Or va, ché un sol volere è d'ambedue:
tu duca, tu segnore, e tu maestro».
Così li dissi; e poi che mosso fue,
intrai per lo cammino alto e silvestro.
poetisch-elegant
Nun geh, denn ein Wille ist unser beider Entschluss:
du bist mein Führer, mein Herr und mein Lehrer.
So sprach ich zu ihm; und als er sich auf den Weg machte,
betrat ich den Pfad, der hoch und wild war.
wörtlich-nüchtern
Geh jetzt, denn einer ist der Wille von uns beiden:
du bist Führer, Herr und Lehrer.
So sprach ich zu ihm; und nachdem er aufbrach,
trat ich ein auf den steilen und wilden Weg.
frei, dramatisierend
Geh voran – denn unser Wille ist eins:
du bist mein Führer, mein Gebieter und mein Mentor.
So sprach ich – und als er sich in Bewegung setzte,
trat ich ein in jenen hohen, wilden Pfad.
Analyse
Diese vier Verse beschreiben den entscheidenden Augenblick von Dantes Übergang vom Zweifel zum Handeln. Der innere Widerstand ist überwunden, Vertrauen in den Führer hergestellt. Sprachlich verdichtet sich hier eine ganze geistige Haltung: Gehorsam gegenüber der Ratio, Bereitschaft zur Prüfung, ein Sich-Anvertrauen, das an das Mönchsideal erinnert. Die Reise beginnt nicht nur geografisch, sondern seelisch.
Canto 2 des Inferno ist nicht nur ein psychologisch dichter Text, sondern auch ein mystischer Schwellenraum. Dante steht vor der Reise des Selbst durch Finsternis zur Läuterung – ganz im Sinne der negativen Theologie. Der Zweifel des Anfangs, die weibliche Gnadenordnung, die Hingabe an den Führer – all das weist Dante als Teil einer spirituellen Tradition aus, die er mit der dichterischen Kraft der Commedia neu formt. Im Vergleich zur Mystik anderer Zeiten und Kulturen wird deutlich: Dantes Reise ist universell in ihrer Tiefe – eine »Commedia« des göttlichen Willens, der den Menschen durch Liebe rettet.
Vers 139: "Or va, ché un sol volere è d'ambedue"
"Nun geh, denn ein Wille ist unser beider Entschluss":
Hier spricht Dante seine innere Zustimmung zu Virgils Führung aus. »Un sol volere« ist eine Formel, die nicht nur Einigkeit betont, sondern fast eine mystische Übereinstimmung signalisiert – wie ein Einklang von Intellekt und göttlicher Fügung. Der Vers ist entscheidend: Er markiert die Schwelle vom Zögern zur aktiven Entscheidung, vom bloßen Hören auf das Tun.
Der Ausdruck erinnert an Liebesdichtung, in der »ein Wille« als Einheit von Liebenden beschrieben wird – hier aber ist es eine metaphysische, geistige Einheit mit dem geistigen Führer.
Vers 140: "tu duca, tu segnore, e tu maestro"
"du bist Führer, Herr und Lehrer":
Diese dreifache Anrede verleiht Virgil höchste Autorität.
Duca (Führer): Die politische und praktische Leitung.
Segnore (Herr): Ein Ausdruck von Respekt und Unterordnung.
Maestro (Lehrer): Hinweis auf Virgils Rolle als Erzieher, moralischer und intellektueller Mentor.
Die Anordnung hat einen crescendoartigen Effekt. Die Anrufung in dreifacher Funktion verleiht Virgil fast etwas Sakrales – und steht zugleich in Kontrast zur christlichen Dreifaltigkeit, die später im Paradiso eine zentrale Rolle spielt. Hier ist Virgil der menschliche, vernunftbasierte Führer.
Vers 141: "Così li dissi; e poi che mosso fue,"
"So sprach ich zu ihm; und als er sich in Bewegung setzte":
Ein einfacher Übergangsvers – aber wichtig, denn er betont, dass Dante sich nicht selbst in Bewegung setzt, sondern auf das Zeichen des Führers wartet. Das ist Ausdruck der klassischen Tugend der docilitas, der Bereitschaft, sich leiten zu lassen.
Vers 142: "intrai per lo cammino alto e silvestro."
"trat ich ein auf den steilen und wilden Weg":
Hier beginnt die eigentliche Reise. Alto (hoch/erhaben) und silvestro (wild/waldig) verbinden zwei Dimensionen:
Alto verweist auf den moralisch-geistigen Anspruch und auf die Größe des Vorhabens.
Silvestro spielt auf das Unzivilisierte, das Unbekannte und Furchterregende an.
Diese letzte Zeile ist ein poetisches Echo der berühmten ersten Szene des Inferno, wo Dante sich in einem finsteren Wald verirrt – nun aber tritt er bewusst in einen Wald ein, geleitet von der Vernunft (Virgil). Die Zeile hat auch eine archaisch-mystische Qualität: Der Weg führt in eine Welt, die außerhalb der bekannten Ordnung liegt.
