Ernst Moritz Arndt
Lied der Rache
1811
Auf zur Rache! auf zur Rache!
Erwache, edles Volk, erwache!
Erhebe lautes Kriegsgeschrei!
Laß in Tälern, laß auf Höhen
Der Freiheit stolze Fahnen wehen!
Die Schandeketten brich inzwei!
Denn der Satan ist gekommen,
Er hat sich Fleisch und Bein genommen
Und will der Herr der Erde sein,
Und die Weisheit tappt geblendet,
Und Mut und Ehre kriecht geschändet
Und will nicht in den Tod hinein.
Und die Wahrheit traurt verstummet,
Die brandgemalte Lüge summet
Frech jede große Tugend an,
Kühn durch Schwert und Henkerbeile
Meint sie, daß seine Donnerkeile
Der Himmel nicht mehr schwingen kann.
Drum zur Rache auf! zur Rache!
Erwache, edles Volk, erwache!
Und tilge weg des Teufels Spott!
Ist er stark durch Lügenkünste,
Du reiße höllische Gespinste
Inzwei durch deinen stärkern Gott:
Durch Gott, vor dem die Teufel zittern,
Wann wild in Schlachtenungewittern
Der Donner durch die Reihen fährt,
Wann die Freien fröhlich sterben,
Tyrannenschädel gleich den Scherben
Zersplittern durch der Tapfern Schwert.
Auf! es gilt die höchsten Fehden,
Die stummen Stöcke möchten reden,
Der stumme Stein Posaune sein,
Faule Berge sich bewegen,
Und ihr nur griffet nicht zum Degen?
Ihr wolltet faul zum Kampfe sein?
Auf! die Stunde hat geschlagen –
Mit Gott dem Herrn wir wollen's wagen:
Frisch in den heil'gen Kampf hinein!
Laßt in Tälern, laßt auf Höhen
Die Fahnen hoch gen Himmel wehen!
Die Freiheit soll die Losung sein!
Analyse
Ernst Moritz Arndts Gedicht „Lied der Rache“ von 1811 ist ein kraftvolles patriotisches Kampflied, das aus der Zeit der napoleonischen Besetzung stammt und zur gewaltsamen Befreiung Deutschlands aufruft. Es ist tief in der politischen, geistigen und emotionalen Atmosphäre der Zeit verwurzelt.
• Ein hoch emotionales, ideologisch aufgeladenes Gedicht, das nationale und religiöse Motive zu einem leidenschaftlichen Aufruf zur Befreiung verbindet. Es bietet einen intensiven Einblick in die Mentalität der Befreiungskriege – zwischen heroischer Freiheitsliebe und gefährlicher Dämonisierung des Gegners.
• Ein leidenschaftlicher Aufruf zum Widerstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Es entstand 1811 in einer Zeit politischer Ohnmacht und nationaler Sehnsucht nach Freiheit im deutschsprachigen Raum. Es gehört zur patriotischen Lyrik der Befreiungskriege und ist sowohl ideologisch als auch stilistisch ein Produkt der frühromantisch-nationalen Bewegung.
• Ein patriotisches Kampflied, das zur Mobilisierung gegen die napoleonische Fremdherrschaft aufruft. Es verbindet religiös-mythologische Vorstellungen, politische Programmatik und ästhetische Stilmittel zu einem rhetorisch kraftvollen Aufruf.
Historischer Kontext
• Das Gedicht entstand 1811 – also während der Besetzung deutscher Gebiete durch Napoleon Bonaparte. Viele Intellektuelle, darunter Arndt, fühlten sich durch die französische Herrschaft entehrt und riefen zum nationalen Widerstand auf. Die Zeit war geprägt von dem Wunsch nach nationaler Einheit, Selbstbestimmung und Befreiung von fremder Unterdrückung.
• Arndt war einer der wichtigsten Stimmen der Frühromantik und des deutschen Nationalismus; er verband religiösen Eifer mit politischem Aktivismus. Dieses Gedicht ist Teil der sogenannten Befreiungspoesie.
Formale Analyse
• Versmaß: kein konsequent durchgehaltenes Metrum, doch stark rhythmisierend (Kampfrhythmus).
• Strophenform: keine strenge Strophenstruktur, eher hymnischer Charakter mit zahlreichen Ausrufezeichen und Imperativen.
• Klang und Rhythmus: eindringlich, aggressiv, martialisch – durch viele Alliterationen, Anaphern, und Klimaxe.
Stilmittel:
• Anapher: „Auf zur Rache! Auf zur Rache!“ – Steigerung des Appells.
• Personifikationen: „die Wahrheit traurt“, „die Lüge summet“.
