Sigmund von Birken
Morgenandacht
Frisch auf, mein Sinn, ermuntre dich,
Weil dort die Morgensonne sich
Zeigt auf vergüld'tem Hügel.
Es hüpfet ob den Büschen ümm,
Und singet Gott mit krauser Stimm'
Das leichte Luftgeflügel.
Schläfer, Schäfer,
Sind geflissen,
Zu begrüßen
Trift und Auen,
Dir und ihnen sich zu trauen.
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Dir, dir, dir hier, o Gott, stimmt an,
Was schwebt, was webt, was beben kann,
Ein Loblied deiner Güte.
Auch mich soll nichts beschämen nicht,
Daß ich vergesse meine Pflicht
Und dankbares Gemüthe.
Höre, mehre
Dies Erklingen,
Laß mein Singen,
Dich jetzt preisen,
Und dir Ruhm und Ehr' erweisen.
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Das Leid der Nacht ist überhin.
Wer macht, daß ich entkommen bin
Aus tausendfachen Stricken?
Da mich umfing des Todes Bild,
War deine Hand mein starker Schild,
Dein Schutz wollt' mich beglücken.
Pfeilen, Seilen
Böser Leute,
Die zur Beute
Mich erwählet,
Hat ihr Werk der Nacht gefehlet.
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Du Held und Hüter unsrer Wacht,
Der du nicht schläfest in der Nacht,
Dein Gnadenaug' bleib' offen;
Beug' ferner allem Unfall für,
Und öffne meines Herzens Thür
Zu fest gefaßtem Hoffen.
Ende, wende
Meine Schmerzen
In dem Herzen
Ob den Sünden,
Laß mich deine Gnad' empfinden.
Analyse
• Ein geistliches Barockgedicht, das die tägliche Erneuerung des Glaubens und die Erfahrung göttlicher Gnade in der morgendlichen Andacht thematisiert. Es ist ein paradigmatisches Beispiel für die pietistische Frömmigkeit und rhetorisch anspruchsvolle Lyrik des 17. Jahrhunderts.
• Ein paradigmatisches Gedicht barocker Frömmigkeit, das die individuelle Spiritualität mit kosmischer Ordnung und täglicher Lebensführung verbindet. Der poetische Sprecher reflektiert seine Abhängigkeit von Gottes Gnade, antwortet auf die Bewahrung der Nacht mit Lob und fleht um Führung für den neuen Tag. Formal ist das Gedicht durch kunstvolle Rhetorik, klangliche Mittel und eine musikalisch-dynamische Sprache geprägt – es ist ein geistliches Musikstück in Worten.
• Ein barockes Andachtslied, das sich an der Schwelle zwischen poetischer Morgenbetrachtung, persönlichem Gebet und protestantischer Frömmigkeitspraxis bewegt. Es entfaltet in vier Strophen einen geistlichen Lobgesang auf Gottes Gnade, Schutz und schöpferische Kraft, indem es Naturbeobachtung, Selbstansprache und Gebetsformel miteinander verbindet.
• Ein paradigmatisches Beispiel barocker Frömmigkeitsdichtung, in dem Sigmund von Birken Naturwahrnehmung, persönliche Affektion und theologische Reflexion kunstvoll verbindet. Es zeigt das barocke Lebensgefühl: bedroht vom Tod, getragen von göttlicher Ordnung, strebend nach Erlösung. Der Morgen wird zum Zeichen der Auferstehung – nicht nur des Leibes, sondern des Geistes, der in Andacht erwacht.
• Ein poetisches Andachtsgedicht aus dem Barock, das in dichterischer Form eine morgendliche Danksagung an Gott vollzieht. Es verbindet tief empfundene Frömmigkeit mit barocker Bildsprache und musikalischem Rhythmus.
