Tu m'hai con disiderio il cor disposto
sì al venir con le parole tue,
ch'i' son tornato nel primo proposto.
poetisch-elegant
Du hast mein Herz mit Sehnsucht so erfüllt,
durch deine Worte, dass ich nun erneut
den ersten Vorsatz mutig mir erbild'.
wörtlich-nahe, nüchtern
Du hast mein Herz mit Verlangen so bereit gemacht
zum Gehen durch deine Worte,
dass ich zu meinem ersten Entschluss zurückgekehrt bin.
innerlich-bewegt, expressiv
Dein Wort hat mein Herz im tiefsten Wunsch erweckt,
so sehr, dass ich mich wieder finde
bei jenem ersten Willen, loszugehen.
Analyse
Diese drei Verse markieren einen zentralen Moment im Dialog zwischen Dante (der Pilger) und Vergil im zweiten Gesang der Commedia, kurz vor Beginn der eigentlichen Höllenreise. Dante steht innerlich zwischen Furcht und Mut, und durch die Worte Vergils – der ihm im Namen dreier Frauen (Maria, Lucia und Beatrice) erscheint – fasst er neuen Entschluss.
Die Verse stehen am Ende von Dantes Zögern in Inferno II: Er fürchtet sich davor, die Reise ins Jenseits anzutreten, weil er sich ihres Ausmaßes und seiner eigenen Unwürdigkeit bewusst ist. Doch nach Vergils Erzählung von der dreifachen Sendung Beatrices, Lucias und der Madonna sagt Dante diese Worte – eine Wende hin zur Bereitschaft und zum Gehorsam. Diese Stelle ist theologisch und mystisch reich aufgeladen.
Die Verse zeigen einen entscheidenden Umschwung: Nicht aus Selbsterkenntnis, sondern durch eine übernatürliche Bewegung wird Dante innerlich verwandelt. Die Begriffe gratia praeveniens und timor reverentialis helfen, diesen Umschwung theologisch zu fassen, während die mystische Literatur Parallelen für die seelische Dynamik bietet: ein göttliches Verlangen wird ins Herz gelegt, das aus der Ehrfurcht heraus zu einer vertrauenden Bereitschaft wird. Die Reise beginnt nicht in Stärke, sondern in empfangender Schwäche.
Vers 136: "Tu m'hai con disiderio il cor disposto"
"Tu m'hai...": Die direkte Anrede an Vergil unterstreicht die persönliche Beziehung und die emotionale Wirkung.
"con disiderio il cor disposto": Das Bild ist fast wie ein inneres Umrüsten – das Herz, zuvor gelähmt von Furcht, ist nun disposto (bereitgestellt, bereit gemacht) durch das disiderio (Sehnsucht, Verlangen).
Das Wort disiderio hat eine tiefe etymologische und mystische Konnotation (lateinisch: de-siderare – »etwas entbehren, das von den Sternen kommt«), die auf den metaphysischen Zug der Reise verweist.
Vers 137: "sì al venir con le parole tue"
"sì al venir": "so sehr zum Kommen" – der Ausdruck beschreibt die Intensität der Wirkung: Dante ist zum Gehen bereit, zur Reise in die Unterwelt.
"con le parole tue": Die Sprache, das Wort, hat transformierende Kraft. Hier ist es die Rede Vergils, in der auch die göttlich-weibliche Initiative (Beatrice) erscheint. Sprache als Medium der Erlösung.
Vers 138: "ch'i' son tornato nel primo proposto."
"son tornato": Wiederkehr zu einem inneren Entschluss. Das Verb "tornare" hebt hervor, dass der ursprüngliche Vorsatz bereits existierte, aber durch Zweifel verloren ging.
"primo proposto": Der erste Plan – Dantes Wunsch, den rechten Weg zu finden, das Gute zu erkennen, sein Heil zu suchen. Dieser Wille war im ersten Gesang geschwächt, wird jetzt jedoch durch göttliche Gnade (vermittelt durch menschliche und übermenschliche Figuren) erneuert.
Thematische Bedeutung im Gesamtzusammenhang
Diese Verse sind ein Wendepunkt des inneren Dramas: Sie markieren die Konversion des Willens, ohne die kein metaphysischer Aufstieg möglich ist. Dante hat gezögert – trotz der Einladung zur Reise –, und nun, durch das Wort eines poetischen Vernunftbildes (Vergil) und die Gnade dreier himmlischer Frauen, erneuert er seinen Vorsatz.
Es ist auch eine poetologische Aussage: Sprache (le parole tue) kann Herz und Richtung des Menschen verwandeln – ein Schlüsselgedanke für die ganze Commedia.
