Louise Aston
Lied einer schlesischen Weberin
Wenn's in den Bergen rastet,
Der Mühlbach stärker rauscht,
Der Mond in stummer Klage
Durch's stille Strohdach lauscht;
Wenn trüb die Lampe flackert
Im Winkel auf den Schrein:
Dann fallen meine Hände
Müd in den Schooß hinein.
So hab' ich oft gesessen
Bis in die tiefe Nacht,
Geträumt mit offnen Augen,
Weiß nicht, was ich gedacht;
Doch immer heißer fielen
Die Thränen auf die Händ' –
Gedacht mag ich wohl haben:
Hat's Elend gar kein End? –
Gestorben ist mein Vater, –
Vor Kurzem war's ein Jahr –
Wie sanft und selig schlief er
Auf seiner Todtenbahr'!
Der Liebste nahm die Büchse,
Zu helfen in der Noth;
Nicht wieder ist er kommen,
Der Förster schoß ihn todt. –
Es sagen oft die Leute:
»Du bist so jung und schön,
Und doch so bleich und traurig
Sollst du in Schmerz vergehn?« –
»Nicht bleich und auch nicht traurig!«
Wie spricht sich das geschwind
Wo an dem weiten Himmel
Kein Sternlein mehr ich find'!
Der Fabrikant ist kommen,
Sagt mir: »mein Herzenskind,
Wohl weiß ich, wie die Deinen
In Noth und Kummer sind;
Drum willst Du bei mir ruhen
Der Nächte drei und vier,
Sieh' dieses blanke Goldstück!
Sogleich gehört es Dir!«
Ich wußt' nicht, was ich hörte –
Sei Himmel du gerecht
Und lasse mir mein Elend,
Nur mache mich nicht schlecht!
O lasse mich nicht sinken!
Fast halt' ich's nicht mehr aus,
Seh' ich die kranke Mutter
Und's Schwesterlein zu Haus'!
Jetzt ruh'n so still sie alle,
Verloschen ist das Licht,
Nur in der Brust das Wehe,
Die Thränen sind es nicht.
Kannst du, o Gott, nicht helfen,
So lass' uns lieber gehn,
Wo drunten tief im Thale
Die Trauerbirken steh'n! –
Analyse und Interpretation
Louise Astons Gedicht „Lied einer schlesischen Weberin“ (entstanden im Kontext der sozialen und politischen Missstände des 19. Jahrhunderts) stellt ein erschütterndes Zeugnis weiblicher Armut und existenzieller Verzweiflung dar. In eindringlicher lyrischer Sprache lässt Aston eine junge Weberin aus Schlesien selbst zu Wort kommen. Die Stimme der Unterdrückten wird so zum poetischen Ausdruck einer sozialen Anklage.
Es ist kein bloßes Dokument sozialer Not, sondern ein dichterischer Aufschrei gegen die Aushöhlung menschlicher Würde durch Not, Verlust und Ausbeutung. Louise Aston gelingt es, durch die einfache, aber eindringliche Sprache ein weibliches Subjekt zu zeigen, das zwischen Ohnmacht, moralischer Integrität und Verzweiflung steht. Das Gedicht ist nicht nur historisch-politisch relevant, sondern bleibt – durch seine poetische Kraft und existenzielle Tiefe – auch heute erschütternd aktuell.
1. Historischer und biografischer Hintergrund
Louise Aston (1814–1871) war eine politisch engagierte Schriftstellerin, eine der frühen Vertreterinnen feministischen Denkens in Deutschland. In einer Zeit massiver Industrialisierung und sozialer Ungleichheit (etwa zur Zeit der Schlesischen Weberaufstände 1844) engagierte sie sich in Wort und Tat für die Rechte der Armen, insbesondere der Frauen. Ihr Gedicht reflektiert damit nicht nur individuelles Leid, sondern verweist auf kollektive soziale Notstände – besonders im schlesischen Textilproletariat, wo Frauen durch Fabrikarbeit und soziale Isolation doppelt belastet waren.
