Inferno 02 / 115-117

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Poscia che m'ebbe ragionato questo,
li occhi lucenti lagrimando volse;
per che mi fece del venir più presto.

wörtlich, nahe am Original
Nachdem sie mir dies gesagt hatte,
wandte sie ihre leuchtenden Augen, weinend,
und dadurch beschleunigte sie meinen Aufbruch.

literarisch-elegisch
Als sie dies gesprochen,
wandte sie tränenvoll die glänzenden Augen –
und ließ mich eiliger aufbrechen.

emotional-bildhaft
Nachdem sie so zu mir gesprochen hatte,
senkte sie ihre strahlenden Augen, Tränen darin,
und mein Herz drängte mich, schneller zu ihr zu eilen.

Analyse

Diese Verse schließen Beatrices Rede an Vergil ab und beschreiben eine entscheidende innere Bewegung, die den Dichter zur Handlung motiviert. Sie sind ein Schlüssel zum Verständnis des motus cordis, der seelischen Bewegung, die der ganzen Commedia innewohnt.
Die Stelle beschreibt, wie Beatrice – nachdem sie Virgil ihre Mission erklärt hat – weinend ihre leuchtenden Augen abwendet. Diese Geste bewegt Virgil so sehr, dass er sich beeilt, Dante zu helfen. Zwei relevante Traditionslinien lassen sich in diesem Kontext ansprechen: Augustinus' Confessiones und marianische Rhetorik.

115. »Poscia che m'ebbe ragionato questo,«

Dante beginnt mit einer ruhigen, beinahe nüchternen Einleitung: »Nachdem sie mir dies gesagt hatte«.
»Ragionato« (aus ragionare) verweist nicht bloß auf Reden, sondern auf ein vernunftgeleitetes Argumentieren – Beatrice hat ihre Worte mit Bedacht gewählt.
Das Verb zeigt ihre Autorität, ihre Überzeugungskraft, aber auch ihre Anteilnahme: Sie »spricht zur Vernunft«, nicht mit Zwang.

116. »li occhi lucenti lagrimando volse;«

Ein Vers von großer emotionaler Kraft.
»li occhi lucenti«: Ihre Augen sind »leuchtend« – Symbol für göttliche Klarheit, Reinheit, fast übermenschliche Erkenntnis. Doch gerade diese leuchtenden Augen weinen – eine scheinbar widersprüchliche Verbindung von Licht (Intellekt) und Träne (Gefühl).
»lagrimando« (weinen): Die Tränen zeigen Mitleid und persönliche Anteilnahme, ein zutiefst menschlicher Zug. Beatrice wird nicht als abstrakte Idee, sondern als fühlende Mittlerin gezeigt.
»volse«: Das Wenden der Augen kann man als abgewandten Blick deuten (vielleicht himmelwärts oder weg vom Sprecher). In der mittelalterlichen Rhetorik ist das Wegwenden ein Ausdruck tiefer innerer Bewegung.

117. »per che mi fece del venir più presto.«

Dante beschreibt die Wirkung ihres Auftritts auf Vergil.
Die Tränen beschleunigen seine Entscheidung: »mi fece del venir più presto«.
Die Bewegung wird nicht durch ein logisches Argument ausgelöst, sondern durch das Mitleid mit ihrem Mitleid.
Die Kombination aus Intellekt (Rede) und Emotion (Tränen) erzeugt eine unmittelbare Motivation zur Handlung. Das ist typisch für das danteske Menschenbild: Vernunft und Gefühl sind nicht Gegensätze, sondern arbeiten zusammen.

Übergeordnete Bedeutung

Diese drei Verse bilden eine Art Miniaturmodell des gesamten Werks:
Sie zeigen, wie göttliche Gnade (verkörpert in Beatrice) durch Mitgefühl (Tränen) wirkt.
Sie erklären, warum Vergil (Vernunft) dem Menschen (Dante) zu Hilfe kommt: nicht aus Pflicht, sondern aus Rührung.
Das Ziel der ganzen Commedia ist »den Menschen zu retten« – dieser Rettungsimpuls beginnt genau hier, mit einer Träne.

