite Strophe arbeitet stark mit symbolischer Doppeldeutigkeit und höfischer Liebessemantik:
»Rose, Rose, reine« – ein Bild, das zwischen Liebesmetapher und Marienanrufung changiert (vielleicht auch mit ironischem Unterton).
Die Frage »Willst du mir den Himmel zeigen?« schillert zwischen mystischer Transzendenz und erotischer Andeutung.
Die Frau »senkt die Blicke«, ein Topos aus dem höfischen Minnesang – aber die Folge ist kein Ideal der Enthaltsamkeit, sondern das »Schenken aller Himmel«.
In der letzten Strophe dominieren Sinnlichkeit und Heimkehr:
Das Verstecken des »Glücks« zwischen »seidenbunten Decken« lässt die Erotik kaum verschlüsselt durchscheinen.
Der »Dämmergold«-Effekt am Ende übergießt alles in ein weiches, fast filmisches Schlusslicht, das zwischen Märchen und Erfüllung schwebt.

Gattungs- und Stilkontext

Das Gedicht steht formal zwischen Lied, Märchen und Ballade. Es gibt keinen klaren erzählenden Rahmen, sondern eher eine symbolisch verdichtete Handlung in drei Stationen: Werbung – Eroberung – Erfüllung.
Gattungshistorisch ist das Gedicht:
• dem symbolistischen Kunstlied verwandt, mit Tendenz zur Stilisierung und Verklärung des Begehrens;
• zugleich jugendstilig in seiner Ornamentik, in der Betonung von Schönheit, Bewegung, Licht und Dekor;
• mit ironischen Reflexen versehen, die an parodistische Spielarten der Romantik oder die Décadence erinnern.
• Der Text spielt auf das Genre der Ritterromantik an, entlehnt Motive aus der höfischen Liebe, aber verwendet sie nicht naiv, sondern in bewusster Stilübernahme, die zugleich auch gebrochen und lustvoll überhöht ist – typisch für Bierbaum, der oft mit dem stilisierenden Erotizismus des Fin de Siècle arbeitete.

Ausführliche semantische Analyse

Das Gedicht inszeniert den klassischen Weg des Werbenden, hier konkret des Knappen, der zum Ritter werden soll – ein Initiationsmotiv, das zugleich auf eine Verwandlung durch die Liebe verweist. Dabei sind die Stationen des Gedichts klar semantisch markiert:
1. Aufforderung zum Aufbruch (Strophe 1)
Der Ritter ruft zur Tat auf: reiten, freien, erobern – aber alles im Rahmen einer märchenhaft stilisierten Realität (»Fee der Freien«). Die Frau ist kein banales Ziel, sondern eine mythische Gestalt, die durch die richtige symbolische Geste (Blumen, Frühling) gewonnen werden kann. Das »Schwert« erinnert an die Ambivalenz: zwischen Rittertum und Sexualität, zwischen Kampf und Lust.
2. Zärtliche Ansprache und Übergabe (Strophe 2)
Die Szene der Werbung ist sprachlich zart und blumig, zugleich doppeldeutig. Die Anrede »Madleine, Rose« evoziert religiöse und sinnliche Assoziationen zugleich – die biblische Magdalena als Sünderin und Geliebte Christi, die Rose als jungfräuliches wie erotisches Symbol.
Die »Himmel«, die sie schenken soll, sind semantisch mehrdeutig:
Erotisch: die Vereinigung ist ein »Himmel« des Genusses.
Mystisch: Liebeserfüllung als Transzendenzerlebnis.
Romantisch: das Verschmelzen zweier Seelen als kosmisches Ereignis.
3. Heimkehr in die Intimität (Strophe 3)
Hier kulminiert das Gedicht in der Verschmelzung von Sinnlichkeit und häuslicher Geborgenheit. Das Glück soll »versteckt« werden – eine mögliche Anspielung auf gesellschaftliche Konventionen oder auch auf das Private als Rückzugsraum für das wahre Glück.
Die »seidenbunten Decken« sind Bild der Lust, aber auch des Komforts und der Schönheit. Die geschlossenen Tore betonen die Exklusivität der Verbindung. Das »Dämmergold« am Schluss lässt die Szene in mystischem Licht erstrahlen: erfüllte Liebe als Lichtquelle, fast als religiöses Moment.

