Inferno 02 / 121-123

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Dunque: che è? perché, perché restai?
perché tanta viltà nel core allette?
perché ardire e franchezza non hai,

wörtlich und nüchtern
Also – was ist das? Warum, warum blieb ich zurück?
Warum gefällt dem Herzen solche Feigheit?
Warum hast du keinen Mut, keine Offenheit?

poetisch-elegant
Was soll das also? Warum blieb ich zurück?
Warum lockt mein Herz so schlaffe Feigheit?
Wo sind mein Mut, mein freier Geist geblieben?

emphatisch-dramatisch
Was ist nur los? Warum nur zögre ich so?
Warum lässt mein Herz sich von Feigheit betören?
Wo ist mein Mut? Wo ist mein freier Wille?

Analyse

Diese Verse stehen am dramatischen Wendepunkt des zweiten Gesangs der Commedia – unmittelbar bevor Vergil beginnt, Dante von seiner Reise zu überzeugen, indem er von der Fürsprache Beatrices erzählt. Die Szene ist geprägt von innerem Konflikt, Selbstzweifel und der beginnenden Überwindung durch göttliche Inspiration.
Diese berühmte Stelle aus Inferno, Canto II (Verse 121–123), gehört zu einem der entscheidenden dramatischen Wendepunkte des zweiten Gesangs: Vergil stellt Dante zur Rede, als dieser erneut zögert, die Reise ins Jenseits anzutreten.
Diese drei Verse bündeln die existenzielle und theologische Spannung des gesamten Canto II. Dantes Zweifel ist nicht bloß ein Ausdruck psychologischer Unsicherheit, sondern symbolisiert einen archetypischen Moment der spirituellen Reise: den Moment des Übergangs von Selbstbezogenheit zur Transzendenz, vom natürlichen zur übernatürlichen Ordnung. Vergil fungiert in diesem Moment nicht nur als Führer, sondern als Stimme des Logos, der die Seele zum Aufbruch ruft – analog zu den Mahnrufen in den großen mystischen Traditionen. Die Frage ist letztlich nicht nur, ob Dante den Mut hat – sondern ob der Mensch überhaupt jemals »bereit« ist, das Heil zu empfangen. Die Antwort ist implizit: Er ist es – sofern er sich der Gnade nicht widersetzt.

Rhetorische Struktur

Die Passage ist aufgebaut aus drei rhetorischen Fragen, die durch Wiederholung und Parallelität ihre Wirkung entfalten:
»Dunque: che è?« (»Also – was ist das?«) – Ein Ausruf der Selbstbesinnung, fast wie ein Ruck.
»perché, perché restai?« – Wiederholung des »perché« als Ausdruck wachsender Dringlichkeit. Das Verbleiben (restai) steht im Kontrast zu der göttlichen Mission, die ihm aufgetragen wird.
»perché tanta viltà nel core allette?« – Die Metapher »allette« (von allettare: locken, verführen) verleiht der »viltà« (Feigheit) eine verführerische, fast dämonische Kraft.
»perché ardire e franchezza non hai?« – Der Schluss ist eine bittere Bilanz: Der Held erkennt, dass er den notwendigen »Ardire« (Mut, Wagemut) und die »Franchezza« (Freiheit, Offenheit, Seelengröße) nicht besitzt – oder zumindest verloren hat.

Psychologischer Kontext

Dante steht an einem Wendepunkt: Noch bevor die Reise durch das Inferno beginnt, wird der erste wahre Kampf ausgefochten – gegen die lähmende Angst. Die »viltà« (Feigheit) hier ist nicht bloß ein Mangel an Tapferkeit, sondern eine tiefgreifende spirituelle Schwäche, wie sie in der Scholastik als Gegenteil von fortitudo verstanden wurde. Dante ringt mit der eigenen Unwürdigkeit, mit dem Gefühl, er sei der Aufgabe nicht gewachsen – ein Moment, der ihn zutiefst menschlich macht.

Theologische Dimension

Der Begriff »viltà« steht im starken Kontrast zu »ardire« und »franchezza«. Diese beiden Begriffe tragen theologisch eine Gewichtung:
»Ardire« erinnert an die christliche Tugend der Hoffnung (spes) und des Vertrauens auf göttliche Führung.
»Franchezza« – wörtlich Freiheit, aber hier im Sinne einer inneren Seelengröße, einer Freiheit des Geistes, sich dem Göttlichen anzuvertrauen.
Der innere Vorwurf Dantes lautet: Wie kann ich so reagieren, wenn Beatrice selbst für mich eingetreten ist? Die drei Fragen bereiten die Bühne für Vergils Antwort, die das zentrale Motiv der göttlichen Gnade und der liebenden Fürsprache (Beatrice) entfalten wird.

Sprachliche Mittel

Anapher (»perché, perché«) steigert die emotionale Dringlichkeit.
Metapher der »Feigheit, die das Herz verlockt« – verleiht der Angst eine dämonische Kraft.
Klanglich verstärken die harten Konsonanten (»restai«, »viltà«, »franchezza«) den inneren Konflikt.
Tempuswahl: Das Präsens (»alette«, »hai«) suggeriert akute Selbstkritik, keine rückblickende Reflexion – Dante steht jetzt am Scheideweg.

