«Oh pietosa colei che mi soccorse!
e te cortese ch'ubidisti tosto
a le vere parole che ti porse!
poetisch-elegisch
O wie barmherzig jene, die mir beistand!
Und du – so edelmütig, gehorchtest sogleich
den wahren Worten, die sie dir vertraute!
nüchtern-interpretativ
Wie voll Erbarmen war die, die mir zu Hilfe kam!
Und wie bereitwillig warst du, den Worten zu folgen,
die sie dir in Wahrheit überbrachte!
emotional-intim
O du Mitleidvolle, die mir beigestanden hat!
Und auch dir, du Freundlicher,
der du ohne Zögern ihren wahren Worten folgtest!
Analyse
Diese Verse stehen am Ende des zweiten Gesangs der Commedia, kurz bevor Dante und Vergil ihre Reise durch die Hölle antreten. Der Sprecher ist Dante selbst, der Vergil dankt – und indirekt auch Beatrice. Hier verschmelzen Emotion, Theologie und höfische Kultur zu einem dichten Bedeutungsraum.
Vers 133: »Oh pietosa colei che mi soccorse!«
»pietosa« – Ein Schlüsselwort, das nicht nur Mitleid meint, sondern auch das theologische Konzept der göttlichen Barmherzigkeit impliziert. Es erinnert an das mittelalterliche »pietas«, das sowohl Mitgefühl als auch eine spirituelle, tugendhafte Haltung umfasst.
»colei che mi soccorse« – Gemeint ist Beatrice. Sie hat im Himmel von Dantes Verlorenheit erfahren und Lucia (die Heilige der Sehkraft) gebeten, der Madonna von Dantes Not zu berichten. Die himmlische Rettungskette führt letztlich dazu, dass Vergil entsandt wird. Das »soccorso« (Hilfe) ist also nicht nur praktisch, sondern metaphysisch – eine gratia preveniens, eine vorauseilende Gnade.
→ Der Vers ist Ausdruck tiefster Dankbarkeit für eine übermenschliche Rettung, die Dante als von göttlicher Initiative getragen erkennt.
Vers 134: »e te cortese ch'ubidisti tosto«
»cortese« – Der Ausdruck bezieht sich auf Vergil und spielt auf die cortesia an, ein zentrales Konzept der mittelalterlichen Ritterlichkeit und Tugend. Bei Dante steht »cortese« oft für den edlen, tugendhaften Menschen, der seine Fähigkeiten in den Dienst des Guten stellt.
»ubidisti tosto« – Das schnelle Gehorchen, das unmittelbare Handeln ist Ausdruck von Vergils innerer Haltung. Es geht nicht um blinden Gehorsam, sondern um eine geistige Bereitschaft zur Hilfe im Dienste der göttlichen Ordnung. Tosto unterstreicht die Eile, mit der Vergil handelt – ohne Zögern, mit »promptitudine«, wie es in der Scholastik heißt.
→ Vergil ist nicht nur Werkzeug der Rettung, sondern wird hier als moralischer Held dargestellt – einer, der ethische Größe mit Demut vereint.
Vers 135: »a le vere parole che ti porse!«
»vere parole« – Das Adjektiv vero ist bei Dante schwerwiegend. Es bedeutet nicht nur »wahr« im faktischen Sinne, sondern trägt auch den metaphysischen Sinn von veritas, also »Wahrheit« als göttlicher Wesenszug. Die Worte, die Beatrice spricht, sind wahr, weil sie im Einklang mit der göttlichen Ordnung stehen.
»che ti porse« – Das Verb porgere (darreichen, anbieten) wird hier als ein Akt des Schenkens dargestellt. Die Worte sind Gabe und Auftrag zugleich. Sie tragen Wahrheit und fordern Gehorsam – in einem Sinne, der die geistige Hierarchie zwischen Beatrice, der Trägerin der göttlichen Weisheit, und Vergil, dem heidnischen Dichter, sichtbar macht.
→ Der Vers zeigt das Zusammenspiel von himmlischer Weisung und menschlicher Ausführung – eine miniaturisierte Darstellung des zentralen Themas der ganzen Commedia: das Zusammenwirken von Gnade und menschlichem Willen.
Zusammenfassung der zentralen Motive:
Beatrice als Symbol der göttlichen Gnade, Weisheit und Barmherzigkeit.
Vergil als Ideal der ratio illuminata, der vom Licht der göttlichen Wahrheit durchdrungenen Vernunft.
Dankbarkeit Dantes – nicht nur emotional, sondern metaphysisch, weil er den Zusammenhang zwischen Rettung und göttlichem Willen erkennt.
Theologisch: Ausdruck von gratia, liberum arbitrium, und divina providentia.
Literarisch: Übergang vom Vorspiel (Canto I–II) zur eigentlichen katabasis – dem Abstieg in die Hölle.