Im Licht theologischer Konzepte
a) Gratia praeveniens (vorausgehende Gnade)
Dieser Begriff aus der Scholastik beschreibt eine göttliche Gnade, die dem menschlichen Willen zuvorkommt, ihn erleuchtet und zum Guten hin bewegt. In Inferno II hat Dante noch gezögert. Erst durch Vergils Rede, die auf die von oben kommende Initiative verweist – Maria sendet Beatrice, Beatrice sendet Vergil – wird Dante »disposto«: bereit gemacht.
Vers 136–138 zeigen nicht bloß eine rationale Entscheidung Dantes, sondern einen durch Gnade verwandelten Willen. Das »disiderio« ist nicht selbstgemacht, sondern geweckt: »Tu m'hai con disiderio il cor disposto« – das Herz wird nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch den anderen (Vergil als Gnadeninstrument) bereit gemacht. Dies spiegelt die gratia praeveniens wider: die göttliche Initiative, ohne die keine Bewegung zum Guten möglich ist.
b) Timor reverentialis (ehrfürchtige Furcht)
Dantes anfängliche Weigerung, das Abenteuer zu wagen (V. 31–42), hat weniger mit bloßer Angst vor dem Tod zu tun als mit einem tiefen Gefühl der Unwürdigkeit. Dies ist kein timor servilis (knechtische Furcht vor Strafe), sondern ein timor reverentialis – die Furcht dessen, der weiß, wie groß das, wozu er gerufen ist, und wie klein er selbst ist.
Als Dante dann am Ende des Canto sagt, dass er sich nun dem »primo proposto« (dem ursprünglichen Vorsatz) wieder zuwendet, wird klar: Die Furcht ist nicht überwunden durch Selbstsicherheit, sondern durch Vertrauen auf die göttliche Führung. Die Furcht bleibt als Element der Demut bestehen, aber sie ist nun von Gnade durchdrungen.
Im Vergleich mit mystischen Autoren
Die Verse erinnern in Motivik und innerer Dynamik an zentrale Gedanken der christlichen Mystik.
a) Johannes vom Kreuz – La noche oscura
Auch bei Johannes ist der Weg zur Gottesvereinigung durch Dunkelheit und Furcht geprägt. Doch das Herz wird durch die llama de amor viva – die lebendige Liebesflamme – verwandelt. Dantes disiderio entspricht dieser durch Gnade entzündeten Bewegung: Der Mensch erkennt seine Ohnmacht, doch durch ein von Gott gewecktes Verlangen lässt er sich führen – selbst durch »dunkle Nacht«.
Wie bei Johannes ist auch bei Dante das »erste Vorhaben« (primo proposto) nicht bloß ein Plan, sondern eine durch Gnade eingepflanzte Berufung, der man sich zunächst nicht gewachsen fühlt.
b) Meister Eckhart – Abgeschiedenheit und Durchbruch
Eckharts Vorstellung der Abgeschiedenheit (abegescheidenheit) – der Loslösung vom Eigenwillen – korrespondiert mit Dantes Wandlung. Erst durch das Loslassen seines selbstbestimmten Urteils (er sei nicht Aeneas, nicht Paulus) und durch die Öffnung für den göttlichen Ruf, vermittelt durch Beatrice und Vergil, wird der Weg frei.
Das »disiderio« in Vers 136 ist bei Eckhart vergleichbar mit dem »Durchbruch«: einem inneren Vollzug, der nicht aus Anstrengung hervorgeht, sondern aus einer radikalen Öffnung für das göttliche Wirken. Der »erste Vorsatz« Dantes könnte bei Eckhart als Rückkehr in den Seelengrund gelesen werden – den Ort, an dem Gottes Wille und der des Menschen eins sind.
c) Hadewijch von Antwerpen – Minne als göttlicher Ruf
Die durch die Rede Vergils in Dante entflammte Sehnsucht (disiderio) hat Ähnlichkeit mit Hadewijchs Erfahrung der Minne. Auch sie beschreibt den Zustand, dass der Mensch durch die Begegnung mit göttlicher Liebe zur Antwort gerufen wird – nicht in der Selbstverwirklichung, sondern in der Hingabe an eine Bewegung, die ihn übersteigt.
In diesem Sinne ist Vergils Erzählung der göttlichen Initiative Ausdruck einer mystischen Vermittlung: Sie weckt das verlangen (bei Hadewijch oft gleichgesetzt mit disire), das nicht aus dem Subjekt kommt, sondern Zeichen der Berührung Gottes ist.