Vergleich mit anderen Momenten in der Commedia

Ähnliche innere Kämpfe tauchen auch später auf:
In Paradiso, wo die Seele sich schwer tut, das Licht Gottes zu ertragen.
In Purgatorio, wo der Aufstieg zur Läuterung wiederholt mit Furcht und Demut beginnt.
Dieser Moment im Inferno aber bleibt einzigartig in seiner existenziellen Rohheit: Es ist der Zweifel an sich selbst als Berufener – eine Figur, die zum Symbol des Menschen auf seiner Pilgerfahrt wird.

Kontext im Canto II

Der zweite Canto des Inferno dient als ausführliche Vorbereitung auf die eigentliche Höllenreise. Dante, der sich auf dem Weg zur Selbsterkenntnis befindet, wird hier von tiefem Zweifel und existenzieller Angst überwältigt. Während der erste Canto das Bild des Verlorenseins in der »selva oscura« zeichnet, ist der zweite der Moment der inneren Krise. Dante fragt sich, ob er überhaupt würdig ist, diesen Weg zu gehen, und vergleicht sich mit Aeneas und dem Apostel Paulus – zwei Männer, die, wie er meint, wirklich von Gott auserwählt waren, um ins Jenseits zu blicken.
Die Verse 121–123 sind ein Wendepunkt. Vergil spricht Dante mit einer Mischung aus Dringlichkeit und Tadel an. Es ist ein Aufruf zur Überwindung seiner viltà, seiner »Feigheit« oder »Kleinmütigkeit«, und zur Wiederentdeckung von ardire (Mut) und franchezza (Freimütigkeit, Aufrichtigkeit). Diese Worte sind nicht zufällig gewählt: Sie rufen die klassischen Tugenden des vir fortis auf – also des tapferen Mannes –, wie sie auch im stoischen Denken präsent sind.
Zentral ist hier die rhetorische Dreifachfrage – ein Stilmittel, das an antike Redekunst erinnert und psychologisch Druck auf Dante aufbaut. Das wiederholte »perché« verweist auf eine dialektische Bewegung: Die rationale Begründung für die Angst wird gesucht, aber letztlich entlarvt – es gibt keine hinreichende Erklärung für solche viltà angesichts der göttlichen Hilfe, die Dante zuteil wird.

Vergleich mit theologischen und mystischen Traditionen

a) Augustinus und der innere Kampf
Die Angst, die Dante in diesem Canto empfindet, erinnert stark an die Confessiones des Augustinus. Auch dort wird die Seele von Zweifeln und innerer Zerrissenheit geplagt, obwohl sie sich bereits der göttlichen Wahrheit zuwendet. Die viltà entspricht dem pusillanimitas, dem Kleinmut, der bei Augustinus die Umkehr verzögert. Vergils Fragen wirken hier wie das innere Wort Gottes, das den Sünder aus seiner Apathie ruft.
b) Mystische Tradition – Johannes vom Kreuz
In der christlichen Mystik, insbesondere bei Johannes vom Kreuz, wird der Weg zu Gott als dunkle Nacht beschrieben. Zweifel und Furcht gehören essenziell zu diesem Prozess – aber sie müssen überwunden werden. Wie Dante steht auch der Mystiker an einem Punkt, wo die Seele von göttlichem Licht berührt ist, aber sich selbst noch ungenügend und sündhaft empfindet. Die Aufforderung, Mut und Freimütigkeit zu haben, spiegelt das Vertrauen, das in der Nacht des Geistes erlernt werden muss – Vertrauen auf eine Liebe, die nicht aus eigenem Verdienst, sondern aus Gnade kommt.
c) Meister Eckhart: Der Durchbruch
Eckhart würde Dantes viltà möglicherweise als ein Anhaften an das Ich interpretieren. Die Frage »warum bleibst du stehen?« wäre bei ihm Ausdruck dafür, dass die Seele noch nicht den radikalen Gelassenheit-Zustand erreicht hat – also nicht losgelassen hat vom eigenen Urteil, von der Angst, nicht würdig zu sein. Die Aufforderung zur franchezza klingt hier fast wie Eckharts Ideal der abegescheidenheit, der inneren Freiheit von allem Geschaffenen.
d) Sufismus: Der Zustand der Seele auf dem Pfad
Auch im Sufismus wird der spirituelle Pfad als Reise durch verschiedene Seelenzustände (maqāmāt) beschrieben. In einem frühen Stadium (z.B. khawf, Furcht) ist die Seele gehemmt – ähnlich wie Dantes viltà. Der Weg zur maḥabba (Liebe) oder yaqīn (Gewissheit) führt über das Vertrauen auf den göttlichen Ruf. Vergils Worte klingen hier wie die Stimme des spirituellen Meisters (murshid), der den Suchenden aus seinem Zustand der nafs ammāra (dem niederen Selbst) aufrüttelt.

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