Psychologische Dimension

• Das Gedicht ist ein Initiationsrat – ein symbolischer Ritus vom Knaben zum Mann, von der Enthaltsamkeit zur Erfahrung. Der »Ritter« spricht zum »Knappen«: Der ältere, erfahrene Mann weiht den jüngeren in das Geheimnis des Begehrens ein. Dabei ist das Reiten nicht bloß wörtlich zu nehmen – es ist zugleich eine Allegorie des Lebens und der Erotik. Der Knappe soll die »Fee der Freien« freien – eine Frau, die selbst frei ist, nicht Objekt, sondern Wesen mit Willen. Dies verleiht der Szene eine zarte psychologische Tiefe: Es geht nicht um Eroberung im kriegerischen Sinn, sondern um das Gleichgewicht von Werben und Achten, von Begehren und Verehrung.
• Das »Schwert an der Lenden« ist dabei ein unmissverständlich phallisches Symbol, aber in seiner Schwebestellung wird es auch psychologisch ambivalent: Es soll präsent sein, nicht zustoßen. Erotik wird als spannungsvolles Annähern gedeutet – nicht als gewaltsamer Zugriff.
• Die zentrale psychologische Bewegung ist die einer fortschreitenden Transformation: vom romantischen Ideal (Narzissen, Maienzeit, Madleine) über die erotische Begegnung (auf dem Pferd) zur häuslich-sinnlichen Erfüllung (seidenbunte Decken, Herd). Dies entspricht einem archetypischen psychischen Übergang: vom Traum zur Verwirklichung, vom Ich zum Du, vom Außen zum Innen.

Literarische Topoi

• Das Gedicht spielt virtuos mit traditionellen Topoi der Minne, des Abenteuers und der romantischen Reise. Die höfische Struktur – Ritter, Knappe, Fee – erinnert an Artusromane, aber Bierbaum unterwandert sie mit moderner Ironie und Sinnlichkeit. Die »Fee der Freien« ist kein entrücktes Idealwesen, sondern eine sinnlich greifbare Frau im »milden Maien«. Frühling ist hier nicht nur Naturzeit, sondern symbolische Reifezeit für Liebe.
• Die Anrufung – »Rose, Rose, reine« – ist ein klassischer Topos der Marienlyrik und der romantischen Symbolik zugleich. Die Rose steht für Reinheit und Erotik in einem – eine Dopplung, die sich durch das ganze Gedicht zieht: Reinheit und Begehren sind keine Gegensätze, sondern ineinander verschränkt.
Ebenso der Ritt: Ein gängiger Topos der Literatur, vom mittelalterlichen Aventiure-Ritt bis zu romantischen Nachtfahrten, wird hier zum Eros-Fahrzeug, das nicht in die Ferne, sondern zur Innerlichkeit (nach Hause) führt.

Symbole und Motive

Mehrere zentrale Symbole strukturieren das Gedicht:
Der Sattel / das Reiten: Steht für Selbstbestimmung, Aktivität, aber auch für das erotische Moment. Der Ritt ist keine Flucht, sondern ein zielgerichteter Aufbruch ins Leben – und in die Liebe.
Das Schwert an der Lenden: Ein Motiv zwischen Ritterlichkeit und Sexualsymbolik. Es steht für männliche Potenz, aber durch die Formulierung »schwebe dir« wird Gewalt ausgeschlossen – das Schwert ist Symbol, nicht Waffe.
Narzissen in den Händen: Narzissen sind Blumen des Selbstbildes (vgl. Narziss) und der Frühlingsblüte. In ihrer ambivalenten Symbolik weisen sie auf das fragile Verhältnis zwischen Selbstliebe und Öffnung zum Anderen hin.
Rose: Die Dreifachnennung »Rose, Rose, reine« evoziert das klassische Symbol für Weiblichkeit, Liebe, Reinheit – und Transzendenz. Die Rose hat eine lange theologische und literarische Geschichte (u. a. im »Roman de la Rose« und bei Dante).
Das Pferd: Als Fortbewegungsmittel ist es zugleich wildes Tier und Symbol der kontrollierten Kraft. Das gemeinsame Reiten wird zur Vereinigung in Bewegung – einem Liebesakt in metaphorischer Vorform.
Seidenbunte Decken / Herd / Dämmergold: In der Schlussstrophe wird das Motiv häuslicher Intimität entfaltet. Das Glück liegt im Verborgenen, abgeschottet (»Thore zugeschlossen«) und in warmes Licht getaucht. Hier kulminiert die Reise im stillen Glanz der Erfüllung – fast wie eine Szene aus Boticellis Gemälden: erotisch, aber nicht obszön.

Historisch-kultureller Kontext

Otto Julius Bierbaum (1865–1910) war ein wichtiger Vertreter des literarischen Jugendstils und ein Wegbereiter der deutschen Moderne. Das Gedicht erschien in einer Zeit des Übergangs: die wilhelminische Gesellschaft war noch tief im moralischen Konservatismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, während Künstler und Dichter um 1900 nach neuen Ausdrucksformen jenseits des Realismus suchten. Es herrschte ein Kult der Schönheit, der Natur, des Erotischen – jedoch stets mit ästhetisierender, vergeistigter Distanz.
Das Bild des »Ritters« – hier als Sprecher – evoziert die höfische Welt des Mittelalters, doch nicht in musealer Treue, sondern als Projektionsfläche für ein modernes Lebensgefühl: Aufbruch, Liebe, Verschmelzung mit der Natur, Entrückung. Der »Knappe« ist noch unreif, empfangsbereit für Initiation. Das Ganze gleicht einer erotischen Einweihungsrede, eine allegorische Anleitung zum Erleben der »Liebe als Mysterium«.

