Inferno 02 / 106-108

dante inferno 02

Non odi tu la pieta del suo pianto?
Non vedi tu la morte che 'l combatte
su la fiumana ove 'l mar non ha vanto? –

literarisch-elegant
Hörst du nicht das Mitleid in seinem Weinen?
Siehst du nicht den Tod, der mit ihm ringt,
auf jenem Strom, wo selbst das Meer sich nicht rühmen darf?

bildreich und dramatisch
Hörst du denn nicht, wie sein Weinen um Erbarmen ruft?
Siehst du denn nicht den Tod, der ihn bedrängt,
auf jenem Fluss, wo das stolze Meer verstummt?

direkt und schlicht
Hörst du nicht sein weinendes Flehen?
Siehst du nicht, wie der Tod ihn bedrängt,
auf jenem Strom, wo das Meer keine Macht mehr hat?

Kontext in Canto II

Diese Verse stehen am dramatischen Höhepunkt von Dantes innerem Widerstreit vor dem Abstieg in die Hölle. Vergil erzählt, wie Beatrice selbst ihn gesandt hat, um Dante zu retten. Sie spricht mit Leidenschaft und Autorität – ein Akt göttlicher Gnade und Liebe.

Vers 106: »Non odi tu la pietà del suo pianto?«

Wörtlich: Hörst du nicht das Mitleid seines Weinens?
Rhetorik: Eine Frage, die kein echtes »Nein« erlaubt – Beatrices Appell wirkt wie eine moralische Erschütterung.
»Pietà«: Nicht bloß »Mitleid«, sondern auch der Ausdruck einer tiefen, ethischen Bewegung – in Dantes Denken auch göttlich kodiert.
Funktion: Beatrice stellt Dantes Zögern bloß – er soll fühlen, nicht nur denken.

Vers 107: »Non vedi tu la morte che 'l combatte«

»la morte che 'l combatte«: Tod als aktiver Gegner – eine Verkörperung des Seelenzustands.
»vedi«: Wie bei »odi« ein rhetorischer Imperativ. Der Appell an Dantes Imagination.
»che 'l combatte«: Präsens, aktiv, fast wie ein Duell. Die Rettung ist dringlich.
Die Darstellung der »Morte« ist hier nicht physisch, sondern spirituell – als Verderben oder ewige Verdammung. Das zeigt die mittelalterliche Vorstellung vom Tod als ewigem Zustand.

Vers 108: »su la fiumana ove 'l mar non ha vanto«

»la fiumana«: Wörtlich ein großer Strom, oft verstanden als der Acheron, der Fluss ins Totenreich.
»ove 'l mar non ha vanto«: Metapher für einen Ort, an dem selbst das Meer – Symbol für Unergründlichkeit und Macht – keine Herrschaft mehr hat.
Möglicher Sinn: Dies ist ein Ort jenseits aller natürlichen Gesetze – ein Grenzbereich zwischen Leben und Tod, Menschlichem und Göttlichem.
Bildwirkung: Der Strom ist schrecklicher als das Meer – das betont die Radikalität des Infernos.
Poetische Strategie: Superlativische Negation: Wenn selbst das Meer dort keinen »Ruhm« hat, ist die Gefahr absolut.

Thematische Bedeutung

Theologisch: Beatrice spricht hier als Mittlerin der Gnade. Ihre Stimme ist nicht bloß persönlich, sondern auch symbolisch für die göttliche Barmherzigkeit.
Psychologisch: Die Verse beleuchten Dantes Krise: seine Angst, sein Zweifel – aber auch seine innere Berufung zur Rettung.
Poetologisch: Der Strom, das Meer, der Tod – all das sind Archetypen, die Dante zu einem universalen Drama verdichtet. Der Leser wird mit hineingezogen.
Beatrice appelliert an Vergils Mitleid (»pietà«) und verweist darauf, dass Dante innerlich bereits vom Tod bedroht ist (»la morte che 'l combatte«). Die »fiumana« ist sinnbildlich der Strom des Lebens oder der Geschichte, in dem der Ozean (das Meer) nicht triumphiert – ein poetisches Bild für eine existenzielle Strömung, der sich selbst die größten Kräfte beugen müssen.

Kontrast zu Meister Eckhart: Die Abwesenheit des Erbarmens in der Gottheit

Während Beatrice das Mitleid als göttlich motivierte Handlung darstellt, lehnt Meister Eckhart (†1328) in seinen Predigten jede gefühlsmäßige Vorstellung von Gottes Erbarmen ab. Für Eckhart ist die Gottheit »ein Abgrund«, jenseits aller Attribute – auch der »pietas«. Mitleid sei eine menschliche Regung, nicht jedoch eine Eigenschaft Gottes im höchsten Sinn:
»Gott wirkt, aber das Mitleid wirkt er nicht.«
Dante hingegen verankert Mitleid als theologisches Prinzip: Die göttliche Ordnung selbst aktiviert eine Bewegung der Rettung aus Mitleid – durch Beatrice, Lucia, Maria. In Inferno II ist das Erbarmen also nicht Schwäche, sondern transzendente Initiative.

Kontrast zum Sufismus (z.B. Rūmī): Liebe statt Mitleid

Im islamischen Sufismus, etwa bei Dschalāl ad-Dīn Rūmī (†1273), steht nicht das Mitleid, sondern die Liebesanziehung Gottes im Zentrum. Der Mensch wird nicht von einer göttlichen Sorge »errettet«, sondern von der Anziehung der göttlichen Schönheit transformiert:
»Was dich sucht, ist stärker als das, was du suchst.«
Beatrices Worte sind von einer traurigen, aber aktiven Sorge geprägt, während Rūmīs Gott eher eine schweigende Magie der Liebe ist. Bei Dante wird Dante gerettet, weil jemand um ihn weint; bei Rūmī würde er gerettet, weil das Göttliche in ihm einen Widerhall findet.

Kontrast zur Theologia mystica des Johannes vom Kreuz: die Nacht, nicht der Kampf

Johannes vom Kreuz beschreibt in seiner Noche oscura del alma den Zustand der Seele, die sich in einer dunklen Nacht auf Gott hin ausrichtet – nicht kämpfend, sondern »entleert«, leidend und leer. Dantes Bild vom »Kampf mit dem Tod« in Vers 107 dagegen suggeriert einen aktiven Widerstand, ein Drama. Johannes hingegen sieht die Dunkelheit als Vorbereitung, nicht als Bedrohung:
»Je dunkler die Nacht, desto näher ist das Licht.«
Dantes Szene ist von psychischer Bedrängnis, metaphysischem Notstand und fremdvermittelter Hilfe geprägt. Bei Johannes vom Kreuz ist die Seele allein mit Gott – ohne Fürsprecherin, ohne dramatische Rettungsszene.

Fazit

Dantes Inferno II, Vv. 106–108, inszeniert eine theologisch motivierte Dringlichkeit, in der Mitleid, Tod und transzendente Hilfe ineinandergreifen. Im Kontrast dazu:
lehnt Eckhart eine anthropomorphe Mitleidsvorstellung ab,
betont der Sufismus die Anziehung durch Liebe, nicht die Notwendigkeit eines fremden Eingreifens,
beschreibt Johannes vom Kreuz die dunkle Nacht als inneren Reifungsprozess, nicht als äußerlich bekämpften Tod.
Dante steht somit theologisch näher bei einer inkarnatorischen, christlich-verkörperlichten Mystik, bei der Gnade konkret, vermittelnd und affektiv wirkt.

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