• Es entfaltet in dichter Verdichtung eine barocke Welt- und Gottesauffassung: Der Mensch ist bedroht und gefährdet, aber durch das göttliche Gnadenlicht geborgen. Die Bilder sind sinnlich, bewegt, musikalisch – die Schöpfung wird zur lebendigen Liturgie, in die sich das Ich mit Lied und Lobpreis einfügt. Der Text verbindet eine persönliche psychologische Erfahrung von Angst und Rettung mit allgemeinen theologischen Motiven der Zeit und lädt zur kontemplativen Betrachtung ein.
Inhaltliche Analyse und Gliederung
Das Gedicht lässt sich in vier Strophen gliedern, die jeweils eine klar umrissene Station der morgendlichen Andacht markieren:
Strophe 1: Erwachen und Schöpfungslob
Der Sprecher fordert sich selbst zur Aktivität auf. Die Natur – Vögel, Hügel, Sonne – lobt Gott bereits, während der Mensch (noch) schläft. Die Aufforderung zur Nachahmung der Natur wird programmatisch formuliert. Der Kontrast zwischen dem schlafenden Menschen und der wachen Schöpfung unterstreicht die Pflicht zur Andacht.
Strophe 2: Persönliche Lobpreisung Gottes
Nun tritt das Ich deutlicher hervor. Der Sprecher will sich der allgemeinen Lobbewegung anschließen, Gott preisen und seine Dankbarkeit ausdrücken. Die Verpflichtung zur Andacht wird zur persönlichen Gewissensfrage.
Strophe 3: Rückblick auf nächtliche Bedrohung
Die Nacht wird als Zeit der Gefahr dargestellt. Das Bild des Todes und feindlicher Mächte (»tausendfache Stricke«) wird mit göttlicher Rettung kontrastiert. Die nächtliche Bewahrung erscheint als Ausdruck göttlicher Gnade, die nun zur Dankbarkeit verpflichtet.
Strophe 4: Bitte um weitere Bewahrung und innere Umkehr
Der Sprecher bittet um Schutz für den Tag und um geistliche Erneuerung. Die Wendung von äußerer Rettung zu innerem Trost und Läuterung ist zentral: Nicht nur Schutz, sondern auch Versöhnung mit den eigenen Sünden wird erfleht.
Philosophisch-theologische Deutung
Das Gedicht steht in der lutherischen Frömmigkeitstradition und ist zugleich vom barocken Vanitas-Denken durchdrungen:
Gottes Bild als Hüter: Gott erscheint als wachsamer Wächter in der Nacht – eine Reminiszenz an Psalm 121 (»Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht«). Dies verweist auf ein biblisch fundiertes Gottesbild der Allgegenwart und Gnade.
Anthropologie: Der Mensch wird als gefährdetes Wesen vorgestellt – von Schlaf, Tod, Sünde und feindlichen Mächten bedroht. Seine Rettung ist nicht seine eigene Leistung, sondern göttliche Gnade.
Vanitas und Memento Mori: In der Nacht lauert der Tod – eine Anspielung auf die barocke Vorstellung der ständigen Gegenwart des Todes. Die Morgenandacht ist daher auch ein tägliches Wiedererwachen zum Leben und zur Gnade.
Frömmigkeit als aktive Antwort: Der Glaube äußert sich nicht in Passivität, sondern in Lob, Dank, Gesang und Gebet. Der Mensch wird zur Kooperation mit Gottes Gnade aufgerufen – nicht im Sinne eines Werkglaubens, sondern als angemessene Reaktion auf empfangene Gnade.
Naturtheologie: Die Natur preist Gott spontan und ohne Reflexion – ein Gedanke, der auf die Theologie der natürlichen Offenbarung verweist. Der Mensch aber hat die Pflicht, bewusst und reflektiert zu loben.
