E venni a te così com'ella volse:
d'inanzi a quella fiera ti levai
che del bel monte il corto andar ti tolse.
literarisch und nah am Original
Und so kam ich zu dir, wie sie es wollte:
Ich trat vor das wilde Tier und nahm dir
den Weg, der zum schönen Berg dich führen sollte.
freier, poetisch-klingend
Und ich kam zu dir, wie sie es befahl,
und stellte mich der Bestie in den Weg,
die dir den Aufstieg zu dem lichten Berg verwehrte.
klar, schlicht, modern
Ich kam zu dir, weil sie es so wollte,
und stellte mich vor das Tier,
das dir den kurzen Weg zum schönen Berg versperrte.
Kontext und Inhalt
Diese drei Verse stammen aus dem 2. Gesang der Commedia, kurz nachdem Vergil dem verzweifelten Dante im finsteren Wald begegnet ist. Dante hat gezögert, den Weg ins Jenseits zu gehen, und bittet Vergil um eine Erklärung, warum gerade er, ein toter Dichter aus der Antike, ihm Hilfe leistet. Vergil antwortet hier und erklärt, dass eine Frau (Beatrice) ihn gebeten habe, Dante zu Hilfe zu eilen. Diese Stelle ist also ein entscheidender Moment der Vermittlung und der Motivation.
Sie verbinden sich in Dante mit einem für das Mittelalter zentralen theologischen Narrativ: Der gefallene Mensch ist vom Weg abgekommen, wird durch göttliche Gnade angerührt, durch die Vernunft geführt und zur Läuterung gebracht. Erst danach ist der Weg zur visio Dei frei. Die Figuren Beatrice und Vergil wirken als personifizierte Instanzen eines tief verwurzelten mystisch-theologischen Systems, das in Dante eine einzigartige poetische Form erhält.
Vers 118: "E venni a te così com'ella volse:"
»Und so kam ich zu dir, wie sie es wollte.«
Dieser Vers hebt die Initiative Beatrices hervor. Vergil handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Liebe zu ihr und im Gehorsam gegenüber ihrer Bitte. Das Wort »volse« (»sie wollte«) betont den Willen Beatrices – eine Reminiszenz an die mittelalterliche Vorstellung von weiblicher Gnade und göttlicher Vermittlung. Die Szene ist ein Spiegelbild der caritas, der göttlich inspirierten Liebe, durch die Beatrice handelt.
Vers 119: "d'inanzi a quella fiera ti levai"
»Ich trat vor das wilde Tier und nahm dir den Weg ab.«
Vergil beschreibt, wie er sich zwischen Dante und das »Tier« stellte – in Canto 1 war es die Wölfin, Symbol für Maßlosigkeit oder Habgier. »Ti levai« bedeutet wörtlich »ich hob dich hinweg / befreite dich« oder auch »ich nahm dir (es) ab«, was hier interpretiert wird als »ich habe dir das Hindernis abgenommen« – symbolisch gemeint.
Vers 120: "che del bel monte il corto andar ti tolse."
»die dir den kurzen Weg zum schönen Berg nahm.«
Das »bel monte« ist der Hügel aus dem ersten Gesang, ein Symbol für das Heil oder die Glückseligkeit, auch gedeutet als Gott oder der Zustand der Gnade. »Il corto andar« verweist darauf, dass der Weg zum Heil ursprünglich kurz oder direkt sein könnte – aber durch das Tier blockiert wird. Das verweist auf die Lehre, dass der Mensch, wäre er nicht durch die Sünde (Wölfin, metaphorisch), abgehalten, auf direktem Wege zur Glückseligkeit gelangen könnte.
Thematische Schwerpunkte
Vermittlung der Gnade: Beatrice als göttlich inspirierte Mittlerin schickt Vergil.
Freiheit und Willen: Der freie Wille des Menschen wird durch die »fiera« behindert – durch Laster oder Sünde.
Liebe als Antrieb: Beatrices Liebe zu Dante ist die treibende Kraft hinter dem gesamten Unterfangen.
Vergil als Werkzeug: Der heidnische Verstand (Vernunft) dient der göttlichen Ordnung – Vergil ist Werkzeug, nicht Ursprung der Rettung.
Stilistische Merkmale
Der Text nutzt einfache, aber präzise Worte, um komplexe theologische und anthropologische Aussagen zu machen.
Die Terzine (Dreizeiler) sind rhythmisch streng gebaut (Endreim: a-b-a), doch inhaltlich reich an Bedeutungsschichten.
Der Übergang von göttlichem Willen (Beatrice) über vernünftige Handlung (Vergil) zur Erlösung (Dantes Reise) ist klar hierarchisch strukturiert.
Vergleich zu mittelalterlich-theologischen und mystischen Traditionen
Diese Passage lässt sich auf verschiedenen Ebenen mit zentralen Ideen der mittelalterlichen Theologie und Mystik in Verbindung bringen.
1. Die Fiera als Blockade auf dem Weg zu Gott
In der christlichen Mystik wird der Weg zur Gotteserkenntnis oft als Aufstieg beschrieben, der durch innere und äußere Hindernisse erschwert wird. Die "fiera" symbolisiert diese Hindernisse – v.a. die ungeordnete Leidenschaft, die Sünde, das peccatum originale oder die drei Grundlaster (luxuria, superbia, avaritia).
Vergleich: In der Theologia mystica eines Dionysius Areopagita (6./7. Jh.) wird der Aufstieg der Seele zu Gott als ein stufenweises Entledigen der Sinnenwelt beschrieben – alles, was diese Läuterung behindert, muss "aus dem Weg geräumt" werden. Die »fiera« steht somit in Analogie zu den niederen Trieben, die im via purgativa bekämpft werden müssen.
2. Beatrice als göttliche Gnade oder Weisheit
Beatrice agiert hier als himmlische Instanz, die Mitleid mit Dante hat und Hilfe vermittelt. In der mittelalterlichen Theologie entspricht dies der göttlichen Gnade (gratia), die dem Sünder unverdient zukommt und ihn zur Umkehr bewegt.
Vergleich: Bei Bernhard von Clairvaux (Sermones super Cantica Canticorum) oder auch Meister Eckhart tritt die Gnade als dynamische Kraft auf, die den Menschen von innen her bewegt – nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch die Initiative Gottes. Beatrices Wille (»com'ella volse«) wird also zum Ausdruck göttlicher Initiative.
3. Vergil als ratio / philosophia sub gratia
Vergil, der von Beatrice geschickt wird, steht allegorisch für die menschliche Vernunft oder die Philosophie im Dienste der Gnade. Seine Rolle ist nicht, Dante direkt zu erlösen, sondern ihn zur Buße und Erkenntnis zu führen – also vorbereitend auf die eigentliche illuminatio durch Beatrice und später durch die visio Dei.
Vergleich: Thomas von Aquin und andere Scholastiker betonen die Rolle der ratio als vorbereitendes Werkzeug auf die göttliche Wahrheit, aber nur die fides kann die letzte Erkenntnis schenken. In der Mystik, etwa bei Bonaventura (Itinerarium mentis in Deum), führt die Vernunft bis an die Schwelle des Göttlichen, muss aber dort verstummen.