Inferno 02 / 103-105

dante inferno 02

Disse: – Beatrice, loda di Dio vera,
ché non soccorri quei che t'amò tanto,
ch'uscì per te de la volgare schiera?

literarisch-feierlich
Er sprach: »Beatrice, wahrer Preis des Herrn,
warum hilfst du nicht dem, der dich so sehr liebte,
dass er um deinetwillen aus dem gemeinen Haufen trat?«

poetisch-gehoben
Er sagte: »Beatrice, wahres Lob des Ewigen,
warum eilst du nicht dem zu Hilfe, der dich so innig liebte,
dass er um deinetwillen das gewöhnliche Leben verließ?«

modern und zugänglich
Da sprach er: »Beatrice, wahres Lob Gottes,
warum hilfst du nicht dem, der dich so liebte,
dass er sich deinetwegen vom gewöhnlichen Volk abhob?«

Kontext

Diese Verse stammen aus dem zweiten Gesang der Commedia, in dem Dante schildert, wie er durch göttliche Hilfe auf seiner Reise durch die jenseitigen Reiche geführt wird. Vergil, der als sein Führer fungiert, erzählt Dante, dass eine Frau aus dem Himmel – Beatrice – ihn geschickt habe, um Dante zu retten. Die Verse stehen in direktem Bezug zu dieser Szene, in der Vergil beschreibt, wie Beatrice von einer weiteren himmlischen Instanz (vermutlich Lucia oder Maria) angesprochen wird.
Die Stimme in den Versen 103–105 gehört zu Lucia. Sie erfüllt eine entscheidende dramatische Funktion in der Kette der himmlischen Fürsprache. Ihre Rede markiert den Moment, in dem das Himmelreich aktiv in die Welt eingreift, um Dante zu retten. In ihrer kurzen, drängenden Rede verdichtet sich das zentrale Thema des Inferno und der Commedia insgesamt: Die unaufhörliche, gnadenvolle Bewegung der Liebe, die den Menschen zu Gott zurückführen will.

Vers 103: »Disse: – Beatrice, loda di Dio vera,«

Wörtlich: »Er sagte: Beatrice, wahres Lob Gottes,«
Analyse:
Die Anrede »loda di Dio vera« betont Beatrices transzendente Rolle – sie ist nicht nur eine Heilige, sondern eine lebendige Verkörperung des göttlichen Lobes.
In der mittelalterlichen Theologie ist »Lob Gottes« nicht nur sprachlicher Ausdruck, sondern eine Wesensäußerung – sie ist das wahre Lob.
Die Verwendung des Prädikats »vera« (wahr) hebt sie aus allen möglichen irdischen Lobpreisungen hervor – sie ist kein bloßes Bild, sondern die Wahrheit des himmlischen Ideals.

Vers 104: »ché non soccorri quei che t'amò tanto,«

Wörtlich: »warum hilfst du nicht dem, der dich so sehr liebte,«
Analyse:
Die Frage wird als liebevoller Tadel formuliert: Warum greift Beatrice nicht ein?
»soccorri« (helfen, zu Hilfe eilen) ist aktiv, nicht bloß passiv-bittend: Die Hilfe wird erwartet, nicht erbeten.
Die Betonung liegt auf der Liebe, die Dante zu Beatrice hatte – eine Liebe, die weit über das bloß Menschliche hinausgeht.
Hier wird ihre Verantwortung als himmlische Vermittlerin deutlich – das Band zwischen ihr und Dante hat Heilsbedeutung.

Vers 105: »ch'uscì per te de la volgare schiera?«

Wörtlich: »der deinetwegen aus der gewöhnlichen Schar heraustrat?«
Analyse:
»uscì« – er trat heraus, er löste sich los – das hat sowohl eine räumliche wie auch soziale, ja spirituelle Bedeutung.
»la volgare schiera« meint das gewöhnliche Volk, die Masse, die in der mittelalterlichen Vorstellungswelt oft als dumpf, unwissend und spirituell schlafend gilt.
Dante wird also als einer dargestellt, der sich aufgrund seiner Liebe zu Beatrice über das Alltägliche erhebt – literarisch, philosophisch, seelisch.
In der Vita Nuova und in der Commedia insgesamt steht Beatrice für die intellektualisierte Liebe, die den Menschen zur Erkenntnis Gottes führt.