Strukturelle Mittel und Rhetorik
Das Gedicht verwendet eine Vielzahl barocker Stilmittel, die zur Intensivierung der Andachtsbewegung beitragen:
Metaphorik:
»tausendfache Stricke« – Bild für Versuchungen, Sünden oder feindliche Mächte
»Gnadenaug'« – Metapher für Gottes fürsorgliche Gegenwart
»fest gefasstes Hoffen« – Hoffnung als aktiv zu erringende Tugend
»Herzens Tür« – klassisches Bild für die Empfänglichkeit des Menschen gegenüber göttlicher Gnade
Parallelismus und Anapher:
Die Wiederholungen von »dir, dir, dir« oder »höre, mehre« erzeugen rhythmische Intensität und verstärken das Gebetsmoment.
Chiasmus und syntaktische Spiegelung:
Die Strophe 2 ist ein Beispiel für die Kreuzstellung von Argument und Bitte, etwa in der Versstruktur:
»Auch mich soll nichts beschämen nicht, / Dass ich vergesse meine Pflicht«
Enjambements und Musikalität:
Viele Verse fließen über die Zeilengrenze hinweg. Dies unterstreicht das rhythmisch-musikalische Element des Gebetslieds.
Klangsymbolik:
Die alliterierenden Reime (»Schläfer, Schäfer«, »Singet… Stimme«) imitieren das Vogelgezwitscher und betonen die Affinität von Klang und Andacht.
Dialogstruktur mit sich selbst und Gott:
Das lyrische Ich spricht zugleich zu sich selbst (Aufforderung zur Andacht) und zu Gott (Lob, Dank, Bitte) – eine Doppelbewegung, typisch für barocke Gebetslyrik.
Sprache und Stilmittel
Die Sprache ist durchgängig geprägt vom hohen Stil barocker Dichtung: gewählte Syntax, kunstvolle Klangfiguren und ein starker emotionaler Appell. Der Text greift auf typische barocke Stilmittel zurück:
Apostrophe und Selbstansprache: Gleich zu Beginn wendet sich das lyrische Ich an sich selbst: »Frisch auf, mein Sinn, ermuntre dich«. Dies ist ein klassischer rhetorischer Zugriff der Andachtsliteratur, in der der Betende sich selbst zur Andacht und Gotteslob anhält.
Alliteration und Assonanz: Klangliche Mittel wie »was schwebt, was webt, was beben kann« erzeugen musikalische Wirkung und unterstreichen die Vitalität der Morgenstunde.
Parallelismus und Anapher: Etwa in der Reihung »Dir, dir, dir hier« oder der Strophe mit den dreifachen »Schläfer, Schäfer, …« findet sich eine rhythmisch-strukturierende Wiederholung, die an einen Gesang oder Psalm denken lässt.
Personifikation der Natur: Die »Morgensonne« wird aktiv, das »Luftgeflügel« singt Gott, alles »bebe\[t]« im Lob. Die belebte Natur erscheint als Chor der Schöpfung.
Antithetik: Typisch barock ist der Gegensatz zwischen Nacht und Morgen, Schlaf und Erwachen, Tod und Leben, Gefahr und Rettung. Das Bild des »Leid\[s] der Nacht« kontrastiert mit der Morgenerlösung.
Metaphern und Bildlichkeit: »tausendfache Stricke«, »Pfeile, Seile« stehen für Bedrängnisse und Sünde. Gott ist der »Held«, der »Hüter unsrer Wacht«, sein »Gnadenaug'« wacht über das Ich. Es herrscht eine ausgeprägte Bildlichkeit mit deutlichen biblischen Anklängen.
Gattungs- und Stilkontext
• Das Gedicht gehört zur Gattung der geistlichen Lyrik des Barock und steht in der Tradition der Andachtsdichtung, wie sie im protestantischen Raum seit dem frühen 17. Jahrhundert gepflegt wurde – beeinflusst von der lutherischen Frömmigkeit und dem Bedürfnis nach einer personalen, reflektierten Gottesbeziehung.
• Formal weist es Elemente des geistlichen Liedes auf: regelmäßige Strophenform (sechszeilig), durchgängiger Kreuzreim, klare metrische Struktur (meist fünfhebiger Jambus mit Zäsur nach der dritten Hebung), Gesangstauglichkeit.