• Metaphern: „Schandeketten“, „brandgemalte Lüge“, „Teufels Spott“.
• Antithese: Wahrheit vs. Lüge, Mut vs. Schande, Gott vs. Satan.
Inhaltliche Analyse – Strophenweise
Erste Strophe: Aufruf zum Widerstand
> „Auf zur Rache! Erwache, edles Volk!“
• Appellcharakter: Die Bevölkerung soll aus der Passivität erwachen.
• Kriegsgeschrei, Fahnen, Freiheit: Symbole des nationalen Aufbegehrens.
• Schandeketten: Sinnbild der politischen Unterdrückung.
Zweite Strophe: Dämonisierung des Gegners
> „Denn der Satan ist gekommen …“
• Der Feind wird nicht nur als Gegner, sondern als Inkarnation des Bösen dargestellt.
• Der „Satan“ nimmt Fleisch und Bein an: klare Anspielung auf Napoleon.
• Mut, Ehre, Weisheit, Wahrheit: Tugenden, die durch die Besatzung zerstört oder pervertiert sind.
• Gegensatz von Wahrheit und Lüge: Wahrheit ist stumm, Lüge frech.
Dritte Strophe: Rache als göttlicher Auftrag
> „Und tilge weg des Teufels Spott!“
• Rache wird nicht als menschlich-triebhafte Reaktion, sondern als heiliges, göttliches Werk dargestellt.
• Gott als Bündnispartner im Kampf: Eine religiöse Weihe des Widerstands.
• Der Kampf ist metaphysisch aufgeladen – fast apokalyptisch.
Vierte Strophe: Mobilisierung und Appell
> „Die stummen Stöcke möchten reden …“
• Klimax der rhetorischen Dringlichkeit: Sogar lebloses Material will sich gegen das Unrecht erheben.
• Indirekte Anklage an das Volk: „Und ihr nur griffet nicht zum Degen?“
• Appell zur Aktion: Die Stunde ist gekommen.
Schluss: Heiligung des Freiheitskampfes
> „Die Freiheit soll die Losung sein!“
• Der Kampf wird zur heiligen Pflicht erhoben.
• Die Freiheit ist das höchste Gut, das die Nation wiedererlangen muss.
Interpretation
A. Politisch-patriotische Botschaft
Arndt ruft zur nationalen Erhebung gegen die Fremdherrschaft auf. Der Kampf wird als moralisch gerechtfertigt und sogar religiös geboten dargestellt. Frankreich, bzw. Napoleon, erscheint als tyrannischer „Satan“, gegen den sich das „edle Volk“ mit göttlichem Beistand erheben soll.
B. Theologisch-mythologisches Weltbild
Der Text vermischt christliche Mythologie (Satan, Gott, Teufel) mit nationalistischem Pathos. Der Feind wird verteufelt, der Kampf wird in eine eschatologische Perspektive gerückt – es geht nicht bloß um Politik, sondern um den Kampf zwischen Gut und Böse.
C. Psychologische Wirkung
Durch seine eindringliche Sprache, aggressive Metaphorik und rhythmisch wiederholten Appelle entfaltet das Gedicht eine emotionale Wucht, die zur kollektiven Mobilisierung dienen sollte. Es spricht eher das Gefühl als die Vernunft an – im Sinne eines „heiligen Zorns“.
Kritische Würdigung
• Obwohl Arndts Patriotismus aus heutiger Sicht kritisch gesehen werden kann (u.a. wegen seiner späteren antijüdischen Äußerungen), ist dieses Gedicht ein Schlüsseldokument des frühen deutschen Nationalbewusstseins.
• Stärken: Rhetorische Kraft, dichterische Dringlichkeit, symbolische Dichte.
• Schwächen: Schwarz-weiß-Malerei, Aufruf zur Gewalt, theologische Instrumentalisierung.
• Rezeption: Später von nationalistischen und auch militaristischen Strömungen aufgegriffen, etwa in der Zeit des deutschen Kaiserreichs oder im Dritten Reich.
Formale Merkmale
• Versmaß: Zumeist sechshebiger Trochäus mit Auftaktvariation; das Metrum ist kraftvoll und betont, was dem Aufruf-Charakter dient.
• Reimschema: Überwiegend Paarreime (aabbcc) oder variierte Kreuzreime, gelegentlich Binnenreime (z. B. „Lüge summet – Tugend an“).
• Strophenbau: rhythmisch dynamisch, oft steigende Kulmination in der Strophenmitte oder -schlusspointe.
• Klanggestalt: zahlreiche Alliterationen („Freiheit – Fahnen – Fluren“), Assonanzen, Anaphern, Klimax und Exclamatio betonen die leidenschaftliche Tonlage.