Lexikalik und Wortfelder

Das Gedicht ist durchzogen von einer sinnlich-melodischen Lexik, deren Klangfarben und Konnotationen auf mehreren Ebenen wirken:
Wortfeld des Reitens und der Bewegung: »Sitz im Sattel«, »reite«, »sause«, »nimm sie auf dein Pferd« – dies ist doppeldeutig: einerseits die klassische Ritterfahrt (Initiationssymbol), andererseits eine erotische Metapher für den Geschlechtsakt. Das Reiten wird zum Rhythmus des Begehrens.
Höfisch-blumige Sprache: »Fee der Freien«, »milder Maien«, »Rose, Rose, reine« – diese Anklänge an die Minnelyrik des Mittelalters und die Naturmetaphorik laden die Frau mit idealisierender, fast sakraler Reinheit auf, bei gleichzeitiger erotischer Nähe.
Erotisches Vokabular in Anspielungen: »an der Lenden / Schwebe dir dein Schwert« – der Schwertsymbolismus ist eindeutig phallisch, aber in eine ritterliche Codierung gehüllt. Auch das »Dämmergold« am Ende weist auf eine intime Atmosphäre nach dem Vollzug.
Symbolik der Geschlossenheit: »Thore zugeschlossen« verweist auf Rückzug in den privaten Raum, eine geschützte, exklusive Vereinigung, fast ein Sakralraum. Der »Herd« wird Zentrum einer neugegründeten »Zweisamkeit«.

Metaphysische Implikationen

• Das Gedicht spielt mit einer sakramentalen Erotik, wie sie im Jugendstil häufig anzutreffen ist. Die Frau (»Rose«, »Fee«, »Madleine«) erscheint als geheimnisvoll-transzendente Gestalt, eine Mischung aus Marienfigur und Femme fatale. Ihre mögliche Zustimmung wird nicht nur als irdisches Geschenk beschrieben, sondern als »Himmel«, als kosmische Gnade.
• Das Motiv der Einweihung – »Sprich zu ihr…« – folgt einer liturgischen Struktur: Anrufung, Frage, Gnade. Dies erinnert an die mystischen Traditionen der Brautmystik oder an die heilige Hochzeit (Hieros Gamos), wo das Irdische Mittel des Göttlichen wird.
• Gleichzeitig bleibt ein ironischer Unterton: Das überhöhte Vokabular steht in latentem Gegensatz zur Deutlichkeit der erotischen Implikationen – eine typisch moderne Spannung.

Umdichtung als Prosatext

Ein Ritter erteilt seinem Knappen einen innigen, beinahe feierlichen Rat:
Setz dich fest in den Sattel, reite aus, als ginge es um das höchste Gut. Reite, doch nicht nur auf Wegen und durch Wälder – reite in die Werbung, in das Wagnis der Liebe. Suche dir die Schönste, die Freie unter den Freien, diejenige, die wie eine Fee erscheint, besonders jetzt im sanften Monat Mai, wenn alles blüht und das Herz bereit ist, sich zu öffnen.
Komm ihr nahe, halte Narzissen in den Händen – Zeichen des Frühlings, der Bewunderung, aber bleibe ein Ritter: Dein Schwert soll bereit sein, nicht im Zorn, sondern als Symbol deiner Würde, deiner Stärke, deiner Männlichkeit.
Sprich sie an, nenne sie zart beim Namen – vielleicht Madleine –, vergleiche sie mit einer Rose, der reinen, der schönsten. Frage sie mit sanfter Stimme, ob sie sich dir zuneigen wolle. Bitte sie, dir den Himmel zu zeigen – jenen Himmel, der nicht bloß über den Wolken liegt, sondern in der Nähe zweier sich Liebenden. Und wenn sie errötet, den Blick senkt, dann wird sie dir – in dieser Geste der Scham und Zustimmung – alle Himmel öffnen.
Nimm sie mit auf dein Pferd, hebe sie hinauf zu dir, wie es sich für einen edlen Ritter ziemt.
Und dann, reite mit ihr heimwärts. Schnell, mit der Glut des Glücks in den Adern. Zuhause, zwischen Decken aus Seide, bunt wie ein Traum, sollt ihr euer Glück verbergen, ganz für euch.
Alle Tore werden geschlossen – die Welt bleibt draußen. Und über allem, über eurem Herd, breitet sich ein goldenes Dämmern aus, als wäre der Sonnenuntergang selbst nur für euch gegossen worden: warm, innig, leuchtend.
So spricht der Ritter, nicht in rauem Befehl, sondern wie ein Dichter der Liebe.

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