• Stilistisch bewegt sich Birken zwischen schlesischem Barock und pietistisch anmutender Innerlichkeit. Die Nähe zur Dichtung Paul Flemings oder Andreas Gryphius' ist spürbar, ohne deren tragisch-metaphysische Tiefenwirkung voll zu übernehmen. Bei Birken überwiegt ein helles, lobendes Gottesbild.
Ausführliche semantische Analyse
1. Strophe: Weckung zur Andacht
»Frisch auf, mein Sinn, ermuntre dich…«
• Die Strophe ist ein Ruf zur inneren Sammlung. Das Ich fordert sich selbst auf, in den Lobgesang der Natur einzustimmen. Die Morgensonne, »vergüld't« (allegorisch: göttlicher Glanz), und das »Luftgeflügel« (Vögel) verkörpern die Welt als Schöpfungschor. Die scheinbar lautmalerisch eingesetzten Wörter »hüpfet« und »krauser Stimm'« vermitteln Bewegung und Klang.
• Die Welt, belebt und lobend, stellt das schlafende Ich in Frage: Es soll ebenso »gliss\[e]n« (eifrig sein), sich Gott »trauen« – also auf ihn vertrauen. Die Natur wird zur mahnenden Predigt.
2. Strophe: Universelles Gotteslob und Selbstverpflichtung
»Dir, dir, dir hier, o Gott, stimmt an…«
• Ein emphatischer Ruf: Gott gebührt das Lob aller Wesen (»was schwebt, was webt, was beben kann«). Diese dreifache Bewegung (schweben, weben, beben) spannt ein semantisches Feld von Lebendigkeit und Ergriffenheit auf – von der Anmut des Tanzes bis zur Zittern der Ehrfurcht.
• Der Sprecher will nicht hinter der Natur zurückstehen: Seine »Pflicht« ist der Dank. Die Bitte an Gott, das »Erklingen« zu »mehren«, ist ein Wunsch nach Inbrunst und bleibender Lobkraft.
3. Strophe: Erinnerung an nächtliche Gefahr
»Das Leid der Nacht ist überhin…«
• Diese Strophe ist retrospektiv: Die Nacht steht symbolisch für Sünde, Gefahr, Angst und Tod (»des Todes Bild«). Das Bild der »tausendfachen Stricke« erinnert an Psalm 18 oder 91 – Metaphern der Bedrohung durch das Böse. Gott erscheint als »starker Schild«, seine Hand als schützende Kraft.
• Die »bösen Leute«, deren Werke »fehl\[t]en«, stehen für Versuchung, Feindseligkeit oder sogar dämonische Mächte – eine barocke Deutung des nächtlichen Schlafs als mögliche Todesnähe. Dass das Ich überlebt hat, wird als Gnadenzeichen erkannt.
4. Strophe: Bitte um fortdauernden Schutz und Gnade
»Du Held und Hüter unsrer Wacht…«
• Die finale Strophe verstetigt das Gebet: Gott als »Held und Hüter« ist Wächter über die Nacht, der nie schläft – ein Motiv mit biblischer Grundlage (Psalm 121). Das »Gnadenaug'« ist metonymisch für Gottes segnendes und wachendes Wesen.
• Die Bitte ist doppelt: Äußere Bewahrung vor »Unfall« und innere Öffnung des Herzens zu »Hoffen« und Gnade. Schmerz über Sünde soll in Trost verwandelt werden – eine klassische Formulierung barocker Buß- und Trosttheologie.
Psychologische Dimension
• Die »Morgenandacht« inszeniert eine innere Erhebung aus der Dunkelheit der Nacht in das Licht des neuen Tages – eine psychologische Bewegung vom Bedrängnis zur Befreiung, von Angst zu Vertrauen. Das Ich spricht sich selbst an: »Frisch auf, mein Sinn, ermuntre dich« – eine Selbstaktivierung, ein innerer Ruck, der ein Erwachen nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele bedeutet. Die Nacht war offenbar nicht nur physisch, sondern existenziell gefährlich: »Da mich umfing des Todes Bild«. Das Ich hat – möglicherweise im Schlaf – eine Nähe zum Tod erfahren, was eine intensive, psychologisch als traumatisch zu deutende Erfahrung war. Das Gedicht ist so auch ein Versuch der Wiederherstellung innerer Ordnung, einer psychischen Rückbindung an das Göttliche, um aus der existentiellen Bedrängnis neue Hoffnung zu schöpfen.