Bezug zu Augustinus' Confessiones

In den Confessiones ist das Thema der inneren Bewegung durch Tränen und Mitleid zentral. Insbesondere die Mutter Monnica wird oft mit Tränen dargestellt, deren Frömmigkeit und Gebete eine Gnadenkette auslösen. Vgl.:
Confessiones III,11: Augustinus beschreibt Monnicas »Tränen für seinen geistlichen Tod« – ein Motiv, das stark an Beatrices »gli occhi lucenti lagrimando« erinnert.
Augustinus sieht in Tränen ein Zeichen göttlich inspirierter Mitleidenschaft, die selbst eine Form der Fürbitte darstellt. So auch hier: Beatrices Tränen aktivieren Virgils Hilfsbereitschaft.
Beatrice wird dadurch zu einer geistigen Fürsprecherin in der augustinischen Tradition – ähnlich wie Monnica als Mittlerin der Bekehrung fungiert.

Bezug zur marianischen Rhetorik

Beatrices Haltung ist auch stark von der Marienverehrung geprägt, wie sie sich im Hochmittelalter (z. B. bei Bernhard von Clairvaux) und besonders in der laudatio mariae entwickelt hat:
Die leuchtenden Augen (occhi lucenti) erinnern an die Lichtmetaphorik Mariens, häufig als »speculum sine macula« (makelloser Spiegel) oder »stella maris« (Meeresstern) bezeichnet.
Das Weinen Mariens ist ein Topos der marianischen Passionsfrömmigkeit: Sie weint aus Mitleid mit den Menschen – nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Sünde der Welt. So auch Beatrice: Ihre Tränen gelten nicht ihr selbst, sondern Dante.
Die Wirkung dieser Tränen hat soteriologische Qualität: Sie motivieren eine göttlich geleitete Rettungskette.
Der Satz »per che mi fece del venir più presto« verweist auf diese Wirkung der Gnadenmittlerschaft: Beatrices Weinen wird zur Triebkraft der göttlichen Barmherzigkeit – eine typische Zuschreibung Mariens in Predigt und Liturgie des 13. Jahrhunderts.

Fazit

Diese drei Verse verdichten in nuce zwei Traditionen:
In augustinischer Perspektive: Die Tränen als Zeichen des interioris affectus und der heilsgeschichtlichen Fürbitte.
In marianischer Rhetorik: Beatrice erscheint als Maria-ähnliche Gnadenmittlerin, deren barmherziges Mitleid den Weg zur Rettung Dantes ebnet.

Vergleich mit Bernhards Marienpredigten und marianischen Sequenzen

1. Emotionalität und Tränenmotiv
Die Tränen Beatrices stehen im Kontext mittelalterlicher Vorstellungen von Mitleid, Barmherzigkeit und Fürsprache. In den Marienpredigten des Bernhard von Clairvaux spielt das Mit-Leiden Mariens (compassio) eine zentrale Rolle. Besonders hervorgehoben wird die Träne als Ausdruck mitleidender Liebe, durch die Maria zur Mittlerin der Gnade wird.
Beispiel bei Bernhard (Sermo in Nativitate B.M.V.):
> »Per lacrimas eius veniam impetrabis«
> (»Durch ihre Tränen wirst du Verzeihung erlangen.«)
Dantes Darstellung der weinenden Beatrice greift genau diese Vorstellungswelt auf: Beatrices Tränen sind nicht Ausdruck von Schwäche, sondern von aktiver Fürsprache, die Vergil zur Rettung Dantes bewegt.
2. Lichtsymbolik
»li occhi lucenti« – die »leuchtenden Augen« Beatrices – erinnern an die marianische Lichtsymbolik. In den marianischen Sequenzen, etwa der bekannten »Ave maris stella«, wird Maria als Stern, Lichtquelle, Spiegel der Sonne gepriesen. Diese Symbolik schlägt sich auch in Dantes Sprache nieder: Das Licht Beatrices steht für Erkenntnis, Reinheit und göttliche Nähe.
3. Maria als Prototyp der Beatrice
Beatrice ist in der Commedia mehrfach als marianische Figur konzipiert. In Inferno 2 fungiert sie ähnlich wie Maria in der Vision Bernhards:
Sie vermittelt Gnade (durch Tränen),
sie sendet den Führer, wie Maria in Bernhards Sermo oft als Initiatorin des Heils dargestellt wird,
und sie bewegt sich mit einer Mischung aus Demut und Autorität, wie die Jungfrau Maria in den marianischen Texten.

Zusammenfassung

Dantes Darstellung Beatrices in Inferno II, 115–117, ist eindeutig von marianischer Bildsprache geprägt, die sich sowohl in Bernhards Predigten als auch in den Sequenzen der Liturgie findet:
Tränen als Instrument der Fürsprache,
Licht als Ausdruck der göttlichen Nähe,
und das Zusammenspiel von weiblicher Emotionalität und heilsgeschichtlicher Autorität.

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