Gesamtinterpretation von Canto 2
Der zweite Gesang des Inferno bildet ein Übergangskapitel zwischen Dantes anfänglicher Verwirrung im dunklen Wald (Canto 1) und dem eigentlichen Abstieg in die Hölle ab Canto 3. Es ist ein Canto der inneren Bewegung, des Zweifels, der Gnade – und der Berufung. Er ist zutiefst psychologisch und spirituell aufgeladen.
1. Die seelische Lage Dantes
Dante befindet sich am Vorabend der Reise durch das Jenseits. Obwohl er durch Vergil zur Rettung aufgerufen wurde, überfällt ihn plötzliche Angst: Bin ich überhaupt würdig? Er vergleicht sich mit Aeneas (der in die Unterwelt stieg, um Rom zu gründen) und Paulus (der das Dritte Himmelreich erfuhr). In dieser Selbsteinordnung sieht man Dantes ambivalentes Selbstbild: einerseits seine Ehrfurcht vor göttlicher Ordnung, andererseits ein wachsendes Bewusstsein für seine poetisch-prophetische Mission.
2. Die göttliche Vermittlung
Dantes Zweifel werden von Vergil mit einer trinitarisch strukturierten Rettungserzählung beantwortet: Beatrice stieg aus dem Himmel herab, bewegt von der Jungfrau Maria, die wiederum durch Lucia (die Lichtträgerin) gewarnt wurde. Diese weibliche Trias (Maria – Lucia – Beatrice) bildet ein Gegenbild zur späteren Höllen-Trinität (Lucifer, Judas, Brutus/Cassius) und verankert die Rettung Dantes in einer Kette weiblicher Fürsorge und göttlicher Gnade. Die Szene ist ein Höhepunkt mittelalterlicher Mariologie und Gnadenmystik.
3. Der Entschluss
Zeile 139–142 markieren den Moment, in dem Dante seine Angst überwindet. Die berühmte Formel:
»Or va, ché un sol volere è d'ambedue:
tu duca, tu segnore, e tu maestro«
zeigt die völlige Hingabe an Vergil. Es ist die Übergabe des Willens, ein Akt der Führung und des Vertrauens. Der abschließende Vers 142 – "intrai per lo cammino alto e silvestro" – ist programmatisch: Der Weg ist hoch (spirituell erhaben) und wild (unwegsam, gefährlich). Es beginnt eine »via mystica« im negativen Sinn: durch das Dunkel zur Lichtschau.
Vergleich mit mystischer Literatur
Canto 2 steht an der Schwelle zur Nachtseite der Gotteserkenntnis. Gerade darin lässt sich eine enge Verwandtschaft zur mystischen Literatur erkennen, etwa:
1. Johannes vom Kreuz – Die dunkle Nacht der Seele
Wie Dante erlebt auch der spanische Mystiker eine »noche oscura«, in der der Mensch sich Gott nähert, indem er durch das Verlassen von Sinnen, Welt und Ich geht. Die Angst Dantes vor dem Weg und seine Unwürdigkeit korrespondieren mit dem passiven Zustand der »dunklen Nacht«, in der Gott den Menschen reinigt durch Entzug. Der Trost kommt auch bei Johannes indirekt, durch das innerlich erfahrene Wirken der Gnade.
2. Meister Eckhart – Abgeschiedenheit und Gelassenheit
Dantes Hingabe an Vergil (»tu duca, tu segnore...«) erinnert an das mystische Ideal der Gelassenheit, bei dem der eigene Wille Gott übergeben wird. Bei Eckhart ist dies ein Akt tiefer innerer Freiheit: Nicht mehr das Ich regiert, sondern Gott in der Seele. Vergil ist für Dante in diesem Moment ein »mystischer Führer« – nicht Gott selbst, aber ein Mittler zu Gott.
3. Hildegard von Bingen – Vision und Auftrag
Wie Hildegard erhält Dante einen quasi-prophetischen Auftrag, der durch eine Vision (in diesem Fall durch Beatrices Eingreifen) vermittelt wird. Die mystische Erfahrung ist nicht Selbstzweck, sondern Berufung. Auch Hildegard musste zunächst gegen Angst und Zweifel ankämpfen, bevor sie ihre göttliche Mission akzeptieren konnte.
4. Islamische Mystik (Sufismus) – z. B. bei Rūmī oder al-Ghazālī
Der Weg Dantes in die Hölle ähnelt der ṭarīqah, dem Weg des Mystikers zu Gott, der durch »Fana« (das Auflösen des Egos) und Dunkelheit führt. Die göttliche Liebe, die Beatrice symbolisiert, hat Ähnlichkeiten zur maḥabba im Sufismus, jener brennenden Liebe, die den Suchenden zu Gott führt – auch gegen Vernunft und Angst.