Wortwahl & Stilmittel
a) Archaismen & biblischer Ton
• Wörter wie „Fehden“, „Satan“, „Donnerkeile“, „brandgemalt“, „Zersplittern“ evozieren eine apokalyptisch-biblische Bildsprache.
• Die Stilisierung des Feindes (Napoleon) als „Satan in Fleisch und Bein“ erinnert an die Inkarnation des Bösen im Sinne mittelalterlicher Dämonologie.
b) Appellstruktur
• Anaphern wie „Auf zur Rache!“, „Erwache, edles Volk!“ erzeugen eine rhythmische Dringlichkeit.
• Der Text ist imperativisch durchformt: „reiße“, „tilge“, „greifet“, „wagt“, „laßt wehen“ – das lyrische Ich tritt fast vollständig zurück zugunsten eines kollektiven, anfeuernden Sprecherstandpunkts.
c) Metaphorik und Allegorie
• Die Freiheit erscheint als Fahne, als Losung, als göttlicher Auftrag – sie wird personifiziert und sakralisiert.
• Die Lüge ist „brandgemalt“ (teuflisch), Wahrheit „traurt verstummet“, Ehre „kriecht geschändet“ – das sind starke, personifizierende Metaphern, welche die moralische Verkehrung des Weltzustands zeigen sollen.
• Die göttliche Instanz ist nicht stiller Richter, sondern ein Gott, „vor dem die Teufel zittern“ – das verweist auf alttestamentarische Rachemotive.
Sprachregister und Tonalität
• Pathosgeladen, hochstilisiert, emphatisch, teils prophetisch.
• Verwendet ein hohes, fast hymnisches Sprachregister, das patriotische Leidenschaft mit religiösem Eifer verbindet.
• Es gibt kaum narrative oder reflektierende Passagen – alles ist Aktion, Appell, Ausruf, Kampf.
• Der Text evoziert durch seinen spracherhitzten Ton ein „heiliges Kriegsgefühl“, das zwischen messianischer Erlösung und martialischem Furor pendelt.
Philologische Einzelbeobachtungen
• „Er hat sich Fleisch und Bein genommen“ | Parodie der christlichen Inkarnation – Napoleon wird zur Anti-Christus-Figur.
• „brandgemalte Lüge“ | Möglicherweise Anspielung auf die Höllenmalerei mittelalterlicher Bilder – visualisierte Verderbtheit.
• „Donnerkeile“ | Altgermanisch, mythologisch: Waffe des göttlichen Zorns, vgl. Donar/Thor.
• „Die stummen Stöcke möchten reden, der stumme Stein Posaune sein“ | Hyperbolische Metapher: selbst Lebloses ruft nach Widerstand – erinnert an Lukas 19,40 („…wenn sie schweigen, werden die Steine schreien“).
• „Frisch in den heil’gen Kampf hinein“ | Konnotation eines Gotteskrieges, womit das Töten religiös gerechtfertigt wird.
Sprachhistorischer Kontext
• Die Sprache des Gedichts ist typisch für den deutschen Nationaldiskurs um 1800, in dem die Unfreiheit nicht nur als politische, sondern als metaphysische Anomalie verstanden wird.
• Arndt nutzt eine germanisierende, bewusst antiklassizistische Ausdrucksweise, um sich vom französischen Einfluss (sprachlich wie politisch) abzugrenzen.
• Die häufige Verwendung starker Verben, substantivischer Abstrakta und militärischer Begriffe zeigt eine sprachliche Männlichkeitsinszenierung im Dienst der Nation.
• „Lied der Rache“ ist ein Musterbeispiel für die versprachlichte Ideologie des Nationalkampfes in dichterischer Form. Die Sprache ist nicht Ausdruck individueller Lyrik, sondern ein rhetorisches Instrument der kollektiven Mobilisierung.
• In philologischer Hinsicht zeigt sich, wie Arndt eine mittelalterlich-biblische und mythologische Semantik mit dem Vokabular der Romantik (Volk, Natur, Freiheit, Gott) zu einer politisch-kämpferischen „Heilslyrik“ verbindet.
Thema und Intention
Arndts Lied ist ein agitatorischer Text, der das Volk zur gewaltsamen Erhebung gegen Napoleon auffordert. Es ist zugleich:
• Aufruf zur Rache für die nationale Schmach,
• Verteidigung der Wahrheit und Tugend,
• und religiös fundierter Kampf gegen das Böse, das hier konkret mit Napoleon und allgemein mit dem Teufel identifiziert wird.
• Der Text ist dabei sowohl prophetisch, militärisch, als auch religiös-moralisch aufgeladen.