• Die psychologische Grundbewegung des Gedichts ist also eine typische barocke Dynamik: aus der Todesnähe in die göttliche Geborgenheit, von Angst zu Trost, von Dunkel zu Licht. Diese Bewegung ist zugleich emotional und spirituell.
Literarische Topoi
Das Gedicht greift mehrere zentrale Topoi der Barockliteratur auf:
Vanitas (Vergänglichkeit): implizit präsent in der nächtlichen Todesgefahr. Die Nacht ist nicht nur ein Zeitabschnitt, sondern symbolisiert das Sterben, das Dunkle, das Verborgene. Die plötzliche Gefahr in der Nacht steht für die Unsicherheit des Lebens.
Memento mori (Gedenke des Todes): Das Ich erinnert sich, dass es »umfangen« war vom »Todesbild«. Die Nacht wird zur Allegorie der Sterblichkeit.
Theatrum mundi (die Welt als Bühne): Das »leichte Luftgeflügel«, das »singet Gott mit krauser Stimm'« führt ein himmlisches Schauspiel auf. Der Morgen wird zur göttlichen Bühne, auf der alle Kreatur sich zum Lob Gottes versammelt.
Providentia Dei (göttliche Vorsehung): Die Rettung aus der Todesgefahr in der Nacht wird als Wirkung göttlicher Fürsorge dargestellt. Gott ist »Held und Hüter unsrer Wacht« – das allsehende Auge der Gnade bleibt offen, auch wenn der Mensch schläft.
Symbole und Motive
Morgen und Sonne
Die Morgensonne steht für Hoffnung, Erneuerung und göttliche Ordnung. Ihr »vergüld'ter Hügel« verweist auf Transzendenz, Licht und göttlichen Glanz – das Gold ist im Barock stets auch ein Attribut des Göttlichen.
Luftgeflügel / Vogelgesang
Das »leichte Luftgeflügel«, das Gott lobt, fungiert als Symbol der natürlichen Ordnung. Vögel stehen für Unschuld, Spiritualität und den Übergang zwischen Himmel und Erde. Ihre »krause Stimm'« ist Ausdruck der barocken Klangfreude und Vielstimmigkeit des Lobs.
Nacht und Stricke
Die Nacht ist Symbol der Prüfung, der Sünde, der Unsicherheit. Die »tausendfachen Stricke« verweisen auf die Gefährdung der Seele – womöglich auch auf dämonische oder feindselige Mächte. Das Bild ist biblisch geprägt, etwa aus den Psalmen (vgl. Ps 18,5: »Fesseln des Todes«).
Schlaf und Wachen
Der Kontrast von Schlaf und Wachen hat eine spirituelle Tiefendimension. Der Mensch schläft und ist verletzlich, Gott aber »schläfest nicht«. Das Motiv verweist auf die völlige Abhängigkeit des Menschen von göttlichem Schutz – auch in der Ohnmacht des Schlafes.
Herz und Gnade
Das »Herz« als innerster Ort des Fühlens und Glaubens soll geöffnet werden zur Hoffnung. Es ist der Sitz der »Schmerzen / Ob den Sünden«, aber auch der Ort, an dem die »Gnad'« erfahrbar wird – ein typisch pietistisches Motiv, das schon im Barock vorbereitet wird.