Theologische und poetologische Bedeutung

Diese Verse sind stark durch die mittelalterliche Allegorietradition geprägt. Beatrice steht nicht nur für eine konkrete Frau, sondern für die göttlich inspirierte Erkenntnis, die den Menschen zu Gott führt.
Die »volgare schiera« verweist auf das Thema der Auserwählung und persönlichen Berufung – ein zentraler Topos in der Mystik und auch in Dantes Selbstdarstellung.
Es handelt sich auch um eine poetologische Selbstbehauptung: Dante hebt sich als Dichter aus der Masse hervor, weil er einer himmlischen Inspiration folgt.

Verbindung zur Gesamtstruktur der Commedia

Diese Szene legt den Grundstein für die gesamte Erlösungshandlung der Divina Commedia.
Beatrice als Mittlerin steht in einer Reihe mit der Gottesmutter Maria und Lucia, was ein marianisch-mystisches Bild der weiblichen Fürsprache ergibt.
Die Verse spiegeln das mittelalterliche Modell einer gestuften Gnadenvermittlung: Gott → Maria → Heilige → Menschen → Dichter → Leser.
In den Versen 103–105 von Dantes Inferno, Canto 2, spricht Lucia. Dies lässt sich aus dem Kontext des Canto erkennen: Vergil erzählt Dante, wie es dazu kam, dass er (Vergil) entsandt wurde, um Dante auf seiner Reise durch das Jenseits zu führen. In dieser Rückblende schildert Vergil ein Gespräch, in dem Lucia zu Beatrice spricht und sie zur Hilfe für Dante auffordert.

Identität der Stimme

Die sprechende Figur in diesen Versen ist Lucia, die hier mit den Worten zu Beatrice spricht.
Lucia ist eine Heilige, in der Regel identifiziert mit der heiligen Lucia von Syrakus, einer frühchristlichen Märtyrerin. Im Kontext der Divina Commedia erscheint sie als Symbol der erleuchtenden Gnade und des geistigen Sehens, was durch ihren traditionellen Status als Patronin des Augenlichts unterstrichen wird.
Die Anrede »Beatrice, loda di Dio vera« (wahrer Lobpreis Gottes) betont Beatrices überirdische Rolle und die göttliche Autorität ihres Handelns. Lucias Aufforderung ist eindringlich: Warum hilft Beatrice nicht dem, der sie so sehr liebte und sich ihretwegen aus der »volgare schiera« (gewöhnlichen Menge) erhob?

Rolle im Gesamtdrama

Lucia nimmt in diesem Moment eine vermittelnde und drängende Rolle ein. Sie wirkt wie eine Mittlerin zwischen der göttlichen Sphäre und Beatrice, die wiederum Vergil beauftragt. Damit ist sie ein Teil der Rettungskette, die Dante geistlich aus seiner Lebenskrise herausführen soll.
Die Hierarchie der Vermittlung ist dabei bedeutsam:
1. Maria (in Vers 94–96 indirekt genannt) als oberste Fürsprecherin, bewegt
2. Lucia, die zu
3. Beatrice spricht, die wiederum
4. Vergil sendet, um
5. Dante zu retten.
Lucias Stimme stellt damit ein wesentliches Bindeglied im göttlichen Rettungsplan dar. Sie repräsentiert dabei eine aktive Gnade, die nicht abwartet, sondern Beatrice zum Handeln aufruft. Ihre Rolle unterstreicht den Gedanken, dass das Heil nicht nur durch göttlichen Ratschluss, sondern auch durch Vermittlung von Liebe und Fürsprache geschieht.
Lucias Anrede gibt Beatrices Intervention die moralische Dringlichkeit: Sie erinnert Beatrice an Dantes Liebe und Hingabe — er, der sich ihretwegen über das Alltägliche erhob. Damit wird Dantes poetisch-erotische Liebe zu Beatrice in einen soteriologischen Kontext überführt: Seine Liebe war nicht nur weltlich, sondern der erste Schritt zu seiner Rettung.

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