Semantische Felder
Das Gedicht operiert mit mehreren bedeutungstragenden Wortfeldern:
a) Krieg / Kampf / Gewalt
• „Kriegsgeschrei“, „Schwert“, „Henkerbeile“, „heil’ger Kampf“, „Schlachtenungewitter“, „Tapfern Schwert“
• Diese Begriffe konnotieren nicht nur militärische Gewalt, sondern auch eine sakrale Aufladung des Kampfes: Es handelt sich nicht um bloßen Krieg, sondern um einen heiligen, gottgewollten Akt der Gerechtigkeit.
b) Freiheit / Volk / Tugend
• „Freiheit“, „edles Volk“, „große Tugend“, „Mut und Ehre“
• Der Freiheitsbegriff ist ethisch-moralisch überhöht; das „Volk“ wird als Träger einer höheren Wahrheit angesprochen, die gegen das Böse aufstehen muss.
c) Lüge / Teufel / Unterdrückung
• „Satan“, „Lüge“, „Teufels Spott“, „Schandeketten“, „brandgemalte Lüge“
• Die Fremdherrschaft wird dämonisiert – Napoleon erscheint nicht nur als politischer Gegner, sondern als Inkarnation des Teufels. Wahrheit und Tugend werden durch Lüge und Gewalt unterdrückt.
d) Gott / Religion / Transzendenz
• „Gott“, „heil'ger Kampf“, „der Donner durch die Reihen fährt“, „der Himmel“
• Gott wird als höchste Instanz angerufen, nicht als Tröster, sondern als Kriegsgott, der gerecht straft. Das macht den Aufstand zu einer quasi-religiösen Handlung.
Mythisch-religiöse Tiefenstruktur
• Das Lied stellt die politische Situation in apokalyptische Kategorien:
• Gut gegen Böse: Gott vs. Satan.
• Prophetisches Erwachen: „Erwache, edles Volk“ – fast ein messianischer Tonfall.
• Kosmische Dimension: „Die stummen Stöcke möchten reden“ – die ganze Schöpfung schreit nach Gerechtigkeit.
• Diese Struktur erinnert an biblische Texte wie Offenbarung, Psalmen und Prophetenbücher, jedoch in den Dienst eines modernen nationalen Befreiungskampfes gestellt.
Rhetorische Mittel
• Anapher: „Auf zur Rache! auf zur Rache!“, „Laßt in Tälern, laßt auf Höhen“ – Verstärkung des Appells.
• Metaphern: „Schandeketten“, „brandgemalte Lüge“, „Teufels Spott“ – plastische Bilder für Unterdrückung.
• Personifikation: „Die Wahrheit traurt verstummet“, „die Lüge summet“ – moralische Qualitäten als handelnde Subjekte.
• Hyperbeln: „Tyrannenschädel zersplittern“, „Faule Berge sich bewegen“ – zur Steigerung der Dringlichkeit.
Politische Dimension und Ideologie
Arndts Gedicht ist Teil der frühnationalistischen Literatur, die:
• Frankreich als Feindbild stilisiert (v.a. Napoleon),
• das deutsche Volk als moralisch überlegen darstellt,
• und gewaltsamen Widerstand religiös legitimiert.
• Es ist ein Vorläufer der späteren völkisch-ideologischen Literatur, noch aber aus einer konkreten historischen Erfahrung (der napoleonischen Besatzung) heraus entstanden.
Kontraststruktur
Die Welt ist klar in Dualismen aufgeteilt:
• Licht / Gott / Wahrheit | Dunkel / Satan / Lüge
• Freiheit | Schandeketten |
• Mut und Ehre | Kriechen, Feigheit |
• Tapfere, Freie | Tyrannen |
• Diese einfache Moralstruktur macht das Gedicht zu einem mobilisierenden Instrument, es appelliert nicht an Vernunft, sondern an Pathos und Empörung.
Historischer Kontext
1811 – Deutschland war zu großen Teilen von Napoleon besetzt oder kontrolliert. Arndt war Teil der preußisch-nationalen Befreiungsbewegung, die sich auf ethnisch-kulturelle Einheit und Widerstandskraft berief. Das Gedicht entstand also vor den Befreiungskriegen (1813–1815), als Stimmungsaufheizer und Vision einer kommenden Erhebung.
Fazit
„Lied der Rache“ ist ein kraftvoller Text, der religiöse Symbolik, nationale Empörung und revolutionäres Pathos verbindet. Seine semantische Tiefe liegt in der Verknüpfung von Mythos und Politik, von Theologie und Nation. Es ist zugleich ein Dokument seiner Zeit und ein Beispiel dafür, wie Sprache zur Mobilisierung und Ideologisierung eingesetzt wird.