Historisch-kultureller Kontext
• Sigmund von Birken (1626–1681), Mitglied des Fruchtbringenden Gesellschaft, war ein bedeutender Vertreter der deutschen Barockliteratur, geprägt von der protestantischen Frömmigkeit, der politischen Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches und den Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648). Die Morgenandacht steht in einer langen Tradition religiöser Gebetsdichtung, wie sie besonders im deutschen Protestantismus gepflegt wurde – als Teil täglicher Frömmigkeit, oft inspiriert von Psalmen oder lutherischen Liedern. Dabei spiegelt sich ein tiefes Bewusstsein für die Gefährdung des Lebens und die unaufhörliche Notwendigkeit göttlicher Bewahrung.
• Das Gedicht steht zwischen Mystik und Dogmatik: Die persönliche Frömmigkeit soll zugleich in die Ordnung der Schöpfung eingebunden sein. Der frühbarocke Sprachstil mit seiner Verbindung von Naturbeobachtung und religiöser Innerlichkeit ist typisch für die damalige protestantische Lyrik.
Lexikalik und Wortfelder
Natur und Tagesbeginn: »Morgensonne«, »vergüld'tem Hügel«, »Luftgeflügel«, »Trift und Auen« – sie evozieren eine konkrete, fast arkadisch-idyllische Landschaft. Das barocke Weltbild verstand Natur nicht als autonom, sondern als Spiegel göttlicher Ordnung.
Klang und Lob: »hüpfet«, »singet«, »krauser Stimm'«, »Loblied«, »Singen«, »Erklingen« – die ganze Schöpfung wird als musikalisches System gedacht, das sich auf Gott hin ausrichtet (eine Art cosmica harmonia).
Gefahr und Rettung: »tausendfache Stricken«, »des Todes Bild«, »Pfeilen, Seilen«, »böser Leute«, »Werk der Nacht« – eine barocktypische Imaginationswelt des Gefährdetseins, der Nacht als Ort des Chaos, dem der rettende Gott entgegensteht.
Gott und Schutz: »Held«, »Hüter«, »starker Schild«, »Schutz«, »Gnadenaug'« – Gott erscheint als aktiver Verteidiger, nicht abstrakt, sondern konkret handelnd.
Seele und Innerlichkeit: »Herzens Thür«, »fest gefaßtem Hoffen«, »meine Schmerzen«, »deine Gnad' empfinden« – es geht um eine Theologie der Innerlichkeit, wie sie pietistische Strömungen später noch radikalisieren werden.
Die Sprache ist typisch barock: anaphorisch (»Dir, dir, dir«), mit umarmenden Bildern und häufigen Alliterationen. Auch die Orthographie (»vergüld't«, »beschämen nicht«) ist zeittypisch.
Metaphysische Implikationen
• Die »Morgenandacht« geht über eine bloß moralisierende Tagesbeginnslyrik hinaus. Sie artikuliert eine fundamentale ontologische Haltung: Der Mensch existiert in einem gefährdeten, unsicheren Zustand (»tausendfache Stricken«, »des Todes Bild«) und ist radikal auf Gottes Gnade angewiesen. Diese Abhängigkeit ist keine Schwäche, sondern die Bedingung für eine geheilte Weltbeziehung. Im Mittelpunkt steht das fideistische Vertrauen auf einen persönlichen Gott, dessen Nähe sich durch Gebet und Lobpreis vermitteln lässt. Das metaphysische Grundmotiv ist ein Wechselspiel von Präsenz und Absenz: Der Mensch erfährt Nacht, Gefahr, Schuld – doch gerade in dieser »Gottesferne« zeigt sich Gott als verlässlicher Hüter. Es handelt sich um eine Theologie der Gegensätze: Nacht und Tag, Schuld und Gnade, Gefahr und Schutz.
• Die Welt ist durchzogen von Zeichen göttlicher Gegenwart – nicht auf eine rational durchdringbare Weise, sondern in Form von Ereignissen, Bildern, Stimmen, Gesängen. Auch die Stimme des Dichters reiht sich in diesen Chor der Schöpfung ein. Es ist eine existenzielle Theologie, aber keine abstrakte Spekulation: Sie bleibt in Sprache, Klang, Bildlichkeit verankert.