Al mondo non fur mai persone ratte
a far lor pro o a fuggir lor danno,
com'io, dopo cotai parole fatte,
literarisch-elegant
Nie eilten Menschen in dieser Welt so schnell,
um sich Gewinn zu sichern oder Unheil zu fliehn,
wie ich, nach diesen Worten voller Kraft.
poetisch-frei
Noch nie sah diese Welt solch raschen Lauf,
sei's um Gewinn, sei's um dem Leid zu weichen,
wie ich, bewegt von diesen Worten tief.
wörtlich-nüchtern
In dieser Welt waren nie Menschen schneller,
um sich Nutzen zu holen oder Schaden zu meiden,
als ich, nachdem solche Worte gesprochen waren.
Analyse
Diese Verse erscheinen gegen Ende des zweiten Gesangs (Inferno, Canto II), als Dante schließlich den Mut fasst, seine Reise ins Jenseits anzutreten – nachdem Vergil ihm erklärt hat, dass drei Frauen aus dem Himmel (Maria, Lucia und Beatrice) für seine Rettung eingetreten sind.
Die Stelle markiert den Wendepunkt, an dem Dante seine Furcht überwindet und sich bereit erklärt, dem Weg Vergils zu folgen. Der Grund für diesen plötzlichen Umschwung liegt in der motivierenden Rede Vergils, die wiederum auf eine höhere, weibliche Heilshierarchie verweist: Beatrice, Lucia und Maria. Der Fokus auf diese drei Frauen offenbart ein theologisch und psychologisch tiefes Zusammenspiel zwischen Gnade, Furcht und freiem Willen.
In Canto 2 entfaltet sich eine spirituelle Dramaturgie, in der drei Frauen als Verkörperungen göttlicher Gnade wirken. Ihre Initiative beantwortet Dantes Furcht mit einer Einladung zur Freiheit. Der Moment seiner Entscheidung ist nicht nur erzählerischer Fortschritt, sondern ein existenzieller Akt: Die Gnade ruft – aber nur wer hört und antwortet, kann gerettet werden.
Kontext innerhalb des Gesangs
Canto II ist geprägt von Dantes Zweifel und Zögern: Er fürchtet, nicht würdig genug zu sein, dem Weg zu folgen, den einst Aeneas und Paulus gingen. Vergil versucht, ihn durch eine Art psychologische Strategie zu ermutigen: Er berichtet, dass die göttliche Barmherzigkeit – verkörpert in den Frauen – Dante ihre Hilfe gesendet hat. Diese Rede wirkt: Nach Vergils Worten verschwindet Dantes Angst, und diese drei Verse markieren den Moment, in dem er sich innerlich zur Reise entschließt.
Sprache und Stilmittel
"Al mondo non fur mai persone ratte" – Dies ist eine absolute Steigerung, ein superlativischer Vergleich (»niemals auf der Welt waren Menschen so schnell«). Dante benutzt diese Formulierung, um die Tiefe seiner plötzlichen Entschlossenheit zu verdeutlichen.
"a far lor pro o a fuggir lor danno" – Die Gegenüberstellung von Nutzen suchen (»far lor pro«) und Schaden meiden (»fuggir lor danno«) steht stellvertretend für die zwei Grundtriebe menschlichen Handelns (Nutzen und Vermeidung von Leid). Dante stellt sich über diese Triebmotivation: seine Bewegung ist von etwas Höherem motiviert – der göttlichen Gnade.
"com'io, dopo cotai parole fatte" – Der Vers verweist zurück auf die Rede Vergils und hebt hervor, dass es die Worte sind, die Dantes Entschluss auslösen. Sprache wirkt hier als transformative Kraft.
Thematische Bedeutung
Entscheidender Wendepunkt: Dieser Moment markiert die Überwindung der lähmenden Angst. Es ist der psychologische Umschlagspunkt vom Zweifel zur Entschlossenheit.
Wirksamkeit göttlicher Intervention: Die Verse zeigen, dass göttlich vermittelte Hilfe (über Sprache!) eine konkrete Veränderung im Menschen bewirken kann.
Bewegung als Erlösungssymbol: Die Bewegung Dantes (»ich eilte«) ist nicht bloß physisch – sie ist Ausdruck eines geistigen Aufbruchs. Die Schnelligkeit steht symbolisch für die völlige Bereitschaft, sich dem Weg der Läuterung zu öffnen.
Verbindung zu anderen Stellen in der Commedia
Diese Stelle korrespondiert mit anderen Übergangsmomenten in der Divina Commedia, etwa Beatrices Erscheinen in Purgatorio XXX, wo das Göttliche ebenfalls durch Schönheit und Sprache vermittelt wird und zur Umkehr führt.
Auch die strukturelle Rolle der Rede eines Vermittlers (hier: Vergil) findet sich in der Vita nuova wieder: Die Macht der Sprache, seelische Bewegung hervorzurufen, ist ein zentrales Thema im gesamten Werk Dantes.
Die Rolle der drei Frauen
1. Maria (die Jungfrau)
Sie ist der erste Impuls der Gnade. Sie erkennt Dantes gefährliche Lage (»dannato«) und leitet die Rettungskette ein. Ihre Funktion ist mütterlich, mitleidig und allumfassend. Sie steht als mediatrix zwischen Gott und den Menschen, archetypisch für göttliche Barmherzigkeit.
2. Lucia (vermutlich Lucia von Syrakus)
Lucia erscheint als nächste Vermittlerin. Sie ist ein Symbol des illuminatio, des göttlichen Lichtes. In mittelalterlicher Mystik wird sie oft als diejenige verstanden, die das geistige Auge klärt. Sie folgt dem Impuls Mariens und geht zu Beatrice, was zeigt, wie die Gnade abgestuft und zielgerichtet handelt.
3. Beatrice
Sie ist das letzte Glied in dieser Gnadenkette, aber diejenige, die aktiv wird. Sie steigt aus dem Paradies herab und spricht direkt zu Vergil. Ihre Rede betont das göttliche Mitleid, das Wissen um Dantes Zustand, aber auch eine Art souveräne Klarheit. Beatrice ist Gnade in personalisierter, intellektuell-leidenschaftlicher Form.
Furcht, Gnade und freier Wille
Dante zögert zunächst, dem Weg durch die Unterwelt zu folgen, obwohl Vergil ihm diesen anbietet. Dieses Zögern entspringt der Furcht – nicht nur vor den Höllenqualen, sondern vor dem möglichen eigenen Scheitern.
Die Gnade erscheint nicht als abstraktes Prinzip, sondern als wirksame, personale Kraft, die in Gestalt dreier Frauen auf ihn wirkt. Sie überwindet nicht einfach die Furcht, sondern stellt eine existenzielle Alternative: Liebe statt Verlorenheit, Nähe statt Verlassenheit.
Doch zentral ist: Dante entscheidet sich selbst, seinem Führer zu folgen. Vergil übermittelt die Worte Beatrices, aber handeln muss Dante. Die Kette von Maria über Lucia zu Beatrice wirkt unterstützend, nicht zwingend. Das bedeutet: Gnade motiviert und ermöglicht, aber ersetzt den freien Willen nicht.
Dantes rasche Entscheidung in Vers 109–111 ist der Ausdruck einer innerlich gereiften Freiheit, die von Furcht zur Hoffnung übergeht – vermittelt durch das weibliche Prinzip der erbarmenden Weisheit.