2. Formale Struktur und Sprache
Das Gedicht ist balladenhaft gestaltet, mit einer regelmäßigen, meist vierzeiligen Strophenstruktur und einem volksliedhaften Tonfall. Der Sprachduktus ist schlicht und klar – was den unmittelbaren Eindruck von Authentizität und Direktheit noch verstärkt. Der Gebrauch von Dialektwörtern oder idiomatischen Wendungen („in den Schooß hinein“, „laß uns lieber gehn“) trägt zur Verankerung im mündlichen Ausdruck des einfachen Volkes bei. Trotz der Einfachheit entfaltet die Sprache durch ihre Bildhaftigkeit eine starke emotionale Wirkung.
3. Inhaltliche Schwerpunkte
a) Die poetische Szenerie der Armut
Die erste Strophe beschreibt ein Bild der Dämmerung und Stille, fast ein Schlaflied für das Elend selbst. Der „Mühlbach“, das „Strohdach“, die „trübe Lampe“ – all das evoziert die ländliche Armut und das bedrückende Schweigen, das über dem Leben der Protagonistin liegt. Die fallenden Hände stehen symbolisch für Erschöpfung und Resignation.
b) Das Motiv des inneren Monologs
Die Erzählerin verliert sich in Gedanken, in „Träumen mit offenen Augen“, die sie selbst nicht mehr fassen kann. Die Zeile „Hat’s Elend gar kein End?“ fungiert als Seufzer, der das ganze Gedicht durchzieht – eine rhetorische Frage, deren Antwort das Leben selbst grausam genug gibt.
c) Tod, Verlust und Gewalt
Die persönlichen Schicksalsschläge verdichten sich: Der Vater ist gestorben, der Geliebte wurde erschossen – beide Männer sind dem Elend auf je eigene Weise entkommen. Der Tod erscheint fast als Erlösung. Gewalt (nicht zuletzt Klassen- oder Staatsgewalt) durchzieht das Leben – nicht spektakulär, sondern schleichend, unentrinnbar.
d) Sexuelle Ausbeutung und moralische Entscheidung
Besonders erschütternd ist die Szene mit dem Fabrikanten. Die junge Frau wird mit einem subtilen Angebot zur Prostitution konfrontiert – verpackt in vermeintliche Hilfe. Der Kontrast zwischen dem „blanken Goldstück“ und dem Wunsch, nicht „schlecht“ zu werden, ist drastisch. Die junge Frau entscheidet sich gegen das Geld, nicht aus Naivität, sondern aus einem verzweifelten moralischen Restwillen: „Nur mache mich nicht schlecht!“ Hier zeigt sich ein zutiefst ethisches Bewusstsein inmitten äußerster Not.
e) Resignation und Suizidgedanken
Das Gedicht endet in apokalyptischer Hoffnungslosigkeit. Die „Trauerbirken“ im Tal symbolisieren den Tod, vielleicht auch ein Grab. Der Ruf an Gott bleibt unbeantwortet: Hilfe wird erbeten, doch es scheint, als bliebe nur der Tod als letzter Ausweg. Das „Wehe in der Brust“ ist die letzte Regung – keine Tränen mehr, nur dumpfer Schmerz.
4. Interpretative Perspektiven
a) Sozialkritik
Aston übt mit diesem Gedicht scharfe Gesellschaftskritik. Die Weberin steht stellvertretend für zahllose verarmte Frauen, deren Leben durch Industrialisierung, Patriarchat und soziale Missachtung zerstört wurde. Der Fabrikant – als Vertreter der besitzenden Klasse – erscheint nicht als Retter, sondern als Ausbeuter in anderer Gestalt.
b) Feministische Lesart
Die Protagonistin wird in mehrfacher Hinsicht zur Projektionsfläche patriarchaler und ökonomischer Gewalt. Ihr Widerstand gegen die „milde Gabe“ des Fabrikanten ist ein Akt weiblicher Würde – jedoch ohne Hoffnung auf Verbesserung. Das Gedicht entlarvt damit auch die Abwesenheit gesellschaftlicher Unterstützung für Frauen in Not.
c) Theologische Dimension
Die Anrufung Gottes wirkt wie ein letzter Halt – doch selbst dieser scheint zu versagen. Das Schweigen Gottes im Angesicht des Leids deutet auf eine tiefgreifende spirituelle Krise. Aston impliziert nicht Atheismus, sondern eine Klage im Sinne Hiobs: Wo ist der Gott der Gerechtigkeit?