Quali fioretti dal notturno gelo
chinati e chiusi, poi che 'l sol li 'mbianca
si drizzan tutti aperti in loro stelo,
bildlich-poetisch
Wie Blümchen, vom nächtlichen Frost gebeugt,
geschlossen, doch wenn sie die Sonne bescheint,
sich aufrichten, geöffnet an ihrem Stängel,
näher am Wortsinn, leicht poetisch
Wie Blümlein, vom nächtlichen Frost geneigt
und fest verschlossen, dann, wenn die Sonne sie hellt,
sich aufrichten, geöffnet in ihrem Stiel,
nüchtern und klar
Wie kleine Blumen, vom Frost der Nacht gebeugt
und geschlossen, die, wenn die Sonne sie bescheint,
sich aufrichten, ganz geöffnet an ihrem Stiel,
Analyse
Diese drei Verse sind Teil einer großartigen Simile, mit der Dante den Moment beschreibt, in dem er sich durch Beatrices Zuspruch (über Vergil vermittelt) ermutigt fühlt, seiner Angst zu trotzen und seine »geistige Blume« wieder aufzurichten.
Nicht bloß ein dekoratives Naturbild, sondern ein inneres Gleichnis für die Wirkung der Gnade. Dante beschreibt seinen Zustand in der Sprache mystischer Erfahrung: vom Zweifel »erfroren«, durch göttliche Initiative »erleuchtet« und »aufgerichtet«. Dieses Motiv – die Öffnung der Seele durch übernatürliches Licht – ist zentral in der gesamten Commedia und findet tiefe Resonanz in mystischer Literatur quer durch Kulturen.
Vers 127: "Quali fioretti dal notturno gelo"
Quali fioretti – »Wie kleine Blümchen«: Die Diminutivform fioretti ruft etwas Zartes, Verletzliches hervor – passend für den innerlich erschütterten Dante.
dal notturno gelo – »vom nächtlichen Frost«: Nacht und Kälte stehen allegorisch für Angst, Zweifel, Erstarrung – genau das, was Dante zuvor erlebt hatte, als er zögerte, seinen Weg ins Jenseits anzutreten.
Vers 128: "chinati e chiusi, poi che 'l sol li 'mbianca"
chinati e chiusi – »geneigt und geschlossen«: Die Blumen symbolisieren Rückzug, Schutz, Rückkehr in sich selbst – wie Dante, der am Rand des Abenteuers zögert.
poi che 'l sol li 'mbianca – »wenn die Sonne sie bescheint«: Die Sonne ist das Licht der Erkenntnis, der göttlichen Gnade, in diesem Fall durch Beatrices Mitgefühl vermittelt. 'mbianca (wörtl. »weiß macht«) steht poetisch für das Erhellen, das Überziehen mit Licht – ein auratischer Moment.
Vers 129: "si drizzan tutti aperti in loro stelo"
si drizzan – »sie richten sich auf«: Wiedererhebung, Rückkehr zu Kraft und Form – psychologisch und spirituell. Dante fasst Mut.
tutti aperti – »ganz geöffnet«: Nicht nur physisch, sondern innerlich geöffnet – zur göttlichen Botschaft hin.
in loro stelo – »an ihrem Stängel«: Auch diese biologische Genauigkeit hat symbolische Tiefe – der Mensch richtet sich »in seiner Natur« auf, findet zurück zur ihm angemessenen Haltung.
Allegorische und psychologische Bedeutung
Diese Stelle ist ein Schlüssel zur Commedia insgesamt: Es geht darum, wie der Mensch unter der Wirkung von Gnade (repräsentiert durch Beatrice, durch das Licht) sich aus dem Zustand der inneren Verschlossenheit und Dunkelheit erhebt. Die Blume, ein zentrales Bild der mittelalterlichen Mystik und Mariologie, steht hier für das menschliche Herz oder die Seele – zart, aber fähig, sich dem Licht Gottes zu öffnen.
Dantes Erhebung nach Beatrices Intervention stellt einen Akt der Gnade dar, aber auch einen der freien Zustimmung – wie bei einer Blume, die sich dem Licht »von selbst« öffnet, wenn die äußeren Bedingungen stimmen.
ZUSAMMENHANG MIT DEM CANTO II
Canto II ist der sogenannte »canto proemiale« zur Höllenreise: Dante zögert, hat Angst, sich auf den Weg durch das selva oscura zu begeben. Er zweifelt an seiner Würdigkeit, den Weg zu gehen, den einst Aeneas und Paulus gegangen sind. Er nennt sich selbst non Enea, non Paolo (V.32).
Die entscheidende Wende kommt mit Virgils Rede, in der er schildert, wie Beatrice, Lucia und Maria für Dante Fürsprache einlegten. Diese Szene ist der erste große Akt göttlicher Gnade in der Commedia. Nachdem Dante die dreifache himmlische Intervention vernommen hat, reagiert er — noch immer zögernd, aber mit wachsendem Mut.
Die Verse 127–129 beschreiben den Moment der inneren Aufrichtung, als sich Dante von der lähmenden Furcht befreit. Das Bild der vom Frost geknickten, dann durch das Licht des Morgens wieder aufgerichteten Blümchen symbolisiert:
Sein seelisches Erwachen durch göttliches Licht und Liebe (hier vermittelt durch Beatrices Barmherzigkeit),
den Übergang von Passivität zu aktiver Bereitschaft,
die Wirkung der Gnade, die nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch höhere Liebe zuteil wird.
PARALLELEN ZUR MYSTISCHEN LITERATUR
Das Bild von der durch göttliches Licht erweckten Seele findet zahlreiche Parallelen in mystischer Literatur — insbesondere in der christlichen und islamischen Tradition.
1. Meister Eckhart
Eckhart beschreibt in vielen Predigten den Seelenzustand des Menschen als »verfinstert« oder »erstorben« – aber auch als bereit zur Wiedergeburt durch das göttliche Licht. In seiner Predigt »Beati pauperes spiritu« etwa wird das Herz des Menschen zur Stätte der göttlichen Geburt, sobald es leer und offen ist — ähnlich wie die geknickte Blume, die sich dem Licht öffnet.
»So wahr Gott lebt: es ist nichts im Menschen, was mehr Gott aufnehmen kann, als eine ruhende Gelassenheit.«
(Eckhart: Predigt 52)
Hier wie bei Dante ist die Seele anfangs gebeugt, »gefroren«, aber bereit, durch göttliche Initiative wieder aufzurichten.
2. Johannes vom Kreuz
Im Cántico espiritual beschreibt Johannes die Seele als verwundet vom göttlichen Licht und dennoch wachgeküsst durch dessen Glanz:
»¡Oh lámparas de fuego, / en cuyos resplandores / las profundas cavernas del sentido, / que estaba oscuro y ciego, / con extraños primores / calor y luz dan junto a su Querido!«
Die lámparas de fuego entsprechen in ihrer Funktion dem sol che 'l 'mbianca – das göttliche Licht hebt die Seele aus dem Zustand der Dunkelheit (Angst, Zweifel) heraus in einen Zustand der Öffnung, Bewegung und Hinwendung zur Liebe.
3. Rūmī (islamischer Sufismus)
Auch Rūmī spricht oft von der menschlichen Seele als einer Rose oder Blume, die sich dem göttlichen Licht öffnet:
«Don't you know yet? / It is your Light that lights the worlds.”
(Rūmī, Divan-e Shams)
Die Blume wird hier ein universelles Bild für die Verwundbarkeit des menschlichen Herzens — und seine Empfänglichkeit für göttliche Wärme.